Vom richtigen Gebrauch des Rechts
DER Prozess gegen den jugoslawischen Expräsidenten Milosevic vor dem Internationalen Strafgerichtshof für Verbrechen im früheren Jugoslawien zeigt die Notwendigkeit, aber auch die Grenzen solcher Verfahren auf. Wie vergleichbare Tribunale steht das Haager Unternehmen in einem konkreten historischen Kontext und unterliegt politischen Einflüssen auf regionaler wie internationaler Ebene. Damit steht es aber auch vor dem alten Dilemma: Entweder es berücksichtigt die politischen Faktoren und gefährdet seine juristische Objektivität, oder es verhält sich politisch unsensibel und riskiert unerwünschte Konsequenzen.
Von XAVIER BOUGAREL *
Das Verfahren gegen Slobodan Milošević vor dem Internationalen Tribunal für Verbrechen im früheren Jugoslawien (ICTY) hat von Anfang an gezeigt, dass sich zwei konträre Wahrnehmungen des Tribunals gegenüberstehen. Milošević selbst, seine Anhänger und ein Großteil der serbischen Öffentlichkeit bezeichnen den Gerichtshof als illegitim und parteiisch. Insbesondere die Weigerung der UN-Institution, eine Untersuchung über mögliche Kriegsverbrechen der Nato in Exjugoslawien im Frühjahr 1999 einzuleiten, gilt ihnen als Beweis dafür, dass das Gericht einzig und allein den Auftrag hat, die Militärintervention der Verbündeten auf dem Balkan zu rechtfertigen und deren Mitverantwortung für den blutigen Zerfall Jugoslawiens zu kaschieren.
Anders im Westen und in den Regionen, die von serbischen Verbrechen unmittelbar betroffen waren. Hier haben die Medien und die politische Klasse den Beginn des Prozesses allgemein begrüßt und dabei erneut bekräftigt, dass sie das Kriegsverbrechertribunal für ein geeignetes Mittel halten, um für Gerechtigkeit zu sorgen und zur Versöhnung beizutragen. Ein Teil der Medienöffentlichkeit sieht in dem Tribunal gar einen Prüfstein für die historische Wahrheit. Die französische Tageszeitung Libération titelte am ersten Verhandlungstag: „Milošević im Angesicht der Geschichte“1 . In ihren Äußerungen zur historischen Dimension bleiben die Repräsentanten des Tribunals allerdings recht vage. Zwar bestreiten sie, die Geschichte der Jugoslawien-Konflikte schreiben zu wollen – vor allem wenn sie sich dadurch unangenehme Fragen ersparen können. Andererseits ist offensichtlich, dass sie die Präzedenzfälle von Nürnberg und Jerusalem (Eichmann-Prozess) ständig im Kopf haben und von ihrer „historischen Mission“ überzeugt sind. So erklärte die Chefanklägerin Carla Del Ponte in ihrem Eröffnungsplädoyer am 12. Februar 2002: „Dieser Prozess wird Geschichte schreiben, und wir tun gut daran, unsere Aufgabe im Licht der Geschichte anzugehen.“
Wie so oft, wenn scheinbar gegensätzliche Positionen aufeinander prallen, sind sich die Kontrahenten in mancher Hinsicht jedoch durchaus einig. Die Parteigänger Milošević‘ beschweren sich über die Abhängigkeit des Tribunals von staatlichen Geldgebern und den Ad-hoc-Charakter der Institution: deshalb würden die Richter unweigerlich mit zweierlei Maß messen. Die Befürworter des Tribunals können dieser Kritik durchaus zustimmen, verlangen für das Tribunal eine noch großzügigere Ausstattung und mehr Handlungsfreiheit und plädieren für einen ständigen Internationalen Strafgerichtshof. Beide Seiten bemängeln lediglich die konkrete Praxis internationaler Strafgerichtsbarkeit, ihr Prinzip jedoch stellen sie nicht in Frage. In einem wirklich unabhängigen Gericht mit allgemeiner Zuständigkeit sehen sie offenbar das beste Mittel, die Versöhnung zwischen den Völkern zu befördern und die historische Wahrheit ans Licht zu bringen.
Im Folgenden soll dagegen anhand der Arbeit des Jugoslawien-Tribunals der Frage nachgegangen werden, ob eine internationale Strafgerichtsbarkeit nicht an sich problematisch ist, und zwar gerade was ihre angeblichen Versöhnungs- und Wahrheitsfindungsfunktion angeht. Mir scheint, dass eine internationale Strafgerichtsbarkeit bei der Konflikt- und Vergangenheitsbewältigung nur dann eine positive Rolle spielen kann, wenn man ihre immanenten Grenzen und Aporien realistisch zu Kenntnis nimmt. Wir wollen hier also weder in Zweifel ziehen, dass die Verbrechen, die während der Kriege in Jugoslawien geschehen sind, einer Bestrafung zugeführt werden müssen, noch die Legitimität und Zuständigkeit des Haager Tribunals in Frage stellen. Im Gegenteil: Die Aburteilung der Hauptkriegsverbrecher ist von allen Funktionen, die dem Tribunal aufgetragen sind – oder die es sich selbst zuschreibt –, gewiss die unproblematischste. Zum einen haben die Opfer der Verbrechen ein Recht auf Anerkennung und Wiedergutmachung ihrer Leiden, zum anderen können Sicherheit und Vertrauen in Jugoslawien erst wieder entstehen, wenn die Kriegsverbrecher aus dem Verkehr gezogen und gewisse Grundprinzipien noch einmal in aller Deutlichkeit bekräftigt werden. Insofern ist das Jugoslawien-Tribunal unersetzlich – ganz egal ob irgendwo sonst auf der Welt andere Staatsverbrecher unbehelligt leben können.
Eine Analyse der juristischen Praktiken des Tribunals legt jedoch nahe, die reale Tragweite seiner Aktionen zurückhaltend zu beurteilen. Zum Teil sind diese Praktiken das Ergebnis von politischem Kalkül und komplexen Einflüssen, und man braucht nicht überall die CIA am Werk zu sehen, um zu erkennen, dass gewisse Staaten, zumal die mächtigeren, ihren Einfluss geltend machen. Dass nach den Kriegsverbrechen im Bosnien-Konflikt 1995 weder Milošević noch der kroatische Staatschef Tudjman angeklagt wurden, erklärt sich zweifellos aus ihrer Rolle bei der internationalen Beilegung des Konflikts. Dagegen ist es eher als Warnung an die Adresse von Milošević zu verstehen, dass das Tribunal im November 1995, als die Friedensverhandlungen von Dayton begannen, drei Offiziere unter Anklage stellte, die an der Eroberung von Vukovar im November 1991 beteiligt waren. Die relativ milde Strafe, die demgegenüber Dario Kordić, dem ehemaligen Chef des Kroatischen Verteidigungsrats in Zentralbosnien, im Februar 2001 zuteil wurde, hatte nach Einschätzung bosnischer Journalisten zwei Gründe: Erstens wollte man die Krise, die damals das bosnische Institutionengefüge erschütterte,2 nicht zusätzlich anheizen, zweitens wollte man die Position der kroatischen Regierung stärken, die aus innenpolitischen Gründen zögerte, einige an der Operation „Sturm“3 im August 1995 beteiligte Offiziere auszuliefern.
Angesichts solcher juristischen Unstimmigkeiten mag man mitunter den Eindruck gewinnen, dass die Karten gezinkt sind – dass das Jugoslawien-Tribunal auf Befehl der westlichen Großmächte agiert, ist damit jedoch nicht bewiesen. Diese haben es schlicht nicht nötig, das Tribunal direkt zu kontrollieren, um Einfluss auf sein Handeln zu nehmen. Es reicht, wenn ihre Geheimdienste gewisse Schriftstücke aushändigen oder aber unterschlagen oder dass ihre Truppen den einen Angeklagten verhaften und bei einem anderen die Verhaftung verhindern. In Bosnien-Herzegowina zum Beispiel kommt es immer wieder zu Zwischenfällen, die vermuten lassen, dass eine ganze Reihe serbischer Kriegsverbrecher im französischen Sektor Unterschlupf findet. Und die Repressionswelle gegen islamische Kräfte, die nach den Attentaten vom 11. September 2001 einsetzte, hat die Vereinigten Staaten dazu gebracht, zum „Ausgleich“ wieder verstärkt nach dem ehemaligen Serbenchef Radovan Karadžić zu fahnden, dem das Massaker von Srebrenica im Juli 1995 als Völkermord angelastet wird.
Auf der anderen Seite sind an den komplexen politischen Manövern, die das Handeln des Jugoslawien-Tribunals beeinflussen, auch lokale Akteure beteiligt. Dass die Untersuchung kroatischer und bosnischer Kriegsverbrechen verzögert wurde, lag auch an der Weigerung der serbischen Regierung, die Legitimität des Gerichtshofs anzuerkennen. Zudem verhandeln die aus dem Zerfall Jugoslawiens hervorgegangenen Staaten mit dem Tribunal auch häufig mit dem Ziel, sich ihre Zusammenarbeit vergüten zu lassen. Und auch die Angeklagten selbst sind um politische Argumente nicht verlegen, wenn es darum geht, ihre Haut zu retten. So drohte der kroatische General Ante Gotovina, der im Juli 2001 nach der Anklageerhebung des Tribunals untertauchte, im Fall seiner Verhaftung gewisse Details über die Rolle der amerikanischen Geheimdienste bei der Operation „Sturm“ zu enthüllen. Ein weiteres Beispiel ist ein merkwürdiger Vorfall vom November 1999. Damals wurden in Belgrad fünf Serben vorübergehend festgenommen, die an dem Massaker von Srebrenica beteiligt gewesen, anschließend aber von französischen Geheimdiensten für einen Einsatz im Kongo rekrutiert worden waren. Hier handelte es sich eindeutig um ein Signal, das den französischen Behörden bedeuten sollte, dass die Festnahme gewisser Kriegsverbrecher nicht unbedingt in ihrem Interesse liegen dürfte.
Vom Primat der Justiz und den Folgen für die Politik
DASS das Jugoslawien-Tribunal in seinem Handeln auch durch politisches Kalkül bestimmt ist, heißt also nicht, dass es ein passives Instrument der Großmächte wäre. Wie jede andere juristische Instanz steht es als institutioneller Akteur im Spannungsfeld bestimmter Kräfte, die es in Betracht ziehen muss, will es seine Handlungsfähigkeit wahren und erweitern. Unter diesem Blickwinkel – und nicht im Sinn passiver Unterordnung – ist denn auch die Weigerung des Tribunals zu sehen, Untersuchungen über eventuelle Kriegsverbrechen der Nato anzustellen.
Aus der unvermeidlichen und wohl auch notwendigen Einbindung der Justiz in die Politik ergeben sich offensichtlich gewisse Beschränkungen und Widersprüche im Handeln des Kriegsverbrechertribunals. Gerade der Versuch, das Primat der Justiz zu bekräftigen, mündete mehrfach in Entscheidungen, die für das erklärte Ziel, einen Beitrag zu Versöhnung und Vergangenheitsbewältigung zu leisten, durchaus kontraproduktiv waren.
Das zeigen zwei Beispiele: Im Januar 1996, kurz nach der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens, verhaftete die bosnische Polizei in Sarajevo den serbischen General Djordje Djukić, der sich unter ungeklärten Umständen in den bosnischen Sektor „verirrt“ hatte. Die Verhaftung widersprach zwar den Friedensvereinbarungen, doch der damalige Chefankläger Richard Goldstone erblickte darin eine unverhoffte Gelegenheit, endlich einen „großen Fisch“ an Land zu ziehen. So beschloss das Tribunal, den General – nachträglich – wegen mutmaßlicher Mitwirkung am Massaker von Srebrenica anzuklagen und seine Überstellung nach Den Haag zu veranlassen.4 Diese Entscheidung mochte dem Chefankläger als konsequent erscheinen, politisch gesehen war sie zumindest ungeschickt. Denn zur selben Zeit hatte man in Sarajevo damit begonnen, einige bis dahin serbisch kontrollierte Stadtteile in den bosnischen Sektor einzugliedern.
Bei diesem Zuständigkeitstransfer bestand das Hauptproblem darin, wie man die serbische Bevölkerung zum Bleiben bewegen konnte. Dies setzte die strikte Einhaltung des Amnestiegesetzes voraus, das die internationale Gemeinschaft der bosnischen Führung abgerungen hatte. Indem das Haager Tribunal die rechtswidrige Verhaftung des Generals absegnete, beeinträchtigte es die Glaubwürdigkeit des Amnestiegesetzes. Das spielte den serbischen Nationalisten in die Hände, die unter Verweis auf drohende bosnische Repressionen die serbischen Einwohner Sarajevos zum Fortgehen bewegen wollten und mit allen Mitteln den Exodus organisierten.
Ähnlich negative Nebenwirkungen hatte die Anklage gegen Slobodan Milošević wegen Beteiligung an Kriegsverbrechen im Kosovo. Glaubt man Pierre Hazan5 , so erklärt sich die Klageerhebung gegen die ehemalige Nummer eins Jugoslawiens am 27. Mai 1999 – als die Bombardierung seines Landes kurz vor dem Ende stand – nicht aus der Absicht, die Militäraktion der Nato zu legitimieren. Vielmehr habe man der Eventualität vorbauen wollen, dass sich die westlichen Staatschefs, wie schon 1995, abermals mit Milošević arrangieren. Diese Deutung scheint plausibel, und auch in diesem Fall mag das juristische Vorgehen aus dem Blickwinkel Den Haags richtig gewesen sein. In Belgrad jedoch konnte die Klageerhebung nur als Rechtfertigung der laufenden Bombardierung wahrgenommen werden. Sie trug damit erheblich dazu bei, die Glaubwürdigkeit des Tribunals in den Augen der serbischen Bevölkerung zu zerstören.
Mit der Zeit merkten die Juristen in Den Haag, dass sie bei ihren Entscheidungen, wann gegen wen Anklage erhoben oder auf wen Druck ausgeübt werden sollte, auch die politischen Konstellationen vor Ort zu berücksichtigen haben. So ist es kaum ein Zufall, dass zeitgleich mit Eröffnung des Prozesses gegen Milošević die ersten mutmaßlichen kosovo-albanischen Kriegsverbrecher verhaftet wurden. Das Problem ist damit allerdings nur verschoben: Während das Tribunal in den ersten Jahren fieberhafte Flickschusterei zu betreiben schien, erweckt es neuerdings eher den Eindruck, ähnlich subtil dosiert zu verfahren wie die jugoslawische Justiz zu Zeiten Titos.
Damit möchte ich die Entscheidungen des Tribunals nicht rundweg kritisieren. Vielmehr will ich betonen, vor welch tief greifendes Dilemma das Tribunal sich immer wieder gestellt sieht: Entweder es hält sich aus der Politik heraus und agiert ohne Rücksicht auf den Zusammenhang, in dem sein Handeln nun einmal steht. Dann läuft es Gefahr, auf die geschilderte unbeabsichtigte Weise von der Politik eingeholt zu werden. Oder aber es berücksichtigt den politischen Kontext und muss gewisse Abstriche an seinem Anspruch machen, zu Versöhnung und Vergangenheitsbewältigung beizutragen. In beiden Fällen zeigt sich, dass das Internationale Tribunal über Verbrechen im früheren Jugoslawien als Instrument der Gerechtigkeit, Versöhnung und Wahrheit mit großer Umsicht eingesetzt werden muss.
dt. Bodo Schulze
* Forscher am Centre National de Recherche Scientifique, Autor von: „Bosnie, anatomie d‘un conflit“, Paris 1996.