12.04.2002

Stark sein an zwei Fronten

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Stark sein an zwei Fronten

DIE blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens 1989 markiert eine Wende in der chinesischen Geschichte. Der Aufstand, der – anders als immer wieder behauptet – weit mehr war als der Protest von Studenten und liberal gesinnten Intellektuellen, hat breite Bevölkerungsschichten mobilisiert, die ihre politischen und sozialen Forderungen geltend machten. Seither geht Chinas „Übergang“ zur Marktwirtschaft mit Riesenschritten voran. Das rasante Wirtschaftswachstum, das seit Jahren alle anderen Volkswirtschaften weit in den Schatten stellt, führt zu enormer sozialer Ungleichheit. Doch das autoritäre Regime garantiert die Ruhe im Lande.

Von WANG HUI *

Schon seit Ende der Siebzigerjahre und verstärkt seit 1989 fährt die chinesische Regierung einen radikalen Liberalisierungskurs und beteiligt sich mit großer Begeisterung an der Globalisierung. So ausführlich die damit einhergehenden marktwirtschaftlichen Reformen bisher kommentiert wurden, so wenig Aufmerksamkeit schenkten die Beobachter dem Wechselspiel zwischen Staat und Markt. Dabei führten die Reformen und die forcierte Urbanisierungspolitik seit 1984 zu nachhaltiger Umverteilung der Güter. Von der Privatisierung der vormals in Staatsbesitz befindlichen Ressourcen profitierten neue Interessengruppen, die den Reformprozess für eigene Ziele nutzten. Die sozialen Ungleichheiten nahmen erheblich zu, die sozialen Sicherungssysteme lösten sich auf, der Graben zwischen Arm und Reich wurde tiefer, Landflucht und Massenarbeitslosigkeit brachten das soziale Gefüge aus dem Gleichgewicht.

Nichts von alledem hätte ohne die gezielten Eingriffe des Staates vonstatten gehen können, der sich fortan auf die Politik im engeren Sinn konzentrierte, seine sonstigen gesellschaftlichen Funktionen aber an den Markt abtrat. Dieser Dualismus von politischer Kontinuität und wirtschaftlich-sozialem Umbruch ist ein spezielles Merkmal des chinesischen Neoliberalismus. So überwand die Regierung ihre Legitimitätskrise nach 1989 und verhindert seitdem jede öffentliche Diskussion über Entwicklungsalternativen zum Neoliberalismus. Der Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO) markiert die einstweilen letzte Etappe in diesem Prozess.

Um die Gründe für diese Entwicklung zu verstehen, müssen wir einen Blick auf die wirtschaftlichen Veränderungen der Jahre 1978–1989 werfen und die Rolle des Staats bei der Einführung der Marktwirtschaft analysieren. Den entscheidenden Wendepunkt bildete die Niederlage der sozialen Bewegung von 1989, deren gesellschaftliche und demokratische Bestrebungen auf dem Tiananmen-Platz zunichte gemacht wurden.

Obwohl die meisten Untersuchungen die Bedeutung der Studenten, Intellektuellen und staatlichen „Reformer“ hervorheben, mobilisierte die soziale Bewegung dieser Jahre in Wirklichkeit viel größere Teile der Gesellschaft. Dass die Studenten eine wichtige Rolle spielten, ist unbestritten – schließlich hatte die „Aufklärung“ der Achtzigerjahre die alten Ideologien unterhöhlt und dem kritischen Denken neue Perspektiven eröffnet. Doch der spontane Charakter und das Ausmaß der Mobilisierung zeigen, dass die Bewegung von 1989 weit über die Studentenschaft hinausging.

Im Grunde waren die Intellektuellen weder in der Lage, realistische gesellschaftliche Ziele zu formulieren, noch, die Tragweite der Bewegung wirklich zu erfassen. Da sie immer nur den sozialistischen Staat im Visier ihrer Kritik hatten, konnten sie das Besondere an den neuen gesellschaftlichen Widersprüchen weder wahrnehmen noch begreifen. Während der maoistische Staat die systembedingte Ungleichheit durch Zwangsmaßnahmen und Planwirtschaft perpetuierte und mit dem Mäntelchen sozialistischer Gleichheit behängte, verwandelte der „Reformstaat“ die latente Ungleichheit in offen zutage liegende Einkommensunterschiede zwischen den sozialen Schichten. Dass der Protest der Achtzigerjahre daher eine zutiefst sozialistische Dimension besaß, haben die Systemkritiker schlicht übersehen – wobei hier nicht von einem monopolitischen „Sozialismus“ der alten Staatsideologie die Rede ist, sondern von Ansätzen zu einem neuen Sozialismus, der angesichts einer rapiden Marktentwicklung auf Gleichheit, Gerechtigkeit und Demokratie abzielt.

Ungeachtet ihrer sozialen Vielfalt richtete sich die Bewegung insgesamt gegen jedwede Monopolansprüche und Privilegien, sie trat für Demokratie und soziale Sicherheit ein. Mit Ausnahme der nicht unmittelbar beteiligten Bauern engagierten sich in den mittleren und größeren Städten Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Diese umfassende Mobilisierung repräsentativer Teile der Gesellschaft ließ die Widersprüche innerhalb des Staats offen zutage treten.

Hinsichtlich der staatlichen Reformen lassen sich zwei Phasen unterscheiden. Das erste Maßnahmenpaket betraf die ländlichen Gebiete. Durch die Anhebung der Agrarpreise, die Ankurbelung des Konsums und die Entwicklung lokaler Industrien verringerten sich die Einkommensunterschiede zwischen Stadt und Land. Zwar spielte bei dieser durchaus positiven Entwicklung auch die partielle Einführung von Marktmechanismen eine Rolle, doch im Grunde schrieben diese Reformen nur die chinesische Tradition egalitärer Landverteilung fort. Die landwirtschaftliche Produktivität stieg, und die Polarisierung zwischen ländlichen und städtischen Gebieten nahm eine Zeit lang ab.

Die zweite Reformphase begann 1984. Sie betraf die Städte und wird allgemein als entscheidend für die Entwicklung marktwirtschaftlicher Verhältnisse angesehen. Wirtschaftspolitisch wurden in dieser Periode die Dezentralisierung der Entscheidungsprozesse und die freie Verfügung der Betriebe über einen Teil der erwirtschafteten Gewinne durchgesetzt, eine Umverteilung, die in China kurz als fangquan rangli bekannt ist.1 Schon seit 1978 waren die staatlichen Ausgaben drastisch gesunken, die Kommunen hatten erweiterte Entscheidungskompetenzen und größere Ausgabenautonomie gewonnen.2

Der Soziologe Zhang Wanli schreibt hierzu: Die Dezentralisierung „hat die Machtbefugnisse der staatlichen Stellen mit Blick auf die Einkommensverteilung in keiner Weise geschmälert, sondern allein die Zuständigkeit der Zentralregierung abgebaut. […] Die Einmischung der Verwaltung ins wirtschaftliche Leben nahm nicht etwa ab, sondern verstärkte sich vielmehr. Die lokalen Behörden griffen viel direkter in die Wirtschaft ein als zuvor die Zentralregierung. So führte die Dezentralisierung keineswegs zum Verschwinden, sondern allein zu einer kleinteiligeren Funktionsweise der herkömmlichen Planwirtschaft.“3

Reformen und Reglement

REFORMIERT wurden vor allem die Staatsbetriebe. Sie erhielten anfangs mehr Autonomie und wurden aufgefordert, Unternehmensprozesse umzuorganisieren und neue Managementmethoden einzuführen. Als daraufhin die Arbeitslosenzahlen stiegen, rückte der Staat von Betriebsschließungen wieder ab und zog es vor, die Belegschaften umzuschichten. An der grundsätzlichen Orientierung in Richtung „Marktwirtschaft“ änderte sich freilich nichts. Die Gesamtentwicklung – Unternehmensfusionen, Betriebsschließungen, Belegschaftsumschichtungen – führte zu gravierenden Veränderungen in den Produktionsverhältnissen. Nachdem der Staat seine ausschließliche Zuständigkeit für Industrie und Handel einmal aufgegeben und planwirtschaftliche Vorgaben durch makroökonomische Regulierung ersetzt hatte, verschärfte sich die ungleichgewichtige Ressourcenverteilung, die schon für das alte System charakteristisch war – was sich unmittelbar in neuen schichtenspezifischen und individuellen Einkommensunterschieden niederschlug.

Dieses Resultat war mangels demokratischer Kontrolle und eines geeigneten Wirtschaftssystems beinahe unausweichlich. Die Interessen der Arbeitnehmer, aber auch der Staatsbediensteten wurden in gravierender Weise verletzt. Ihre wirtschaftliche Stellung verschlechterte sich, ihr Einkommen stagnierte, soziale Errungenschaften wurden abgebaut, die unterschiedlichen Interessen polarisierten sich, von der fehlenden Arbeitsplatzsicherheit für die Älteren, Schwachen, Kranken, Behinderten und für schwangere Frauen ganz zu schweigen.4 Und dennoch fanden die Reformen Anklang, weil sie fraglos befreiend wirkten und den Ideenstreit anregten. Dass die staatliche Stabilität nach wie vor unangefochten blieb, lässt sich nicht allein mit dem ausgeübten Zwang erklären, sondern verdankt sich auch der Tatsache, dass der Staatsapparat die skizzierte Dynamik aufrechtzuerhalten wusste.

Die galoppierende Inflation, die Mitte der Achtzigerjahre die Wirtschaft in ein Chaos zu stürzen drohte und das soziale Gefüge erschütterte, verschaffte der Debatte neue Nahrung. Zwei Alternativen standen zur Diskussion: entweder eine radikale Landreform und die umfassende Privatisierung der Staatsbetriebe oder staatlich gelenkte Strukturanpassungsprozesse unter partieller Freigabe der Preise. Am Ende entschied man sich für den zweiten Weg, der insgesamt erfolgreich war. Die Preisreform zwang die alten Monopolbetriebe zur Anpassung und wirkte sich stimulierend auf den Markt aus. Zumal der Vergleich mit den Ergebnissen der „spontanen Privatisierung“ in Russland zeigt, dass der eingeschlagene Weg richtig war.

Allerdings traten nun neue Probleme auf. China fuhr damals ein „zweigleisiges Preissystem“. Die Preise für Produktionsmittel legte der Plan fest, die Preise für Konsumgüter regelte der Markt. Damit war der Korruption Tür und Tor geöffnet. Staatliche Ressourcen gelangten auf mehr oder weniger „legalen“ Wegen in die Taschen einiger weniger Profiteure. Eine Hand voll „Rentiers“5 riss in diesem Tauschhandel zwischen Macht und Geld einen Teil des öffentlichen Reichtums an sich. Mehr noch: Seit der 1988 beschlossenen Ausweitung des „Kontraktsystems“ haben Staatsbetriebe, Kommunen und Ministerien das Recht, Handels- und Finanzierungsverträge mit dem Ausland abzuschließen. Dadurch gerieten Güter, für die eigentlich der Plan greifen sollte, doch in den Sog des Markts,6 was einen weiteren Inflationsschub auslöste.

Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, kündigte die Regierung im Mai und Juni 1988 an, das zweigleisige Preissystem abzuschaffen und die allgemeine Preisliberalisierung voranzutreiben. Panik und soziale Unruhen waren die Folge, und die Regierung sah sich genötigt, zu einer strikteren Kontrolle der Wirtschaft zurückzukehren. Die Widersprüche zwischen dem Staat und den Einzelinteressen, die sie auf lokaler wie nationaler Ebene auf den Plan gerufen hatte, konnten sich dadurch nur verschärfen.

Entscheidender Auslöser der sozialen Bewegung von 1989 waren die gravierenden sozialen Ungleichheiten, die die Reformpolitik mit sich gebracht hatte. In den städtischen Gebieten waren drastische Einkommensunterschiede entstanden. Ein Arbeiter konnte sich kaum mehr seine „eiserne Reisration“ leisten. Viele Beschäftigte der Staatsbetriebe waren arbeitslos geworden – freilich hatte die Arbeitslosigkeit noch nicht die heutigen Ausmaße angenommen. Infolge der Inflation schnellten die Lebenshaltungskosten in die Höhe, während die soziale Entwicklung stagnierte. Die Arbeiter waren nicht die einzigen Leidtragenden, auch die Einkünfte der Staatsbediensteten sanken im Vergleich zum Einkommen anderer Schichten, und wer den öffentlichen Sektor verließ und auf dem freien Markt eine Stelle fand, verdiente ungleich mehr als seine ehemaligen Kollegen.7

Die Stagnation der Landreform nach 1985 zerstörte alle Illusionen, die über das Reformprogramm noch bestanden hatten. Bedenkt man des Weiteren, dass sich die Interessenkonflikte innerhalb der Staatsapparate zusehends verschärften, so kamen nun sämtliche Voraussetzungen für eine handfeste Legimitätskrise zusammen. Nicht dass die chinesische Öffentlichkeit die Planwirtschaft gut gefunden hätte. Doch je offener die neuen Ungleichheiten zutage traten, umso misstrauischer wurde der Systemwandel beäugt, der Ende der Siebzigerjahre begonnen hatte. Die Legitimität der Reformen, ihre politische Berechtigung, wurde zunehmend in Frage gestellt.

Die Studenten und Intellektuellen forderten vor allem Verfassungsrechte, mehr Demokratie, Presse- und Versammlungsfreiheit, kurz: rechtsstaatliche Garantien. Sie verlangten die Anerkennung als legale patriotische Studentenbewegung. Andere Bevölkerungsgruppen unterstützten diese Forderungen, wollten sie aber mit konkreteren sozialen Inhalten füllen. Sie opponierten gegen Korruption und Veruntreuung öffentlicher Gelder, kritisierten die „Partei des Prinzen“ (die privilegierte Klasse), sie forderten Preisstabilität, soziale Gerechtigkeit und soziale Garantien. Darüber hinaus verlangten sie, dass der Staat die ausländischen Unternehmen überlassene Sonderwirtschaftszone Yangpu auf der Insel Hainan wieder in eigene Regie nehmen sollte. Ihre Forderung nach mehr Demokratie ging einher mit der Forderung nach gerechterer Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. So kritisch die Bewegung dem „alten“ Regime gegenüberstand, so unzweifelhaft wandte sie sich mit ihren Forderungen und ihrem Protest an den „neuen Reformstaat“. Dabei unterstellt die Unterscheidung zwischen „altem“ und „neuem“ Regime keineswegs eine Diskontinuität innerhalb der staatlichen Entwicklung, sie verweist vielmehr auf einen Wandel der staatlichen Aufgaben. Denn im Grunde war der „neue Reformstaat“ ganz und gar vom politischen Erbe des alten Regimes abhängig.

Insgesamt war die Bewegung eine spontane Reaktion auf staatlichen Autoritarismus und soziale Verelendung. Andererseits fanden sich in ihren Reihen auch solche Interessengruppen, die von der Dezentralisierung der Entscheidungsstrukturen und der Verfügungsgewalt über gesellschaftlichen Reichtum profitiert hatten. Sie hatten ihre eigenen Zukunftsvorstellungen und verlangten von der Regierung ein radikales Privatisierungsprogramm. Sie instrumentalisierten die Bewegung, um die Kräfteverhältnisse innerhalb der Regierung in der gewünschten Weise zu verändern. Auch Unternehmensgruppen wie die Kanghua Company oder die Sitong Company übten starken Druck aus.

Vor der Weltöffentlichkeit posierten die chinesischen Neoliberalen als Regimekritiker, die gegen „Tyrannei“ und für „Freiheit“ kämpfen. Geschickt verschleierten sie ihre vielschichtigen Beziehungen zum Staat, ohne die es ihnen nicht gelungen wäre, den Binnenmarkt zu entwickeln und ihre Politik der Dezentralisierung und Privatisierung durchzusetzen. Weil jede demokratische Kontrolle fehlte, sorgten die entsprechenden Gesetze auch noch für eine „Legalisierung“ der Aneignung von Ressourcen. Und aufgrund der Verquickung des chinesischen „Neoliberalismus“ mit dem Weltwirtschaftssystem gelang es den „radikalen Reformern“, ihre eigene Lesart der sozialen Bewegung von 1989 in Umlauf zu bringen und den Protest als Ausdruck wirtschaftsliberaler Bestrebungen darzustellen.

Festzuhalten bleibt, dass sich die Ereignisse von 1989 nicht nach dem Schema „pro oder contra Reform“ verstehen lassen. Die Debatte zwischen den Neoliberalen und den anderen Gruppen der 89er-Bewegung kreiste nicht um die Frage „Reform – ja oder nein?“, sondern um die Art der Erneuerung. Sosehr man sich über die Notwendigkeit politischer und wirtschaftlicher Reformen einig war, so umstritten waren ihr konkreter Inhalt und die damit verbundenen Erwartungen. Die Mehrheit wünschte eine grundlegende Erneuerung des politischen und rechtlichen Systems, strebte nach sozialer Gerechtigkeit und einer echten Demokratisierung des Wirtschaftslebens. Dass diese Bestrebungen den Interessen der Privatwirtschaft entgegenstanden, versteht sich von selbst.

Der Kampf für Demokratie, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit wurde auf dem Tiananmen-Platz mit Polizeigewalt niedergeschlagen. Die historischen Möglichkeiten, die sich in dieser Bewegung verkörperten, wurden zunichte gemacht. Dennoch erklärt sich diese Niederlage zum Teil auch aus der Unfähigkeit der Bewegung, soziale und demokratische Forderungen zu verbinden und sich als soziale Kraft zu stabilisieren.

Die 89er-Bewegung ist im Kontext der Globalisierung der Märkte und des wachsenden Prostests gegen das herrschende Weltsystem zu sehen. Sie ist Teil eines Protestmilieus, das seit den Demonstrationen gegen die Welthandelskonferenz in Seattle im November und Dezember 1999 die Hoffnung verkörpert, dass die Utopie von Gleichheit und Freiheit kein Hirngespinst ist. Doch statt den ambivalenten Charakter der Bewegung anzuerkennen, wollte die herrschende Meinung darin nur einen weiteren Beweis für die Überlegenheit des westlichen Modells erkennen. So wurden die soziale Substanz und die kritische Kraft des Ereignisses verleugnet. Seine historische Bedeutung als Protest gegen die neuen Machtverhältnisse, gegen die neue Tyrannei – und nicht nur gegen die alte – wurde vielsagend beschwiegen.

Nach den Tiananmen-Ereignissen blieb dem sozialen Protest nicht mehr viel Handlungsspielraum. Der neoliberale Diskurs triumphierte. Im September 1989 verabschiedete die Regierung die Preisreform, die sie noch wenige Jahre zuvor nicht hatte durchsetzen können. Im Anschluss an die Rundreise Deng Xiaopings durch die Länder des Südens beschleunigte die Regierung die Einführung der Marktgesetze. Die Geldpolitik rückte zunehmend in den Mittelpunkt, der Wechselkurs des Yuan wurde exportfördernd gesenkt. Im Zuge der Ausfuhrkonkurrenz entstanden zahlreiche Verwaltungsgesellschaften, die auf das „zweigleisige Preissystem“ zurückgehende Differenzen verringerten sich, und im Schanghaier Bezirk Pudong wurde eine der „Sonderwirtschaftszonen“ eröffnet, die bald darauf überall im Land entstanden.

In den folgenden Jahren nahmen die Einkommensunterschiede zwischen den einzelnen Regionen und sozialen Schichten drastisch zu, und die Zahl der neuen Armen wuchs beständig.8 Die alte Ideologie hatte endgültig ausgedient und wurde ersetzt durch die Strategie „Stark sein an zwei Fronten“ – an der ideologischen und an der ökonomischen. So enstand vor dem Hintergrund der Wirtschaftsreformen eine neue Art der Tyrannei. An die Stelle der obsoleten Staatsideologie trat der „Neoliberalismus“. An ihm richtete die Regierung fortan ihre Innen- und Außenpolitik aus, er wurde zum neuen Wertmaßstab in den Medien. Der Übergang zur Marktgesellschaft hat die Ursachen der sozialen Bewegung von 1989 nicht beseitigt – er hat sie nur „legalisiert“. Die ungeheuren sozialen Probleme der Neunzigerjahre – Korruption, Immobilienspekulation, Sozialabbau, Arbeitslosigkeit, Entstehung eines Landproletariats, Landflucht9 , Umweltkrisen – hängen unmittelbar mit den sozialen Bedingungen vor 1989 zusammen. Die Globalisierung hat diese Probleme nur verschärft. Die Ausbreitung marktwirtschaftlicher Verhältnisse hat zu sozialer Polarisierung und ungleicher Entwicklung geführt. Sie hat das soziale Gefüge destabilisiert und einem neuen Autoritarismus den Weg bereitet.

Gleichwohl hatten die Reformen und die wirtschaftliche Öffnung nicht nur negative Folgen. Sie befreiten China aus den Zwängen der Kulturrevolution, die sich als Sackgasse erwiesen hatte. Sie gaben den Anstoß zu wirklicher ökonomischer Entwicklung. Und sie wirkten befreiend. Aus diesem Grund begrüßten die chinesischen Intellektuellen sie. Historisch gesehen hinterließen sie jedoch auch tiefe Narben.

Die Generation, die nach der Kulturrevolution aufgewachsen ist, orientiert sich ausschließlich am Westen, genauer: an den Vereinigten Staaten. Asien, Afrika, Lateinamerika, auch Europa sind als Zentren des Wissens und der Kultur aus dem geistigen Gesichtsfeld Chinas verschwunden. Die Ablehnung der Kulturrevolution dient nur noch zur Verteidigung der herrschenden Ideologie und der Regierungspolitik. Jede Kritik am Neoliberalismus wird als „irrationale Regression“ gebrandmarkt, während Kritik am Sozialismus und an der chinesischen Tradition herangezogen wird, um die Übernahme des westlichen Entwicklungsmodells und der Modernisierungsteleologie zu rechtfertigen.

Doch sollte sich China nicht nur an der historischen Entwicklung des westlichen Kapitalismus messen. Im Gegenteil, der Kapitalismus muss der Kritik unterzogen werden, und zwar nicht zum Vergnügen, sondern um die bisherige Entwicklung Chinas und der Welt unvoreingenommen zu bewerten und historisch neue Möglichkeiten aufzuzeigen. Es geht nicht darum, die Erfahrungen, die China mit der Moderne gemacht hat, in Bausch und Bogen zu verwerfen. Schließlich befreite sie die Menschen von der Geschichtsteleologie, vom Determinismus und Fetischismus der vorangegangenen Gesellschaftsordnung. Es kommt vielmehr darauf an, die historischen Erfahrungen Chinas und anderer Länder als eine Quelle theoretischer und praktischer Innovationen zu nutzen.

Im Rückblick gesehen war die sozialistische Bewegung Chinas sowohl eine Widerstands- als auch eine Modernisierungsbewegung. Wenn wir die Schwierigkeiten verstehen wollen, die China auf der Suche nach Gleichheit und Freiheit begegnen, müssen wir unseren bisherigen Modernisierungsweg hinterfragen. Wir brauchen demokratische und sozialverträgliche Lösungen, die geeignet sind, soziale Polarisierung und gesellschaftliche Desintegration zu verhindern.

dt. Bodo Schulze

* Ideengeschichtler, Chefredakteur der Zeitschrift Dushu, Peking.

Fußnoten: 1 Dazu Zhang Wanli, „Twenty Years of Research on Social Class and Strata in China“, Shehuiwue janjiu, Peking 2000. 2 Wang Shaoguang, „Der Aufbau eines mächtigen demokratischen Staats – ‘Regimetyp‘ und ‘staatliche Handlungsfähigkeit‘“, in: „Dangdai zhongguo yanjiu zhongxin lunwen“ [Beiträge des Zentrums zur Erforschung des heutigen China], Bd. 4, 1991. 3 Siehe Anmerkung 1, S. 28 f. 4 Zhao Renwei, „Einige Besonderheiten der Einkommensverteilung in China während der Übergangsphase“, in: Zhao, „Forschungen über die Einkommensverteilung in der chinesischen Bevölkerung“, Peking 1994; Feng Tongqing u. a., „Die Lage der chinesischen Arbeiter. Innere Struktur und gegenseitige Beziehungen“, Zhongguo sheshui chubanshe, Peking 1993; Zhang Wanli, s. Anm. 1. 5 Hu Heyuan, „Eine Schätzung der Vermögenseinkommen in China 1988“, in: „Jingji tizhi bijiao“ [Vergleichende Wirtschaftsforschung], Bd. 7, 1989. 6 Guo Shuqing, „Transformation des Wirtschaftssystems, makroökonomische Anpassung und Kontrolle“, Tianjin renmin chubanshe, 1992, S. 181. 7 Ein Vergleich der Situation der leitenden Angestellten und Beamten vor und nach den Reformen findet sich bei Li Qiang, „Stratifizierung und Bewegung im heutigen China“, Zhongguo jingji chubanshe, Peking 1993. 8 Dazu die Arbeiten der Sektion „Wirtschaftsforschung zur Einkommensverteilung“ bei der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften: Zhao Renwei u. a. 9 Dazu Wang, „Untersuchung zur urbanen Entwicklung und ihrer Vorläufer“, in: „Shehuixue yanjiu“, Bd. 1, 2000, S. 65–75.

Le Monde diplomatique vom 12.04.2002, von WANG HUI