12.04.2002

Die Schwächen der Anklage

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Die Schwächen der Anklage

MAN wusste, dass der Prozess gegen Milosevic schwierig werden würde, aber wer hätte gedacht, dass bereits sein Auftakt zu einem solchen Debakel für das Internationale Strafgericht (ICTY) in Den Haag werden könnte?“ Die Äußerung von Stojan Ceroviv, Journalist bei der Wochenzeitschrift Vreme1 und in Belgrad als unversöhnlicher Kritiker von Slobodan Milosevic bekannt, kann für die Volksmeinung stehen: Etwa in diesem Sinne, und durchaus mit zufriedenen Untertönen, reagierten die meisten Menschen in der serbischen Hauptstadt nach den ersten Verhandlungstagen eines Verfahrens, das von „historischer“ Bedeutung hätte sein sollen.

Bis zu Beginn des Prozesses am 12. Februar 2002 schienen Slobodan Milosevic und seine juristischen Berater entschlossen zu sein, das Tribunal, dem sie jede Legitimität absprachen, zu boykottieren.2 Sie protestierten auch gegen die „Entführung“ des ehemaligen Präsidenten aus seiner Belgrader Haftanstalt nach Den Haag. Hatte doch kurz zuvor das jugoslawische Verfassungsgericht die Auslieferung für illegal erklärt, weil ihr die gesetzliche Grundlage fehle – das Gesetz über die Zusammenarbeit mit dem UN-Tribunal ist in der Tat bis heute noch nicht verabschiedet. Aber der ehemalige jugoslawische Staatspräsident wollte das Medieninteresse nutzen, um sich einen großen Auftritt als sein eigener Verteidiger zu verschaffen.

In Belgrad verfolgten viele Menschen die ersten Verhandlungstage, die auf drei Fernsehkanälen live und ungekürzt übertragen wurden. Auch später nahm man jeden Tag zur Kenntnis, wie der Angeklagte Punkte sammelte. Milosevic hatte nach eigenem Bekunden beschlossen, „das Volk und die öffentliche Meinung als Richter zu wählen“ – und er verschaffte sich neue Popularität.

Nachdem auf Antrag des Angeklagten Bilder von den „Kollateralschäden“ der Nato-Luftangriffe gezeigt worden waren, stellte CNN die Übertragungen aus dem Gerichtssaal ein. Und nach dem 9. Februar, dem Tag, an dem Milosevic den ersten Zeugen der Anklage, Mahmut Bakalli, im Kreuzverhör auseinander genommen hatte, verschwanden auch die Sitzungsprotokolle von der Internetseite des Tribunals. Am 8. März stellte der serbische Kanal RTS, am 13. März auch der jugoslawische Sender Yuinfo die Übertragungen ein („zu teuer“). Seither berichtet von diesem Verfahren nur noch der Privatsender B92, der dabei auf die technische Hilfe des Tribunals angewiesen ist. Aber auch die Geldgeber von B92 könnten irgendwann die Berichterstattung als nicht mehr opportun einschätzen.

„Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren“, erklärte Präsident Vojislav Kostunica, „dass es hier zwar um das Recht geht, aber eine ebenso große Rolle spielen eine oberflächliche, verkürzte und manipulierte Darstellung von Geschichte, politische Interessen und Heuchelei.“3 Der Gerichtshof in Den Haag gibt sich zwar große Mühe, unparteiisch zu erscheinen, doch die Chefanklägerin Carla Del Ponte hat mit ihrer Weigerung, eine Klage gegen die Nato wegen „Kriegsverbrechen“ gegen zivile Einrichtungen anzunehmen, erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Tribunals aufkommen lassen. Und die „paranoide Theorie“, von der Stojan Cerovic zu Recht spricht, „dass die Katastrophe, die sich im ehemaligen Jugoslawien abspielte, […] allein auf eine kriminelle Verschwörung unter Führung von Milosevic zurückzuführen sei“4 , musste dem Angeklagten letztlich Sympathien einbringen – ganz gleich was man von seiner Politik und seinen engstirnigen Vorstellungen von der Geschichte halten mag.

In einem Gespräch während der ersten Prozesswoche versuchte der Belgrader Soziologe Srdjan Bogosavljevic zu erklären, warum seinen Landsleuten das Eingeständnis so schwer fällt, dass im Namen des serbischen Volkes Verbrechen begangen wurden: „Die Mehrheit der Bevölkerung hält sich selbst für unfähig, Verbrechen zu begehen, und glaubt, das müsse für alle Serben gelten. Der wichtigste Grund für diese Art von Blindheit ist jedoch, dass es hier etwa 600 000 serbische Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien gibt – über die Verbrechen der anderen weiß man einfach mehr.“

Gelegentlich verweisen Beobachter auch vorwurfsvoll auf die „rassistischen“ Anekdoten, die in Belgrad über die albanisch-kosovarischen Zeugen der Anklage im Umlauf sind. Mahmut Bakalli war bis 1981 die Nummer eins des jugoslawischen Bundes der Kommunisten in der Provinz Kosovo – und in dieser Rolle verkörpert er alle Schwächen der Anklage. Als Zeuge gegen Milosevic gab er eine traurige Figur ab, weil er um jeden Preis versuchte, dessen Brandreden von 1989 zum Auslöser der Kosovo-Krise in den späten Neunzigerjahren zu stempeln. Er taugte auch nicht als Verfechter der albanischen Sache: Milosevic versäumte nicht, ihn daran zu erinnern, dass er es war, der 1981 die Panzer hatte auffahren lassen, um die Demonstrationen junger Kosovaren für eine eigene Republik zu unterdrücken, und zitierte aus einem Interview, in dem sich Bakalli damals gegen diese Forderung gewandt hatte.

Die Verantwortung für das Auftreten solcher Zeugen liegt bei der gewaltigen Maschinerie der Anklage, die man während der Nato-Luftangriffe aufgebaut hat, um Milosevic als Hauptschuldigen am Kosovo-Konflikt bezichtigen zu können. Von der Struktur der Auseinandersetzungen, die in dieser Provinz damals tobten, wollte man nichts wissen, und nach den massenhaften Vertreibungen der Albaner weigerte man sich, den Bürgerkrieg wahrzunehmen, der durch die Bombardements noch angeheizt wurde. Hat man je gehört, dass dem Tribunal eine „revisionistische“ Haltung vorgeworfen wurde, weil es den Anklagepunkt zurückziehen musste, der sich auf den berüchtigten „Hufeisen-Plan“ bezog5 – weil der sich als Gerücht herausstellte? Die Hagel der Bomben und Worte erzeugte eine Selbstvergiftung durch die Verwendung hoch belasteter Begriffe („Völkermord“, „Auschwitz“, „Deportationen“), die im Licht der Fakten und Belege so nicht haltbar waren. Die Behauptungen, die seinerzeit zur Rechtfertigung des Nato-Einsatzes von den Medien groß herausgestellt worden waren, verhindern bis heute die nüchterne Betrachtung eines Konflikts, in dem sich letztlich zwei legitime Ansprüche auf dasselbe Gebiet gegenüberstehen – der serbische und der albanische.

Natürlich gibt es unbestreitbare Tatsachen. Es steht außer Zweifel, das viele Kosovo-Albaner Opfer serbischer Verbrechen wurden. Aber eine Anklage gegen Milosevic wegen „Völkermords“ war daraus noch nicht abzuleiten – weshalb man die Anklage um die Komplexe Bosnien und Kroatien erweitern musste. Andererseits setzten sich die für die „ethnischen Säuberungen“ Verantwortlichen bekanntlich später am Verhandlungstisch in Dayton zusammen, und mit den dort geschlossenen Friedensabkommen galt dieses Thema als abgeschlossen.

Wenn sich Milosevic der Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hat, so war er nicht der einzige Täter. Und man sollte auf gar keinen Fall vergessen, wer damals seine Komplizen waren: die Regierungen der westlichen Nationen.

C. S.

Fußnoten: 1 Courrier International, Nr. 592, 7. März 2002. 2 Siehe etwa das Interview mit Rechtsanwalt Jacques Vergès vom 8. Januar 2001 unter www.diplomatiejudiciaire.com/Tpy/Milosevic17.htm. Das Budget des Tribunals ist von 1994 bis 2001 von 276 000 Dollar auf 96 Millionen Dollar angewachsen. Davon sind 14 Prozent private Gelder, der Rest kommt von den Vereinten Nationen. In Washington wünscht man eine Reduzierung dieser „exzessiven“ Kosten. 3 Le Monde, 21. März 2002. 4 Zitiert nach Courrier International (Anm. 1). 5 Siehe Serge Halimi, Dominique Vidal, „L‘Opinion, ça se travaille. Les médias, l‘Otan et la guerre du Kosovo“, Marseille (Agone) 2000.

Le Monde diplomatique vom 12.04.2002, von C. S.