Die Schatten der Globalisierung
Joseph E. Stiglitz dürfte der erste Wirtschaftswissenschaftler sein, der den Nobelpreis erhielt, obwohl er in seiner Zunft ein echter Dissident ist. Mit seinen wissenschaftlichen Publikationen zur Informationsökonomie hat er eines der zentralen Dogmen der neoliberalen Lehre erschüttert: dass die Marktteilnehmer unter gleichen Voraussetzungen agieren und der Preismechanismus einen „rationalen“ Interessenausgleich garantiere. Als Chefökonom der Weltbank hat er versucht, der neoliberalen Ausrichtung auch praktisch entgegenzuwirken, in deren Namen vielen Entwicklungsländern nachgerade selbstmörderische Konzepte aufgezwungen wurden. Schon 1990 hatte der „Washington Consensus“ den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank auf die Linie der US-Regierung festgelegt. Als Stiglitz diesen so genannten Konsens öffentlich kritisierte, musste er Anfang 2000 auf Druck Washingtons seinen Posten räumen.
Von JOSEPH E. STIGLITZ *
ALS ich am 13. Februar 1997, meinem ersten Arbeitstag als Chefökonom und Senior Vice President der Weltbank, das moderne, glänzende Hauptgebäude in der 19. Straße in Washington, D. C., betrat, war das Motto dieser Institution das erste, was mir auffiel: Unser Traum ist eine Welt ohne Armut. Im Zentrum des dreizehngeschossigen Atriums steht die Statue eines Jungen, der einen alten, blinden Mann führt – ein Denkmal, das an die Ausrottung der Flussblindheit (Onchozerkose) erinnern soll. Bevor die Weltbank, die Weltgesundheitsorganisation und andere ihre Anstrengungen zur Bekämpfung der Krankheit bündelten, erblindeten in Afrika jährlich Tausende an den Folgen dieser verhütbaren Erkrankung. Das Motto und die Statue sind gleichsam eine bittere Note in einem ansonsten luxuriösen Umfeld. Auf der anderen Straßenseite steht ein weiteres glänzendes Monument öffentlichen Reichtums, der Hauptsitz des Internationalen Währungsfonds. Das marmorne Atrium im Innern, das reich mit Pflanzen dekoriert ist, soll Finanzminister aus der ganzen Welt, die dem IWF einen Besuch abstatten, daran erinnern, dass sie sich hier im Zentrum von Reichtum und Macht befinden.
Diese beiden Institutionen, die in der Öffentlichkeit oft miteinander verwechselt werden, weisen markante Gegensätze auf in Kultur, Stil und Auftrag: Die eine widmet sich der Armutsbekämpfung, die andere der Wahrung der weltwirtschaftlichen Stabilität. Die eine entsendet Teams von Wirtschaftswissenschaftlern, die längere Zeit in dem Gastland leben, die andere schickt ihre Mitarbeiter auf dreiwöchige Stippvisiten, auf denen sie in Finanzministerien und Zentralbanken über Zahlen brüten und es sich ansonsten in Fünf-Sterne-Hotels bequem machen. Dieser Unterschied ist mehr als symbolischer Natur: Man kann ein Land nur dann kennen und lieben lernen, wenn man buchstäblich aufs Land geht. Arbeitslosigkeit ist keine ökonomisch-statistische „nackte Zahl“, die gleichsam den Kollateralschaden des Kampfs gegen Inflation oder des Bemühens, die Kredite westlicher Banken zurückzuzahlen, quantifiziert. Die Arbeitslosen sind Menschen mit Familien, deren Leben von der Wirtschaftspolitik beeinflusst und manchmal vernichtet wird, die ausländische Institutionen empfehlen beziehungsweise der IWF faktisch aufoktroyiert. Die moderne High-Tech-Kriegsführung ist darauf ausgerichtet, physischen Kontakt zum Feind zu vermeiden: Wenn man Bomben aus einer Höhe von 10 000 Metern abwirft, „spürt“ man nicht, was man tut. Bei der modernen Wirtschaftssteuerung verhält es sich ganz ähnlich. Von seinem Luxushotel aus kann man gefühllos Konditionen auferlegen, über die man zweimal nachdächte, würde man die Menschen kennen, deren Leben man zerstört. Die Statistik bestätigt, was diejenigen, die außerhalb der Hauptstadt umherreisen, in den Dörfern Afrikas, Nepals, Mindanaos und Äthiopiens sehen: Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, und die Zahl der Menschen, die in völliger Armut – von weniger als einem Dollar pro Tag – leben, hat zugenommen. […]
Über Nacht ändern sich Einstellungen in der Ersten Welt genauso wenig wie in der Dritten Welt. Als die Kolonialherren die Entwicklungsländer in die kaum vorbereitete staatliche Unabhängigkeit entließen, änderten die Menschen dort ihre Meinung über ihre einstigen Gebieter nicht, zumal diese weiterhin glaubten, sie wüssten alles besser. Sie drängten die neuen Regierungen dieser Länder, sie mögen ihnen vertrauen und ihren Empfehlungen folgen, ganz gleich, wie viel Not sie über ihre Bürger brächten. Nachdem in der Vergangenheit so viele Versprechen gebrochen und die Menschen so oft hintergangen worden waren, war die Vertrauensgrundlage zerstört. Man nahm die angebotenen Ratschläge wegen der damit verbundenen Gelder an, nicht aus Überzeugung. Es gab einige von diesem kolonialen Erbe unbelastete Industrieländer – vor allem die USA und Skandinavien. Doch auch das Ansehen der USA hatte gelitten, nicht so sehr wegen der Expansionsbestrebungen, die gleichsam ihre „offenkundige Berufung“ waren, als durch den Kalten Krieg, in dem, vor allem in Lateinamerika, für den allumfassenden Kampf gegen den Kommunismus demokratische Prinzipien über Bord geworfen wurden. […]
Am Abend vor meinem Dienstantritt bei der Weltbank hielt ich meine letzte Pressekonferenz als Vorsitzender des Wirtschaftssachverständigenrats von Präsident Clinton ab. Nachdem sich die US-Binnenwirtschaft so gut steuern ließ, lag meines Erachtens die größte Herausforderung für einen Volkswirt in dem wachsenden Problem der Weltarmut. Was konnten wir dagegen tun, dass weltweit 1,2. Milliarden Menschen mit weniger als einem Dollar pro Tag und weitere 2,8 Milliarden Menschen mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen müssen? Was konnte ich tun, um den Traum von einer Welt ohne Armut Wirklichkeit werden zu lassen? Wie konnte ich einen Beitrag zur Verwirklichung des bescheideneren Traums einer Welt mit weniger Armut leisten?
Diese Aufgabe beinhaltete für mich dreierlei: erstens, zu überlegen, welche Strategien zur Ankurbelung des Wachstums und zur Bekämpfung der Armut am erfolgversprechendsten wären; zweitens, mit Regierungen in den Entwicklungsländern zusammenzuarbeiten, um diese Strategien umzusetzen, und drittens, in den Industrieländern alles in meiner Macht Stehende zu tun, um die Interessen und Anliegen der Dritten Welt zu fördern, ganz gleich ob es darum ging, auf die Öffnung ihrer Märkte zu drängen oder effektivere Hilfe zu leisten. Ich wusste, dass diese Aufgaben schwierig waren, aber ich hätte mir nie träumen lassen, dass eines der größten Hindernisse für die Entwicklungsländer vom Menschen geschaffen und gänzlich unnötig war und direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag – bei unserer „Schwesterinstitution“, dem IWF. Obgleich ich erwartet hatte, dass nicht alle Verantwortlichen in den internationalen Finanzinstitutionen oder den Regierungen, die sie unterstützten, sich dem Ziel, die Armut zu beseitigen, verpflichtet fühlten, erwartete ich immerhin die Bereitschaft, eine offene Diskussion zu führen – über Strategien, die offenkundig in so vielen Bereichen versagten und insbesondere die Armen im Stich ließen.
Nach vier Jahren in Washington hatte ich mich an die seltsame Welt der Bürokraten und Politiker gewöhnt. Doch erst als ich im März 1997, knapp einen Monat nach meinem Dienstantritt, nach Äthiopien reiste, bin ich voll und ganz in die erstaunliche Welt der IWF-Politik und -Arithmetik eingetaucht. Das Pro-Kopf-Einkommen betrug in Äthiopien 110 Dollar pro Jahr, und das Land war durch eine Serie von Dürren und Hungersnöten, die zwei Millionen Menschen das Leben gekostet hatten, schwer angeschlagen. Ich hatte eine Unterredung mit Ministerpräsident Meles Zenawi, einem Mann, der einen 17-jährigen Guerillakrieg gegen das blutige marxistische Regime von Mengistu Haile Mariam geführt hatte. Zenawis Truppen siegten 1991, und anschließend begann die Regierung mit der harten Arbeit, das Land wiederaufzubauen. Zenawi hatte zunächst Medizin und später Wirtschaftswissenschaften an der Open University in England studiert, weil er wusste, dass das einheimische Wirtschaftssystem grundlegend verändert werden musste, wenn das Land seine jahrhundertelange Armut überwinden wollte, und er zeigte ein Wissen, ja eine Kreativität in ökonomischen Fragen, die all meine Studenten beschämt hätte. […]
Zenawi verband diese intellektuellen Qualitäten mit persönlicher Integrität: Niemand bezweifelte seine Lauterkeit, und gegen Mitglieder seiner Regierung wurden kaum Korruptionsvorwürfe laut. […] Als ich 1997 nach Äthiopien kam, hatte Zenawi einen erbitterten Disput mit dem IWF, und der Währungsfonds hatte sein Kreditvergabeprogramm ausgesetzt. Die makroökonomischen „Ergebnisse“ – auf die sich der IWF konzentrieren sollte – hätten nicht besser sein können. Es gab keine Inflation, und die Preise gingen sogar zurück. Die Wirtschaftsleistung war ständig gestiegen, seitdem es Zenawi gelungen war, Mengistu abzusetzen.1 Meles Zenawi bewies, dass selbst ein armes afrikanisches Land bei der richtigen Politik ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum erreichen konnte. Nach Jahren des Kriegs und Wiederaufbaus kehrte die internationale Hilfe allmählich in das Land zurück. Doch Zenawi hatte Probleme mit dem IWF. Es ging nicht nur um 127 Millionen Dollar, die der IWF im Rahmen seiner so genannten „Erweiterten Strukturanpassungsfazilität“ (ESAF) bereitstellte (ein Kreditvergabeprogramm, das Kredite an sehr arme Länder zu äußerst niedrigen Zinsen vorsah), sondern auch um Gelder der Weltbank. Der IWF spielt eine herausragende Rolle bei der internationalen Finanzhilfe. Er soll die makroökonomische Lage in jedem Empfängerland überprüfen und sicherstellen, dass das Land mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln auskommt. Andernfalls kommt es zwangsläufig zu Schwierigkeiten. Kurzfristig kann ein Land über seine Verhältnisse leben, indem es sich verschuldet, doch einmal kommt der Tag, an dem es die Zeche zahlen muss, und die Krise ist da. Das besondere Augenmerk des IWF gilt der Inflation. Staaten, in denen die öffentliche Hand mehr ausgibt, als sie in Form von Steuern und Auslandshilfe einnimmt, treiben ihre Inflationsraten in die Höhe, vor allem, wenn sie ihre Haushaltsdefizite dadurch finanzieren, dass sie Geld drucken.
[…] Für die meisten Volkswirte ist eine niedrige Inflation kein Zweck an sich, sondern ein Mittel zum Zweck: Inflation ist deshalb verpönt, weil eine übermäßig hohe Inflationsrate oftmals zu niedrigem Wachstum führt, das seinerseits hohe Arbeitslosigkeit verursacht. Doch der IWF scheint oft Mittel und Zweck zu verwechseln und verliert dabei aus dem Blick, was wirklich von Belang ist. Die Kreditwürdigkeit eines Landes wie Argentinien wird mit „A“ (also gut bis befriedigend) bewertet, solange sein Haushalt ausgeglichen und die Inflation unter Kontrolle zu sein scheint, obwohl es seit Jahren eine zweistellige Arbeitslosenrate aufweist!
Wenn ein Land gewisse Mindestanforderungen nicht erfüllt, setzt der IWF seine Hilfe aus; und meist folgen andere Kreditgeber seinem Beispiel. Aus verständlichen Gründen gewähren Weltbank und IWF nur solchen Ländern Kredite, die gute makroökonomische Rahmenbedingungen aufweisen. […]
Dies traf auf Äthiopien zu, und zudem hatte die Weltbank direkte Belege für die Kompetenz der Regierung und ihr Engagement für die Armen. Äthiopien hatte eine Entwicklungsstrategie für seine ländlichen Regionen erarbeitet, die sich auf die Armen und vor allem jene 85 Prozent der Bevölkerung konzentrierte, die im landwirtschaftlichen Sektor erwerbstätig waren. Die Regierung hatte die Militärausgaben drastisch gekürzt – obwohl sie selbst mit militärischen Mitteln an die Macht gelangt war –, weil sie wusste, dass Gelder, die für Waffenkäufe verwendet wurden, nicht für die Bekämpfung der Armut zur Verfügung standen. Gerade eine solche Regierung verdiente doch wohl die Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft. Doch der IWF hatte trotz der guten gesamtwirtschaftlichen Daten sein Beistandsprogramm für Äthiopien mit der Begründung ausgesetzt, Äthiopiens Haushaltslage gebe Anlass zur Besorgnis.
Die äthiopische Regierung hatte zwei Einnahmequellen – Steuern und Auslandshilfe. Der Haushalt eines Staates ist so lange ausgeglichen, wie die Einnahmen gleich den Ausgaben sind. Wie viele andere Entwicklungsländer bezieht auch Äthiopien einen Großteil seiner Einnahmen aus der Auslandshilfe. Der IWF war in Sorge, dass Äthiopien in Schwierigkeiten käme, wenn diese Quelle einmal versiegte. Daher argumentierte er, Äthiopiens Haushaltslage könne nur dann als solide beurteilt werden, wenn die Ausgaben auf das Steueraufkommen begrenzt würden.
Die Logik des IWF führt zu der problematischen Folgerung, dass kein Land die Auslandshilfe, die es bekommt, in Entwicklungsprojekte investieren dürfte. Wenn etwa Schweden Äthiopien Gelder für den Bau von Schulen zukommen ließe, würde diese Logik Äthiopien dazu zwingen, mit dem Geld seine Währungsreserven aufzustocken. […] Aber internationale Geber leisten ihre Hilfe nicht zu diesem Zweck. In Äthiopien arbeiteten die Geldgeber unabhängig vom IWF. In diesem Fall wollten sie, wie die äthiopische Regierung, neue Schulen und Krankenhäuser bauen. Meles Zenawi formulierte es eindringlicher: Er sagte mir, er hätte nicht 17 Jahre so hart gekämpft, um sich von einem internationalen Bürokraten sagen lassen zu müssen, er dürfe keine Schulen und Kliniken für sein Volk bauen, nachdem er endlich internationale Geldgeber dafür gewonnen hatte. Die Sichtweise des IWF wurzelte nicht in grundsätzlichen Bedenken hinsichtlich der Nachhaltigkeit des Projekts. Manchmal hatten Länder mit den Hilfsgeldern Schulen oder Kliniken errichtet. Als die Hilfszahlungen dann versiegten, fehlte es am nötigen Geld, um diese Einrichtungen zu unterhalten. Die Geldgeber hatten dieses Problem erkannt und bei der Konzipierung ihrer Hilfsprogramme für Äthiopien und andere Länder berücksichtigt.
Doch was der IWF im Falle Äthiopiens geltend machte, ging über diese Bedenken hinaus. Der Währungsfonds behauptete, die internationale Hilfe sei zu unsicher, als dass man sich darauf verlassen könne. Mir erschien der Standpunkt des IWF als völlig haltlos, und dies nicht nur wegen seiner absurden Folgen. Ich wusste, dass die Entwicklungshilfe oftmals viel beständiger floss als die Steuereinnahmen, die stark mit der wirtschaftlichen Lage schwanken können.
Als ich nach Washington zurückkehrte, bat ich meine Mitarbeiter, die Statistiken zu prüfen, und sie bestätigten, dass die internationalen Hilfszahlungen zuverlässiger waren als die Steuereinnahmen. Folgt man der Argumentation des IWF über stabile Einnahmequellen, dann hätten Äthiopien und andere Entwicklungsländer die Auslandshilfe, nicht aber die Steuereinnahmen in ihre Haushaltspläne einbeziehen müssen. Und wenn weder Steuern noch Auslandshilfe auf der Einnahmeseite der Etats verbucht werden dürften, dann wäre jedes Land in schlechter Verfassung.
Doch die Argumentation des IWF hat noch größere Schwachstellen. Die angemessene Antwort auf die Schwankungsanfälligkeit der Einnahmen ist die flexible Gestaltung der Ausgaben. Wenn die Einnahmen, aus beliebiger Quelle, rückläufig sind, dann muss die Regierung bereit sein, die Ausgaben zu kürzen. Doch bei den Formen von Hilfe, die einen Großteil dessen ausmachen, was arme Länder wie Äthiopien erhalten, gibt es eine eingebaute Flexibilität: Wenn das Land kein Geld für eine zusätzliche Schule bekommt, baut es diese Schule einfach nicht. […]
Neben der Kontroverse über die Frage, wie die Auslandshilfe zu behandeln sei, wurde ich auch gleich noch in einen zweiten Disput zwischen IWF und Äthiopien hineingezogen, der um die vorzeitige Rückzahlung von Krediten entbrannte. Äthiopien hatte einen amerikanischen Bankkredit mit einem Teil seiner Währungsreserven vorzeitig zurückgezahlt. Die Transaktion war ökonomisch absolut sinnvoll. Trotz der Qualität des Sicherungsgegenstands (eines Flugzeugs) bezahlte Äthiopien für seinen Kredit einen sehr viel höheren Zins, als es auf seine Währungsreserven erhielt. Ich hätte der Regierung ebenfalls geraten, den Kredit vorzeitig zu tilgen, besonders da die Regierung, falls sie später zusätzliche Mittel benötigte, vermutlich ohne weiteres einen mit dem Flugzeug abgesicherten Kredit erhielte. Doch die Vereinigten Staaten und der IWF lehnten eine vorzeitige Rückzahlung ab. Sie beanstandeten nicht die Logik der Strategie, sondern die Tatsache, dass Äthiopien ohne vorherige Zustimmung des IWF aktiv geworden war. Doch weshalb sollte ein souveränes Land für jede Initiative die Erlaubnis des IWF einholen? […]
Neue Form des Kolonialismus
JAHRELANG waren die Mantras im Hauptsitz des IWF in Washington Rechenschaftspflicht und erfolgsbezogene Beurteilung gewesen. Die Erfolge der weitgehend selbstbestimmten Politik Äthiopiens hätten davon überzeugen müssen, dass das Land sein Schicksal selbst meistern konnte. Doch der IWF vertrat den Standpunkt, dass Länder, die Gelder von ihm bekamen, verpflichtet seien, alle relevanten Informationen an ihn weiterzuleiten; wer dieser Erwartung nicht nachkam, musste mit der Einstellung des Hilfsprogramms rechnen, wie vernünftig die getroffene Maßnahme auch war. Äthiopien empfand diesen Übergriff als eine neue Form des Kolonialismus, während es sich für den IWF schlicht um ein Standardverfahren handelte.
Es gab weitere strittige Punkte in der Beziehung zwischen IWF und Äthiopien über die Liberalisierung des äthiopischen Finanzmarktes. Funktionierende Kapitalmärkte sind das Gütezeichen des Kapitalismus, doch nirgends ist die Kluft zwischen Industrie- und Entwicklungsländern größer als bei ihren Kapitalmärkten. Das gesamte Bankensystem Äthiopiens ist etwas kleiner als das von Bethesda, Maryland, einem Vorort von Washington mit etwa 55 000 Einwohnern. Der IWF verlangte, dass Äthiopien nicht nur seine Finanzmärkte für die westliche Konkurrenz öffnen, sondern auch seine größte Bank in mehrere Teile zerschlagen sollte. In einer Welt, in der gewaltige amerikanische Finanzkonzerne wie Citybank und Travelers oder Manufactures Hanover und Chemical erklären, sie müssten fusionieren, um im Wettbewerb bestehen zu können, hat eine Bank von der Größe der North East Bethesda-Sparkasse keine Chance, sich gegen einen globalen Giganten wie Citibank zu behaupten. […] Der IWF wollte mehr tun, als bloß das Bankensystem für die ausländische Konkurrenz zu öffnen. Er wollte das Finanzsystem durch den Aufbau eines Auktionsmarkts für Schatzwechsel des äthiopischen Staates „stärken“ – eine Reform, die, mochte sie auch in vielen Ländern wünschenswert sein, dem Entwicklungsniveau des Landes völlig unangemessen war. Zudem forderte der IWF, dass Äthiopien seinen Finanzmarkt „liberalisiert“, das heißt, die Höhe der Zinsen vom freien Spiel der Marktkräfte bestimmen ließ – etwas, das die Vereinigten Staaten und Westeuropa erst nach 1970 taten, als ihre Märkte und die erforderlichen rechtlichen Rahmenbedingungen sehr viel weiter entwickelt waren.
Der IWF verwechselte Mittel und Zweck. Eines der Hauptziele eines funktionstüchtigen Bankensystems ist die Bereitstellung von Krediten zu günstigen Konditionen für diejenigen, die ihre Schulden zurückzahlen können. In einem agrarwirtschaftlich geprägten Land wie Äthiopien ist es wichtig, dass tüchtige Bauern für den Kauf von Saatgut und Dünger Kredite zu annehmbaren Konditionen erhalten können.
Das äthiopische Bankensystem leistete dies auf recht effiziente Weise. Tatsächlich war die Differenz zwischen Sollzinsen und Habenzinsen sehr viel geringer als in anderen Entwicklungsländern, die dem Rat des IWF gefolgt waren. Dennoch war der Währungsfonds unzufrieden, weil seiner Auffassung nach die Zinsen im freien Spiel internationaler Marktkräfte festgelegt werden sollen, unabhängig davon, ob diese Märkte wettbewerbsfähig waren.
Für den IWF war ein liberalisiertes Finanzsystem ein Ziel an sich. Aufgrund seiner naiven Marktgläubigkeit erwartete er, dass ein liberalisiertes Finanzsystem zu sinkenden Kreditzinsen und damit zur Ausweitung des Kreditangebots führen würde. Der IWF war so fest von seiner dogmatischen Position überzeugt, dass er sich kaum um praktische Erfahrungen scherte. Äthiopien widerstand aus gutem Grund der Forderung des IWF, sein Bankensystem zu „öffnen“. Die Regierung hatte gesehen, was geschehen war, als eines der ostafrikanischen Nachbarländer den Forderungen des IWF nachgekommen war. Im festen Glauben, der Wettbewerb zwischen den Banken würde Zinssenkungen auslösen, hatte der IWF darauf bestanden, dass das Land seinen Finanzmarkt „liberalisiert“. Das Ergebnis war katastrophal: Die Zinsen stiegen, und Landwirte, die immer stark von Krediten abhängig sind, wurden schwer getroffen. Die äthiopische Regierung war daher verständlicherweise auf der Hut.
Da sie den Lebensstandard ihrer Bürger im landwirtschaftlichen Sektor verbessern wollte, befürchtete sie, die Liberalisierung würde sich verheerend auf die armen Bauern auswirken, die sich kein Saatgut und keinen Dünger mehr leisten könnten, da sie an keine billigen Kredite mehr kämen. Äthiopien ist ein Land, das immer wieder von Dürren heimgesucht wird, die schwere Hungersnöte auslösen. Seine politischen Führer wollten nicht alles noch schlimmer machen. Sie befürchteten, dass die Einkommen der Bauern stark sinken würden, wenn sie die Empfehlung des IWF befolgten, was die sowieso schon düstere Lage weiter verschlimmern würde. Als die Äthiopier den Forderungen des IWF nicht nachkamen, behauptete dieser, die Regierung meine es mit ihren Reformen nicht ernst, und setzte sein Hilfsprogramm aus. Glücklicherweise gelang es mir und anderen Volkswirten der Weltbank, deren Verwaltungsspitze davon zu überzeugen, dass die Gewährung weiterer Kredite an Äthiopien ökonomisch sinnvoll ist. […] Das Volumen der Weltbank-Kredite verdreifachte sich, auch wenn es Monate dauerte, bis der IWF endlich seinen Widerstand aufgab. […]
Die Hilfe wurde wieder aufgenommen, und ich würde gerne glauben, dass meine Bemühungen zu einer Lösung führten, die langfristig nicht nur für Äthiopien, sondern auch für die Weltbank und den IWF vorteilhaft ist. Ich musste jedoch erfahren, dass es eines enormen Aufwand an Zeit und Kraft bedarf, um in einer internationalen Organisation etwas zu verändern. Solche Organisationen sind undurchsichtig, und es gelangt nicht nur viel zu wenig Information von innen nach außen, sondern vermutlich noch weniger Information von außen nach innen. […]
Die scharfe Kontroverse über die Vergabe von Krediten an Äthiopien öffnete mir die Augen über die Arbeitsweise des IWF. Es gab eindeutige Beweise dafür, dass sich der IWF bezüglich der Liberalisierung des Finanzmarkts und der gesamtwirtschaftlichen Lage in Äthiopien irrte, dennoch mussten die Ökonomen des IWF ihren Willen durchsetzen. Sie suchten nicht den Rat externer Fachleute, auch wenn diese hervorragend informiert und völlig unparteiisch waren. Inhaltsfragen wurden zu Verfahrensfragen. […] Die Liberalisierung des Finanzmarkts – die Frage, wie dies in einem Land mit dem Entwicklungsniveau Äthiopiens am besten zu bewerkstelligen sei – war eine Inhaltsfrage, und Experten hätten um ihre Meinung gefragt werden können. Die Tatsache, dass keine externen Fachleute hinzugezogen wurden, um an der Schlichtung dieser Streitfrage mitzuwirken, steht völlig in Einklang mit dem Stil des IWF, sich selbst zum Monopolanbieter „verlässlichen“ Rats zu stilisieren. Selbst Angelegenheiten wie die Rückzahlung des Kredits – obgleich eigentlich keine Sache, in die sich der IWF überhaupt hätte einmischen sollen, solange Äthiopiens Vorgehen seine Zahlungsfähigkeit verbesserte und nicht verschlechterte – hätten zwecks Prüfung ihrer „Angemessenheit“ an externe Fachleute verwiesen werden können. Doch das wäre dem IWF ein Dorn im Auge gewesen.
Da die Entscheidungsfindung beim IWF größtenteils hinter verschlossenen Türen abläuft – die gerade angeschnittenen Fragen wurden praktisch nicht öffentlich diskutiert –, nährt er den Verdacht, dass Machtpolitik, Sonderinteressen oder andere geheime Gründe, die nichts mit seinem Mandat und seinen expliziten Zielen zu tun haben, seine institutionelle Politik und Handlungsweise beeinflussen. Für eine mittelgroße Institution wie den IWF ist es sehr schwierig, über jede Volkswirtschaft der Welt gründlich Bescheid zu wissen. Einige der besten Volkswirte des IWF sind mit der Beobachtung der US-Wirtschaft betraut, doch als ich dem Sachverständigenrat des US-Präsidenten vorstand, hatte ich wiederholt den Eindruck, das begrenzte Verständnis des IWF von der US-Wirtschaft habe ihn verfehlte wirtschaftspolitische Empfehlungen für Amerika formulieren lassen. So meinten IWF-Experten beispielsweise, die Inflation in den Vereinigten Staaten würde zunehmen, sobald die Arbeitslosigkeit unter sechs Prozent falle.
Die Modelle, die wir im Sachverständigenrat benutzten, sagten uns, dass sie sich irrten, aber sie waren an unserer Meinung nicht sonderlich interessiert. Wir hatten Recht, und der IWF hatte Unrecht: Die Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten fiel auf unter vier Prozent, und die Inflation stieg dennoch nicht an. Ausgehend von ihrer fehlerhaften Analyse der US-Wirtschaft, gaben die Volkswirte des IWF eine falsche wirtschaftspolitische Empfehlung: Die Notenbank solle die Leitzinsen anheben. Gott sei Dank hat sie die Empfehlung des IWF nicht beachtet. Doch den IWF stört sein mangelndes Detailwissen nicht weiter, verfährt er doch nach einer Einheitsmethode.
Die Schwierigkeiten dieser Vorgehensweise zeigen sich besonders deutlich, wenn er sich mit den volkswirtschaftlichen Herausforderungen der Entwicklungs- und Transformationsländer befasst. Die Institution ist in Entwicklungsfragen nicht besonders kompetent – ihr ursprünglicher Auftrag lautete, die Stabilität der Weltwirtschaft zu unterstützen, nicht, die Armut in den Entwicklungsländern zu bekämpfen –, und doch bezieht sie eindeutig Stellung zu Entwicklungsfragen. Entwicklungsfragen sind kompliziert; in vielerlei Hinsicht müssen Entwicklungsländer sehr viel schwierigere Probleme meistern als Industrieländer. Dies hängt damit zusammen, dass in vielen Entwicklungsländern Märkte fehlen oder nur mangelhaft funktionieren. Es gibt eine Fülle von Informationsproblemen, und kulturelle Gepflogenheiten wirken sich oftmals nachhaltig auf das ökonomische Verhalten aus. Dennoch werden Makroökonomen durch ihre Ausbildung nur schlecht auf die Probleme vorbereitet, denen sie sich stellen müssen. An einigen der Hochschulen, an denen der IWF regelmäßig neue Mitarbeiter rekrutiert, stehen Modelle auf dem Lehrplan, in denen keinerlei Arbeitslosigkeit vorkommt. Schließlich ist im Standardmodell des vollkommenen Wettbewerbs – das Modell, das dem marktwirtschaftlichen „Fundamentalismus“ des IWF zugrunde liegt – die Nachfrage immer gleich dem Angebot. Wenn aber die Nachfrage nach Arbeitskräften gleich dem Angebot ist, gibt es keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit. Wer nicht arbeitet, hat sich also offenkundig entschlossen, nicht zu arbeiten. […]
Diese altmodischen Modelle sorgen heute an den Universitäten nur noch für Erheiterung; denn sie sind besonders schlecht geeignet, um die Probleme eines Landes wie Südafrika zu verstehen, dem seit Ende der Apartheid eine Arbeitslosenquote von über 25 Prozent zu schaffen macht. Doch selbst wenn der typische Volkswirt beim IWF durch seine Ausbildung besser auf die Probleme der Entwicklungsländer vorbereitet wäre, ist es unwahrscheinlich, dass eine Abordnung des IWF, die sich drei Wochen lang in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba oder der Hauptstadt eines anderen Entwicklungslands aufhielte, tatsächlich wirtschaftspolitische Empfehlungen erarbeiten könnte, die auf das Land zugeschnitten wären oder mit denen es auch nur etwas anfangen könnte. Hervorragend ausgebildete, erstklassige Volkswirte, die bereits in dem Land sind, ausgezeichnet über die Lage vor Ort Bescheid wissen und täglich an der Lösung der Probleme des Landes arbeiten, können viel eher eine sachgerechte Strategie erarbeiten.
Der Standpunkt des IWF war von einer ideologischen Anschauung – der reinen marktwirtschaftlichen Lehre – geprägt, die die besondere Lage und die akuten Probleme des Landes weitgehend oder völlig außer Betracht ließ. Die Volkswirte des IWF konnten die kurzfristigen Auswirkungen ihrer politischen Empfehlungen auf das Land ignorieren, denn sie begnügten sich mit dem Glauben, dass das Land langfristig besser dastehen würde; etwaige negative Auswirkungen auf kurze Sicht waren gleichsam die läuternden Schmerzen, die notwendigerweise zu dem Prozess dazugehörten. […] Intelligent konzipierte politische Programme können oftmals einen Großteil der Schmerzen vermeiden, und einige Formen der Not – das Elend beispielsweise, das durch plötzliche Kürzungen von Nahrungsmittelsubventionen ausgelöst wird, die zu Ausschreitungen, städtischer Gewaltkriminalität und zur Auflösung des sozialen Beziehungsgefüges führen – sind kontraproduktiv. Der IWF hatte viele Verantwortliche davon überzeugt, dass seine ideologisch motivierten Maßnahmen unverzichtbar sind, wenn Länder langfristig erfolgreich sein wollen. Wirtschaftswissenschaftler betonen die Bedeutung knapper Ressourcen, und der IWF behauptet, er sei lediglich der Überbringer dieser Botschaft: Länder können nicht dauerhaft über ihre Verhältnisse leben. Natürlich braucht man keine hochkarätig besetzte Finanzinstitution, um einem Land zu sagen, es dürfe nicht mehr ausgeben, als es einnimmt. Doch die Reformprogramme des IWF gehen weit darüber hinaus.
Es gibt Alternativen zu den IWF-Programmen, die der Bevölkerung ein vertretbares Maß an Opfern abverlangen und die ohne marktwirtschaftlichen Fundamentalismus positive Ergebnisse erzielten. Ein gutes Beispiel ist das 3 700 Kilometer südlich von Äthiopien gelegene Botsuana, ein kleines Land mit 1,5 Millionen Einwohnern, das seit seiner Unabhängigkeit eine stabile Demokratie ist. Als Botsuana 1996 seine völlige staatliche Unabhängigkeit erlangte, war es wie Äthiopien und die meisten anderen Länder Afrikas ein extrem armes Land mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 100 Dollar. Es war überwiegend agrarwirtschaftlich geprägt, litt an Wassermangel und hatte eine schlechte Infrastruktur. Dennoch ist Botsuana ein Paradebeispiel für gelungene Entwicklung. Obgleich das Land heute unter den verheerenden Auswirkungen von Aids leidet, wuchs seine Wirtschaft zwischen 1961 und 1997 im Schnitt um zehn Prozent pro Jahr.
Botsuana profitierte von seinen Diamantenvorkommen, doch Länder wie die Demokratische Republik Kongo, Nigeria und Sierra Leone besitzen ebenfalls reiche Rohstoffvorkommen. In diesen Ländern förderten die Einnahmen aus dem Abbau dieser Vorkommen Korruption und brachten privilegierte Eliten hervor, die erbittert um die Kontrolle über die Bodenschätze des jeweiligen Landes rangen. Botsuanas Erfolg basierte auf seiner Fähigkeit, einen politischen Konsens zu wahren, der auf einem breiten Willen zu nationaler Einheit fußte. Dieser politische Konsens, der notwendig ist für jeden tragfähigen Gesellschaftsvertrag zwischen Regierung und Regierten, war von der Regierung gemeinsam mit ausländischen Beratern, von denen viele im Auftrag der Ford Foundation tätig waren, sorgfältig erarbeitet worden. […]
Als Botsuana vor zwanzig Jahren eine Wirtschaftskrise durchmachte, geriet dieser grundlegende Konsens in Gefahr. Eine Dürre bedrohte die Existenzgrundlage der vielen Menschen, die sich in der Viehzucht verdingten, und Probleme in der Diamantenindustrie hatten den Staatshaushalt und seine Devisenschätze schwer belastet. Botsuana erlebte genau jene Form von Liquiditätskrise, zu deren Bekämpfung der IWF ursprünglich gegründet worden war – eine Krise, die durch öffentliche Defizitfinanzierung zur Konjunkturankurbelung abgemildert werden konnte. Doch auch wenn dies Keynes‘ Absicht gewesen sein mochte, als er sich für die Gründung des IWF stark machte, betrachtet sich die Institution heute nicht als ein Defizitfinanzier, der die Vollbeschäftigung in Volkswirtschaften gewährleisten sollte. Vielmehr hat er sich den prä-keynesianischen Standpunkt zu Eigen gemacht, wonach der Staat in einem Konjunkturabschwung eine konsequente Sparpolitik betreiben soll, und so rückt der IWF nur dann Mittel heraus, wenn das Schuldnerland seine wirtschaftspolitischen Rezepte übernimmt, die fast immer eine kontraktive Fiskalpolitik vorsehen, die Rezessionen und Schlimmeres hervorruft. Im Fall von Botsuana verschrieb der IWF seine übliche Medizin und riet Botsuana, seine Währungsreserven nicht anzutasten. Die Regierung und die Berater des Landes hielten diese Empfehlung für falsch. […] Offenkundig verkannte der IWF nicht nur den Stellenwert eines breiten gesellschaftlichen Konsenses, sondern auch die Funktion von Währungsreserven!
Zum Glück lehnte die Regierung die „Hilfe“ und den Rat des IWF ab. Sie war nicht bereit, die hart errungene soziale und politische Stabilität für den unsicheren Nutzen der IWF-Mittel aufs Spiel zu setzen. Botsuana schnallte den Gürtel enger – wobei jeder sein Scherflein beisteuerte – und überwand so die Krise, wenn auch unter größeren Entbehrungen, als es der Fall gewesen wäre, wenn der IWF seine Hilfe zu tragbareren Konditionen angeboten hätte. Seither hat sich Botsuana nicht mehr Hilfe suchend an den IWF gewandt. […] Aber der IWF interessiert sich nicht sonderlich für die Meinungen seiner „Klientenländer“ zu solchen Fragen wie Entwicklungsstrategie oder fiskalische Austerität. Allzu oft hat sich der IWF gegenüber den Entwicklungsländem wie ein kleiner Kolonialherrscher aufgeführt. Ein Foto kann mehr sagen als tausend Worte, und ein einziges Bild, das 1998 aufgenommen und auf der ganzen Welt verbreitet wurde, hat sich in das Bewusstsein von Millionen eingeprägt, vor allem in den ehemaligen Kolonien. Der geschäftsführende Direktor des IWF Michael Camdessus, ein kleiner, elegant gekleideter vormaliger Beamter des französischen Finanzministeriums, der einst behauptet hatte, Sozialist zu sein, steht mit strenger Miene und gekreuzten Armen hinter dem sitzenden und gedemütigten indonesischen Präsidenten. Der glücklose Präsident wird faktisch dazu gezwungen, als Gegenleistung für Finanzhilfen, die sein Land dringend braucht, die wirtschaftspolltische Souveränität über sein Land an den IWF abzutreten. Die Ironie wollte es, dass ein Großteil der Gelder letztlich nicht Indonesien zugute kam, sondern dazu diente, die Forderungen privater Kreditgeber aus den „Kolonialmächten“ zu befriedigen. […]
Camdessus behauptete, diese Aufnahme sei unfair: Er habe nicht gewusst, dass er fotografiert würde. Aber genau das ist der Punkt – in den alltäglichen Kontakten, fern von Kameras und Reportern, nehmen die Bürokraten des IWF, vom geschäftsführenden Direktor abwärts, genau diese Haltung ein. […]
Die Einstellung des IWF und seines Vorsitzenden waren klar: Die Institution war der Born der Weisheit, der die „rechte Lehre“ kundtat, welche das Begriffsvermögen der Menschen in der Dritten Welt einfach überstieg. Die Botschaft, die vermittelt wurde, war unmissverständlich: Der Fonds konnte allenfalls mit einem Angehörigen der Elite – einem Finanzminister oder Notenbankpräsidenten – einen sinnvollen Dialog führen. Außerhalb dieses erlesenen Zirkels brauchte man seine Zeit nicht mit unnützen Gesprächen zu vergeuden. […]
Die internationalen Institutionen haben damit jene Form direkter Rechenschaftspflicht umgangen, die wir in modernen Demokratien von öffentlichen Institutionen erwarten. Es ist an der Zeit, die Leistungsfähigkeit der internationalen Wirtschaftsinstitutionen zu „bewerten“ und einige ihrer Hilfsprogramme daraufhin zu prüfen, wie effizient sie Wachstum gefördert und Armut verringert haben.
* Das Buch „Die Schatten der Globalisierung“ von Joseph E. Stiglitz ist soeben in der Übersetzung von Thorsten Schmidt im Siedler Verlag (Berlin) erschienen. Wir veröffentlichen einen Auszug mit freundlicher Genehmigung des Verlags.