12.04.2002

Unabhängigkeit von der Unabhängigkeit

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Unabhängigkeit von der Unabhängigkeit

DIE frankophonen Inseln im Indischen Ozean, östlich von Afrika, sind in Aufruhr. In Madagaskar wurde der seit 25 Jahren amtierende Präsident Ratsiraka entmachtet. Auf den Komoren wird seit Jahren um die Unabhängigkeit gestritten. Die Insel Mayotte will französisches Übersee-Departement werden und hängt am wirtschaftlichen Tropf des Mutterlandes. Anjouan dagegen will die Unabhängigkeit auch von der Komorischen Föderation. Auf dem Archipel herrschen Zustände wie an den Südküsten der Festung Europa: Illegale Zuwanderer versuchen unter Einsatz ihres Lebens am höheren Lebensstandard von Mayotte teilzuhaben.

Von CHRISTOPHE WARGNY *

Wer kennt schon Mahore, heute Mayotte, eines der Staubkörnchen des alten französischen Kolonialreichs, die östlichste Komoreninsel am Eingang der Straße von Mosambik? Das Hin und Her der Barken zwischen Petite Terre und Grande Terre gibt den Atemrhythmus vor für die beiden bescheidenen Lungen der Insel: Dzaoudzi, wo die Verwaltung sitzt, und Mamoudzou, wo die Geschäfte gemacht werden. Die Bootsfahrt offenbart innerhalb einer Viertelstunde die Prämissen einer Identität. Blau und grün, gesprenkelt von Inselchen mit üppigem Baumbestand und von ruhiger Schönheit. Eine schwarze, kaum gemischte Bevölkerung, die südlichste Vorhut des Islam, der sichtbar ist, aber nicht in der Bekleidung der Frauen zur Schau getragen wird. Einige Madagassen, Inder, Franzosen aus dem Mutterland. Viele Kinder. Jachten, zahlreiche Autos, ältere Modelle oder Kleinwagen. Nichts, was nach Reichtum stinkt. Aber auch kein äußeres Zeichen der Not, die in einigen Elendsvierteln herrscht. Eine Gelassenheit, wie sie typisch für das Inselleben ist. Die Amtssprache Französisch in den Schulen und im öffentlichen Dienst; auf den Barken und überall sonst wird shocomori gesprochen.

Eine Million Komorer leben auf dem Archipel. Drei Inseln – Anjouan (Nzwani), Mohéli (Mwali) und Grande Comore (Njazidja) – bilden die relativ spät unabhängig gewordene Islamische Bundesrepublik Komoren; die vierte, Mayotte, ist französisches Departement. Oder fast. Eine collectivité départementale, dazu bestimmt, zum Departement zu werden. Jede Ausnahme bringt in Frankreich eine eigene Kategorie hervor. So will es das Referendum vom Juli 2001. Für zehn Jahre. Zeit genug, um ein Land der oralen Tradition und des islamischen Rechts an die Normen des französischen Sozial-, Rechts- und Schulwesens anzupassen.

Als Frankreich beschloss, über 160 Millionen Euro pro Jahr in das künftige Departement zu pumpen, hielt Mayotte einen vierfachen Rekord: in afrikanischer Fruchtbarkeit – die Hälfte der Bevölkerung ist unter 16 Jahre alt; in seinem fast flächendeckenden, aber sehr jungen Schulsystem mit einer noch hohen Quote an Analphabeten; in einer ganz und gar abhängigen Wirtschaft – die Insel importierte fünfzigmal mehr, als sie exportierte; und schließlich in der Zahl der Abschiebungen von Ausländern, hauptsächlich Komorern, vor allem von der Insel Anjouan: Da stand Mayotte – noch vor Französisch-Guayana – auf Platz eins in Frankreich.

Diese Rekorde ergeben sich aus der Geschichte und der Geografie Mayottes. 1974 hatten die Komoren mit überwältigender Mehrheit für die Unabhängigkeit votiert. Nur die Mahoresen, wohl die ärmste Bevölkerung des ganzen Archipels, stimmten dagegen, auf Betreiben ihrer Notabeln, denen es in erster Linie darum ging, nicht unter die Herrschaft von Moroni und der Hauptinsel zu fallen. Frankreich behielt also ein Überseeterritorium – das arme Mayotte, das weder kommerziell noch strategisch von Interesse war. Keine weiße Bourgeoisie, kein arabischer Feudalstil, keine Spur vom Luxus der alten Zuckerinseln. Was konnte Frankreich damit anfangen? Lange Zeit gar nichts. Oder sehr wenig. Ein Minimum an Entwicklung. Die Hoffnung, Mayotte werde der islamischen Komoren-Republik beitreten? Ein anderes föderalistisches Modell erfinden? Für solche Lösungen hätte es eines politischen Willens bedurft.

Die Antwort kam also von den Komoren selbst. Der neue Staat erhob Anspruch auf Mayotte. Aber Staat heißt hier immer Staatsstreich. Mehr oder weniger blutig. Der erste Präsident der Komoren, Ahmed Abdallah, konnte sich nur ein paar Wochen halten, kehrte jedoch 1978 mit Hilfe der von Bob Denard geführten Söldner an die Macht zurück. Sein Vorgänger, Ali Soilih, wurde bei dem Putsch ermordet. Einige Jahre später, 1989, entledigten sich die Söldner auch seiner. Nach einem weiteren Umsturzversuch durch ein Söldnerkommando, der eine zweite französische Militärintervention nach sich zog, wurde 1996 Mohamed Taki – in demokratischen Wahlen, wie die UNO sagt – zum Präsidenten gewählt. 1999 brachte der letzte Staatsstreich wieder einen Militärmachthaber an die Spitze, Azali Assoumani. Weil er nicht als respektables Staatsoberhaupt galt, durfte er als Einziger nicht am französisch-afrikanischen Gipfel von 2001 teilnehmen.

In diesem keineswegs erschöpfenden Überblick dürfen die Rivalitäten der Inseln angesichts der dominierenden Grande Comore, die sich der spärlichen Gelder bemächtigt, nicht fehlen. Wenn schon ein Land wie der Senegal mit seiner politischen Stabilität nicht vor dem Beitritt in den allzu offenen Klub der am wenigsten entwickelten Länder (LLDC) verschont bleibt, kann man sich vorstellen, wie es um die Entwicklung in einem politisch instabilen Land mit wenig einträglichen Rohstoffen bestellt ist. In den Neunzigerjahren sank das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf um 2,3 Prozent – trotz des Beitrags einer immer zahlreicher werdenden Diaspora, dem ein Bevölkerungswachstum von nahezu 3 Prozent gegenübersteht.1 Die Bevölkerungsdichte – auf Anjouan leben rund 600 Einwohner pro Quadratkilometer –liegt auf Mayotte bei über 400.

Das Schicksal von Mayotte wurde ohne sein Zutun bestimmt. Was zum Teufel sollte es in diesem komorischen Abenteuer? Fünfundzwanzig Jahre nach der Unabhängigkeit schlug das Überseeministerium, berühmt für die Schaffung von Oasen inmitten bitterster Armut, ein Referendum vor. Der Finanzstrom aus dem Mutterland begann schon vor dem Volksentscheid zu fließen. In Mamoudzou verschwanden die alten Häuser aus Wellblech und gestampftem Lehm hinter Banken, neu eröffneten Boutiquen und öffentlichen Gebäuden. Die Handelskammer konkurriert mit dem brandneuen Krankenhaus. Eine geschmacklose, aufgesetzte Überwucherung, die die Slums der Immigranten an die Peripherie drängt. Wie Pilze schießen höhere Schulen und medizinische Zentren aus dem Boden, auf den Dächern prangen Satellitenschüsseln und Antennen. Die Lokalzeitung – Kwézi erscheint zweimal die Woche – berichtet von Auftritten nationaler Berühmtheiten, aber auch von Problemen, die denen des Mutterlandes verdammt ähnlich sind: Streiks bei der Erdölgesellschaft, der Konkurrenz zwischen Einzelhandel und Supermärkten (Filialen von der Insel Réunion), der Anhebung des Mindestlohns auf das Niveau im Mutterland.

Mit der Zeit wird Mayotte seine frühen Rekorde hinter sich lassen. Die Schulverwaltung führt einen schwierigen Kampf gegen das Elend, aber vor allem gegen den niedrigen Wissensstand in einem System, das die einheimische Sprache nicht berücksichtigt. Die Investitionen im Bildungsbereich sind unbestreitbar, Hauptschulen und Gymnasien übergangsweise in den Händen französischer Lehrkräfte. Aber wenn um fünf Uhr morgens der erste Ruf des Muezzins ertönt, strömen sehr viele Kinder in die Madrassen – und kommen drei Stunden später erschöpft zum Pflichtunterricht in der weltlichen Schule.

Ein weiteres ungelöstes Problem ist der Mangel an Exportgütern. Was außer Vanille und Ylang-Ylang2 kommt überhaupt in Frage? Sicher, es könnten sich ruhig ein paar mehr Touristen auf die „Laguneninsel“ verirren. Die alles entscheidende Infrastruktur für Reiseveranstalter existiert immerhin schon in den Köpfen. Aber sonst? Ohne die pflanzenhygienischen Auflagen würde sogar Gemüse von Anjouan importiert. Die kaum geförderte Landwirtschaft kann niemanden ernähren. Und die ersten Akademiker, die mit einem Diplom in der Tasche zurückkehren, haben keine Alternative zum Staatsdienst, weil es hier nie ein Unternehmertum gegeben hat.

Ein noch heikleres Thema: die Immi–gration. Offiziell verurteilt, aber im realen Alltag so praktisch! Für die kleinen Unternehmen wie für die neue Mittelschicht. Man verkündet lauthals: Die Anjouaner profitieren von der Gesundheitsversorgung, die wir mit „unseren“ Steuergeldern finanzieren (tatsächlich werden die örtlichen Budgets zu 90 Prozent vom französischen Staat gespeist). Und man flüstert: Die faulen Mahoresen lassen Leute für sich arbeiten, die aus lauter Not wie Sklaven schuften, die kleinen Firmen heuern Maurer und Lagerarbeiter an, so schön billig, wo doch jetzt das Baugeschäft gut läuft.

Die familiären und kulturellen Bindungen sind eng zwischen den beiden Inseln. Sind es nicht Verwandte, Brüder, die mit 200 Euro im Monat das Dreifache von dem verdienen, was sie erwarten könnten, wenn sie bei sich zu Hause überhaupt eine Arbeit fänden? Aus der Sicht des Präfekten dagegen kann Mayotte keine Fremdarbeiter von der Schwesterinsel gebrauchen. Mit der Ausbildung der eigenen Leute hätte man genug Arbeitskräfte, um den Bedarf zu decken.

Weder die Einführung einer Visumpflicht im Jahr 1994 noch verstärkte Radarkontrollen und Küstenwachen konnten den Zustrom der Komorer bremsen. Die Einwohnerzahl von Mayotte ist seit 1975 enorm gestiegen. Von 42 000 auf … 120 000? 150 000? Wird die Volkszählung 2002 uns Auskunft geben? Wie viele Illegale sind darunter? Ein Viertel? Mehr? Fast jede zweite Wöchnerin im Krankenhaus von Mamoutzou stammt aus dem Ausland, das heißt von Anjouan. Wie viele Neulinge, wie viele Rückfällige, zu jedem Risiko bereit, kommen auf die 200 Ausgewiesenen pro Woche?

Es gibt nur wenige Kontrollen auf den Pendelbooten, dafür Razzien in den Elendsvierteln oder bei den Kleinhändlern auf dem Schwarzmarkt. Die Verfolgung, Verwahrung und Versorgung der abzuschiebenden Ausländer kostet zehnmal so viel wie die öffentliche und private Hilfe, die Frankreich insgesamt für den Rest des Archipels bereitstellt. Eine Summe, die 2002 noch steigen wird – schneller als das Budget für die „Kooperation mit der geografischen Umgebung“, die das Schlüsselkonzept in allen Reden der Minister ist. „Unsere Übersee-Departements müssen sich in ihre Region integrieren“, mahnt das offizielle Frankreich wieder und wieder. Für diesen Zweck verfügt die frisch gebackene collectivité départementale über 500 000 Euro im Jahr – so viel kostet eine Schule, eine einzige.

Acht Stunden braucht die „Tratinga“ für die Überfahrt nach Mutsamudu, der Hauptstadt von Anjouan. Ein Durcheinander von Männern, Frauen und den verschiedenartigsten Gegenständen. Alles, was sich tragen lässt: Gasflaschen, Gartenstühle, Matratzen, Fernseher, Koffer und riesige Bündel. Ab sieben Uhr hilft an Bord und rund um den Steg nur noch Ellbogengewalt.

Um neun Uhr heißt es alles wieder raus aus dem kleinen Küstenschiff und abwarten, bei unerträglicher Hitze zusammengedrängt auf dem einzigen baumlosen Stück Erde von Dzaoudzi! Die Fahrgäste sind ausnahmslos Anjouaner. Die einheimische Polizei inspiziert das Schiff und die Ausrüstung und tut so, als halte sie die nach französischen Vorschriften erforderlichen dreizehn Matrosen für wirkliche Matrosen. Im Schatten des Kontrollpostens lässt sie sich eineinhalb Stunden Zeit, um die Passagierliste durchzugehen. Endlich geht es wieder an Bord. Die Anker werden gelichtet. Nein! Noch nicht! Mehrere Kastenwagen der Polizei bringen an die vierzig Last-Minute-Passagiere: nur Männer, alle jung. Die abgeschobenen Anjounaner machen die Fracht komplett. Viele werden zurückkommen, ebenso illegal wie das letzte Mal.

Mutsamudu. Der Kai führt zum Markt. Klapprige alte Peugeots verpesten die Luft. Nur der Geruch von Gewürznelken kann mit den Abgasen mithalten. Vielleicht weil sie neben Vanille und Ylang-Ylang den Löwenanteil des Exports der Insel ausmachen. Die Medina beherbergt die bürgerlichen Kaufleute, die mit Gewürzen, Essenzen und Manufakturwaren handeln. Die engen Gassen sind belebt von den chiromani der Frauen, großen roten Tüchern, bedruckt mit weißen Karos, Blumen oder Arabesken. Schönheitsmasken, eine Mischung aus duftenden Rinden und Korallenrot, schützen vor einer großzügig strahlenden Sonne.

Die Hauptstadt ist ein Marktflecken, der sich längs der Küste erstreckt und gemächlich die Hügel hinaufsteigt. Dort thront bescheiden der Präsidentenpalast. Seit vier Jahren ist die Insel unabhängig. Jedenfalls hat sie einseitig ihre Abspaltung von der einzigen und doch so teilbaren Komoren-Republik erklärt.

Nach der Unabhängigkeit der Komoren hatte Anjouan einen großen Teil der Führungskräfte gestellt und sogar Gymnasiasten von Mayotte weiterhin den Schulbesuch ermöglicht. Seit dem Ende der Neunzigerjahre geht es mit der Insel bergab. Unaufhaltsam. Die schwankenden Rohstoffpreise sind nicht der einzige Grund. Die rücksichtslose Zentralisierung zugunsten von Moroni wird immer drückender, verschärft durch eine Reihe von Staatsstreichen – über 25 Putschversuche in 25 Jahren, der 26. wurde am 17. Dezember 2001 auf der Insel Mohéli vereitelt. Keine Investitionen mehr, kein Tourismus. Garantiert unberührte Strände.

Trotz der hohen Kindersterblichkeit erzielt die Geburtenrate Rekorde, sogar im Vergleich zum afrikanischen Kontinent: mehr als sechs Kinder pro Frau. Die Bevölkerung verdoppelt sich alle zwanzig Jahre. Im nioumakélé (wörtlich: „zurückgebliebenes Land“ oder „Land der Zurückgebliebenen“) Scharen oft schwächlicher Kinder; Felder, auf denen sich hunderte von Armen bewegen, weitgehend kahle Hügel und im Umkreis der Märkte das bunte Gedränge der Frauen, die mal kaufen, mal verkaufen.

Bis 1995 gab es für das Zuviel einen natürlichen Abfluss: Mayotte. Die überwiegende Mehrheit der Anjouaner, die wegen einer Feierlichkeit, einer geschäftlichen Angelegenheit, eines Gesundheitsproblems oder einer Zeitarbeit auf die Nachbarinsel fuhren, kehrte zurück. An der Visumpflicht sind alle legalen Beziehungen zwischen den Einwohnern des Archipels zerbrochen.

Junge Leute auf der Suche nach einer Identität, eingespannt von Politikern oder Abenteurern, die sich zu Duodezfürsten berufen glaubten, haben 1997 die Unabhängigkeit von Anjouan erklärt. Mit diesem sehr populären Schritt sollte das angeblich so generöse Frankreich auf Distanz zur gnadenlosen Herrschaft von Moroni gehen und sich für Mayotte stark machen. Die Naivität derer, die für den „Wiederanschluss“ (an Frankreich) gekämpft und die komorische Armee vertrieben haben, nährte sich aus früheren Interventionen Frankreichs. Obwohl jeder auf Anjouan dieselbe Abwandlung des Suaheli spricht, ist Französisch die Sprache der Schulen und aller offiziellen Texte.

Beim Referendum stimmten 99 Prozent aller Anjouaner für die Unabhängigkeit. Die m‘sungu, die Ausländer, wurden zu Hilfe gerufen. Frankreich lehnte jede Vermittlung ab und ließ zu, dass die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) ein Embargo verhängte, das die destabilisierte Wirtschaft noch mehr ins Trudeln brachte. Eine Choleraepidemie kam hinzu. Die verdeckten Gegensätze traten offen zutage, Waffen und Milizen tauchten auf: Die matsaha, die Bauern, rebellierten gegen das arabisch durchmischte Bürgertum der Städte, ehe sie sich den Unabhängigkeitskämpfern der embargos anschlossen. So nannten sich die Milizen, die das Embargo bekämpften und 1999 einen regelrechten Bürgerkrieg entfachten. Zwischen Mutsamudu und Mirontsi lag die Front.

Die führenden Köpfe ergriffen die Flucht. Für die in Auflösung begriffenen Milizen wurden Beamte rekrutiert. Die Staatskassen waren leer, bezahlt wurde schon lange niemand mehr. Bei den Lehrern gab es einen Gehaltsrückstand von 28 Monaten. Dann die Diktatur von Hauptmann Saïd Abeid, ehemaliger Offizier der französischen Armee; vier Umsturzversuche allein im Jahr 2001, Willkür und Korruption haben die Bevölkerung zermürbt. Mittlerweile hat der Polizeichef die Macht an sich gerissen und führt mit Moroni schwierige Verhandlungen über eine Rückkehr in den Schoß der Föderation.

Keine Spur von unabhängigen Nachrichten hier auf Anjouan. Kaum ein politisches Leben, es sei denn im Untergrund. Der Bücherstand von Mutsamudu, einzige derartige Verkaufsstelle der Insel, bietet außer einigen Romanen konforme französische Zeitschriften von vor drei Monaten an. Eine kulturelle Wüste, aber von erstaunlicher Würde. Nur auf dem Markt ertönt ein Gemisch aus afrikanischer, arabischer und europäischer Musik.

Die Hälfte der Bevölkerung des nioumakélé lebt in bitterer Armut. Mit einem lächerlichen Einkommen, obwohl die lebenswichtigen Gewürze seit einem Jahr wieder Höchstpreise erzielen. Dennoch: keine Bettler. Lange Zeit konnte die Solidarität innerhalb der Dörfer und Familien die größten Ungleichheiten kompensieren. Währenddessen stecken die vereinten politischen Bemühungen von Paris (via Mayotte), Moroni und den anjouanischen Zauberlehrlingen in der Sackgasse. Ob mit oder ohne Visum, der Ausweg führt nach Mayotte, 80 Kilometer entfernt und bei klarer Sicht von der Küstenstraße vor Domoni aus mit bloßem Auge zu erkennen.

Abgesehen von ein paar „freiwilligen Rückkehrern“ werden jedes Jahr 10 000 aus Mayotte nach Anjouan abgeschoben. 30 000 kommen wieder. Besteigen irgendwo an der Küste ein Schiff. Drehscheibe ist Domoni, die alte Hauptstadt der Sultane, im Hintergrund die Medina und heruntergekommene Villen auf den Anhöhen. Diesseits und jenseits der „Autobahn Abdallah“, wie der breite Teerstreifen heißt, den sich der Dikator hatte einfallen lassen, um seine Residenz mit dem Stadtzentrum zu verbinden. Man fing mit einer Trasse an, beleuchtet von Straßenlaternen (die eine Hälfte der Bevölkerung lebt ohne Elektrizität, die andere mit Unterbrechungen der Stromversorgung). Die Ermordung des Despoten setzte dem Bauprojekt ein Ende. Jetzt machen jeden Abend Trauben von Schülern im Licht der Laternen ihre Hausaufgaben.

Etwa dreißig Agenturen organisieren von der Ostküste der Insel aus Überfahrten mit den kwassa kwassa: ganz flachen Kähnen, ausgerüstet mit einem oder zwei Außenbordmotoren, die, ohne Aufsehen zu erregen, abfahren. Die einheimische Polizei hat nichts dagegen einzuwenden. Allenfalls verlangt sie gelegentlich ein bisschen m‘karakara, das landesübliche Bakschisch.

An diesem Tag sind es zwei Dutzend Boote, die am Ufer warten, bis das letzte Buschtaxi aus Adda-Douéni im Hinterland seine Fracht entladen hat. Großes Palaver. Keine Unruhe, keine Eile. Viele Bauern aus dem Landesinnern, die das Meer nicht kennen. Jetzt sind sie hier, waten über einen Vorsprung aus Basaltgestein. Das Meer still wie Öl. Die Männer tragen ihre Sonntagskleidung, die jungen Leute Jeans und saubere T-Shirts. Die Frauen hüllen sich in ihre chiromani: die gleichen wie auf der Insel gegenüber. Dank der Polygamie haben sie die besseren Chancen, endgültig auf Mayotte zu bleiben. Da sie als fügsam gelten, können sie auf einen Mann zum Heiraten hoffen.

Jeder hat sein Kleingepäck dabei. Handtasche, Plastiktüte oder Aktenköfferchen: alles, was man braucht, um wie ein echter Mahorese auszusehen. Ein paar Liter Wasser. Zweihundert Liter Treibstoff, manchmal ein Kompass, aber keinerlei Technik, um die Position zu bestimmen. Kein Werkzeugkasten. Keine Rettungswesten, allenfalls für den Kapitän und seine Leute. Das Boot – ursprünglich für den Fischfang und zwei bis drei Personen ausgestattet – ist völlig überladen. Am Horizont in einem Nebelstreif erkennt man das Gelobte Land.

Die kwassa-Agenturen? Sie sind das blühendste Geschäft der Insel. Kein öffentlicher Dienst. Schnelleres Geld als mit der Bonito- oder Langustenfischerei, für einen wenig solventen und kleinen Markt. Aber mit hohem Risiko bei der Überfahrt! Für die Passagiere. Und für die Lotsen.

Sechs Fahrten reichen aus, um die Kapitaleinlage zu amortisieren, zumal die Motoren häufig aus dem Diebesgut einheimischer Gangs stammen, die auf Mayotte Beute machen. So ein Jachthafen verpflichtet. Eine Überfahrt bringt rund 1 500 Euro. In Bambao baut ein Grundbesitzer, Schiffskapitän und ansonsten Staatsbeamter, sein siebtes Haus. Bei der sechzigsten Reise hat ihn die mahoresische Polizei aufgebracht und bestraft. Die kwassa-Branche beschäftigt hunderte von Menschen: Steuerleute, Schlepper, Lieferanten, Schiffsbauer und Mechaniker, obwohl das mit der Wartung so eine Sache ist …

Lotsen auf der Fahrt ins Paradies

ES rüttelt“ – so lautet die Übersetzung von kwassa kwassa. Eine falsch eingeschätzte Hohlwelle, eine Nebelbank, ein Korallenriff vor der Küste von Mayotte oder das Auftauchen französischer Gendarme – eine Kleinigkeit genügt, und aus dem Gerüttel wird eine Abdrift oder ein Schiffbruch. Seit der Unabhängigkeit sind tausende verschollen. Die bedrohlichste Endemie des Landes, schlimmer als die Malaria. 181 Tote innerhalb von 16 Monaten nach den Listen des Observatoire de l‘émigration clandestine anjouanaise (OECA).3 Ohne Visum kommt keiner auf eines der soliden Küstenschiffe, die in Dzaoudzi anlegen. Die Anjouaner vertrauen sich den Agenturen an. Für die gibt es keine Vorschriften. Keine andere Sicherheit als die Fähigkeit der Lotsen … oder deren Überlebenswillen. Gut bezahlt, versuchen manche, sich ihrer Fracht so schnell wie möglich zu entledigen. Notfalls auf einem Korallenriff. Nur nicht umkehren, und vor allem: sich nicht erwischen lassen! Das kostet sechs Monate Gefängnis und die Zerstörung des kwassa.

Inzwischen könnte sich das OECA gut und gerne ein anderes Kürzel zulegen oder eines benutzen, das es schon gibt: OMC – Observatoire des migrations comoriennes. Der Erfolg der kwassa kwassa zieht immer neue Kandidaten an, die auf Küstenschiffen von anderen Inseln des Archipels nach Anjouan kommen. Den Ärmsten der ersten Überfahrten folgen Angehörige anderer sozialer Schichten – in der Hoffnung, „das Paradies zu erreichen, ohne vor der Ankunft zu sterben“, wie eine neue lokale Redewendung sagt.

Vereinzelte Staatsgebäude, die wie Rohbauten zwischen leeren Flächen aufragen, Schiffe, die nicht anlegen können, weil die Wassertiefe im Hafen nicht ausreicht: Moroni scheint eine Dschellaba zu tragen, die einige Nummern zu groß geraten ist. Die Hauptstadt der Komoren erinnert an den aufgeblasenen Frosch von La Fontaine. In Schwarz, umgeben von Lava, die der Karthala ausgespien hat, der eigentliche, unberechenbare, durch keinen Putsch absetzbare Herr der Insel.

Immerhin kann sich die Grande Comore der Rückkehr ihrer Medien rühmen. Dank dem unschätzbaren Beitrag der Diaspora aus Südostfrankreich lebt es sich hier nicht ganz so schlecht.4 Und es wird geredet. Der zum Präsidenten ausgerufene Hauptmann Azali Assoumani braucht eine Legitimation. Die internationale Gemeinschaft drängt zur Aufhebung der Sanktionen gegen Anjouan. Das Konzept der nationalen Versöhnung macht Furore, bestärkt durch Konsensgespräche und das Aufkeimen einer Zivilgesellschaft, begleitet von Drohungen und finanziellen Verheißungen (die politischen Führer vergessen allzu leicht, dass das frische Geld der Weltbank nebenbei auch neue Schulden bringt).

Eine neue, sehr föderalistische Verfassung soll alle versöhnen. Und – nach dem mit 76 Prozent Jastimmen positiv verlaufenen Referendum vom 23. Dezember 2001 – eine neue Union der Komoren begründen. Bald wird jede Insel ihren eigenen Präsidenten und die Union den ihren haben. Schluss mit dem großkomorischen Zentralismus. Die Militärs, ob von Mutsamudu oder von Moroni, werden ihre Pfründen bewahren. Die Komorer haben schon mehrere Verfassungen verschlissen, manchmal, ohne sie zu benutzen. Die letzte hat nur drei Jahre gehalten.

Ob die Zentrifugalkräfte mit einer Ehrenerklärung für die selbst ernannten Herren aufgehoben werden? In einem Land ohne demokratische Tradition unterscheiden sich die Parteien nicht durch Programme, sondern durch Familienbande oder Clans. Die Sitzungen des „Komitees zur Umsetzung des Versöhnungsabkommens der Komoren“ verheißen, was den Respekt vor dem Bürgerwillen anbelangt, wahrlich nichts Gutes.

Dennoch gibt es kämpferische Geister, die sich außerhalb der politischen Parteien für den gesellschaftlichen Wandel engagieren. Sie haben sich gehütet, ihre Glaubwürdigkeit durch die Mitwirkung an einem ungewissen Vorhaben aufs Spiel zu setzen. Ob es ein Licht am Ende des Tunnels gibt, ist weniger eine Verfassungsangelegenheit als eine Frage konkreter Projekte und Taten. Wie etwa die von Ali Hamadi: Er organisiert den Zusammenschluss der sandouk, jener Sparkassen, die tausende von Kunden haben und die in Form von Kleinkrediten, die jedermann zugänglich sind, Millionen in den Wirtschaftskreislauf bringen. Ein anderes Beispiel liefern Achirafi Ahamed und seine Organisation, die an der Entwicklung der Familienplanung arbeiten, Sexualkundeunterricht an Schulen verlangen und den Staat drängen, endlich ein Familienrecht einzuführen. Oder auch Zahara Toyb und die Frauen vom Frauennetzwerk, die ohne festes Personal 150 Vereine koordinieren. Ihre Ziele: Alphabetisierung, medizinische Versorgung, Wirtschaftsinitiativen, Frauenrechte … Sie alle kämpfen ohne staatliche Unterstützung. Aber sie wissen sehr genau, wer ihre Feinde sind: die ganz gewöhnliche Korruption und der Boden, den sie dem Fundamentalismus bereitet.

Wenn Frankreich die komorischen Abiturienten, die zu Hause keine Universität haben, nicht an französischen Universitäten studieren lässt, gehen sie woanders hin. Nach Libyen, Ägypten, in den Sudan, vermittelt durch Nichtregierungsorganisationen, die von Saudi-Arabien finanziert werden. Jeder kann sich vorstellen, mit welcher Geisteshaltung manche danach in ihre Heimat zurückkehren.

Auf der Insel Réunion gibt es eine Einrichtung, die sich „Universität des Indischen Ozeans“ nennt. Komorische Stipendiaten haben praktisch keinen Zugang. Alle, Politiker wie Aktivisten, stellen die gleiche Frage: Haben Frankreich und die französischsprachige Gemeinschaft nichts aus dem 11. September 2001 gelernt? Die Antwort ist: Nein. Sogar bei der Botschaft fühlt man sich ohnmächtig. Afrika ist nicht mehr angesagt. Die Mittel sind lächerlich. Tausend Lehrer aus dem Mutterland auf Mayotte, zwei oder drei, die nach Anjouan geschickt werden sollen, wenn alles gut geht.

„Wie soll es eine gemeinsame Entwicklung ohne Austausch zwischen den Menschen geben? Das ist ein Widerspruch“, empört sich Paul Vergès, der Präsident der Region von Réunion.5 Ob mit oder ohne neue Verfassung, die Komoren werden sich nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen können. Die angehäuften Hindernisse werden durch den Egoismus von Mayotte, diesem nutzlosen Magneten, der nur für Frustrationen und Aufruhr sorgt, noch höher. Die Politik der Visumpflicht ist nicht nur dumm und bösartig, sie ist auch kontraproduktiv, weil sie die unkontrollierte Immigration fördert.

Alles für Mayotte. Nach dem Hafen, dem Krankenhaus und den technischen Einrichtungen nun der internationale Flughafen? Möge sich der Rest mit brachliegenden Feldern begnügen. Nichts von dem schönen Kuchen wird geteilt. Frankreich hat sich auf den Komoren oft durch putschende Söldnerkommandos bemerkbar gemacht, sie je nach den Umständen benutzt, geduldet oder vertrieben. Von Mayotte und Réunion aus könnte Frankreich tun, was es sagt: Wissen und Know-how exportieren, für Infrastruktur sorgen, Investitionen und Partnerschaften anregen. Austausch. Kooperation. Den Menschen auf Anjouan gute Gründe geben, auf ihrer Insel zu bleiben.

Das ehemalige Mutterland stiehlt lieber alles, was noch irgendwie verwertbar ist, liefert die Studenten islamistischen Universitäten und die anderen einem ungewissen Schicksal auf sehr, sehr leichten Booten aus.

dt. Grete Osterwald

* Dozent am Conservatoire national des arts et métiers (CNAM), Paris.

Fußnoten: 1 Nach dem Sonderbericht des UN-Entwicklungsprogramms verfügen 62 Prozent der vorwiegend ländlichen Einwohner über weniger als 300 Dollar pro Kopf und Jahr, gegenüber 41 Prozent auf Grand Comore. Dieser Bericht mit dem Titel „Die Komoren: Dauerhafte menschliche Entwicklung und Beseitigung der Armut“ stammt von 1997, aus der Zeit vor der Depression. 2 Das aus den Blüten des Ylang-Ylang-Baums gewonnene ätherische Öl verbreitet einen süßen, intensiven Duft. 3 Observatoire de l‘émigration clandestine anjouanaise (oeca_com@hotmail.com). Eine andere NGO, die Association de défense des Droits de l‘Homme, schätzt die Zahl der Toten seit der Einführung der Visumpflicht durch die Regierung Edouard Balladur 1994 auf 4 000. 4 Dominique Carpentier, „In den Küchen das Alten Hafens von Marseille“, Le Monde diplomatique, Nov. 2000. 5 Le Quotidien de la Réunion, 26. Oktober 2001.

Le Monde diplomatique vom 12.04.2002, von CHRISTOPHE WARGNY