12.04.2002

Der Schlüssel liegt in Ankara

zurück

Der Schlüssel liegt in Ankara

SEIT drei Monaten verhandeln in Nikosia die Repräsentanten der griechischen und der türkischen Zyprer über eine politische Lösung des Zypern-Problems, die seit fast dreißig Jahren überfällig ist. Die Zeit drängt, denn Ende dieses Jahres wird ein EU-Gipfel über die Aufnahme Zyperns in die Union befinden. Europa bedeutet auch für die türkischen Zyprer eine lockende Perspektive. Ob sie in letzter Stunde noch ins europäische Boot zusteigen dürfen, entscheiden allerdings ihre selbst ernannten Schutzherren in Ankara. Nur wenn die Türkei eine föderative Zypern-Lösung absegnet, kann die Union die ganze Insel aufnehmen. Scheitern die Verhandlungen, werden sich die griechischen Zyprer allein über ihren EU-Beitritt freuen – aber der würde wahrscheinlich die endgültige Teilung bedeuten.

Von NIELS KADRITZKE *

Der runde Tisch ist zu klein, doch die Stimmung ist prächtig. Husein und Giorgos, Eleni und Mehmet reden sich mit Vornamen an, wie es in Zypern unter Politikern üblich ist. Der Tisch steht im Ledra Palace Hotel in der UN-kontrollierten Pufferzone, die sich zwischen den griechischen und den türkischen Teil von Nikosia schiebt. Auf neutralem Terrain erörtern Politiker aus beiden Teilen Zyperns, wie man die Kontakte und das Vertrauen zwischen griechischen und türkischen Zyprern stärken könnte. Weil der Tisch zu klein ist, sitzen sie Knie an Knie, wie in einem spiritistischen Zirkel. Als wollten sie einen Klopfgeist beschwören, der ihnen die Lösung des Zypern-Problems verrät.

Doch eine magische Formel gibt es nicht; und die entscheidenden Verhandlungen finden ohnehin woanders statt. Im UN-Hauptquarter auf dem stillgelegten Flughafen von Nikosia sitzen sich seit dem 16. Januar Glafkos Klerides und Rauf Denktasch gegenüber. In Gegenwart des UN-Zypern-Beauftragten Alvaro de Soto unternehmen der Präsident der Inselrepublik – als Repräsentant der griechischen Volksgruppe – und der Führer der türkischen Zyprer den unwiderruflich letzten Versuch, einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden. Wenn Denktasch vorfährt, flattert an seiner Limousine die Flagge der „Türkischen Republik Nordzypern“ (TRNC), die symbolisch für die Kernfrage steht: Soll Zypern eine Föderation sein, wie es die UN-Resolutionen und Klerides verlangen, oder eine Konföderation aus zwei separaten Staaten, auf der Denktasch und die Türkei beharren?

Der Separatstaat im Norden Zyperns wird nur von der Türkei anerkannt. Tatsächlich ist er ein türkisches Protektorat: Finanziell von Ankara abhängig, bestraft mit der inflationären Währung türkische Lira, vom türkischen Geheimdienst überwacht und belauscht, von 35 000 türkischen Soldaten „beschützt“, deren türkischer Oberbefehlshaber auch die Polizei und die Feuerwehr der türkischen Zyprer kommandiert.1 Mit Gründung der TRNC im Jahre 1983 war für Denktasch „das Zypern-Problem gelöst“, wie er unermüdlich betonte. Seitdem verfolgten er und seine Patrone in Ankara vor allem ein Ziel: die völkerrechtliche Anerkennung des separatistischen Staates, um dann mit der anerkannten Republik, die faktisch nur den griechisch besiedelten Süden umfasst, eine lockere und jederzeit auflösbare Zypern-Konföderation zu bilden. Das Gegenmodell ist eine bizonale Föderation aus zwei Bundesländern, die beide weitgehend autonom sein sollen, aber ein einziges Völkerrechtssubjekt konstituieren.

Um die Anerkennung der TRNC ultimativ durchzusetzen, verließ Denktasch im November 2000 den UN-Verhandlungstisch. Ein Jahr später meldete sich der „Präsident“ der TRNC auf der Bühne zurück, als hätte es sein Ultimatum nie gegeben. Der Regisseur des Stücks sitzt in Ankara, meinen informierte Beobachter im Norden, und sie meinen damit den Nationalen Sicherheitsrat der Türkei.2 Dasselbe Gremium hatte 17 Monaten zuvor Denktasch von der Verhandlungsbühne abberufen, sagt Mustafa Akinci, der es wissen muss. Akinci war seinerzeit Vizeministerpräsident der TRNC und trat auf Geheiß Ankaras zurück, als er und seine Partei auf einer Verhandlungslösung beharrten.3

Die Entscheidung Ankaras, Denktasch an den Verhandlungstisch zurückzuschicken, erfolgte freilich nicht aus freien Stücken, sondern unter dem Druck realpolitischer Fakten. Das wichtigste Faktum ist die anstehende Aufnahme Zyperns in die Europäischen Union. Die Türkei musste erkennen, dass die EU ihre Aussage vom Helsinki-Gipfel im Dezember 2000 ernst meint. Damals hatte sie beschlossen: Die Lösung des Zypern-Problems ist keine Vorbedingung für einen EU-Beitritt; über diese werde vielmehr zu gegebenem Zeitpunkt „unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände“ entschieden. Im Klartext: Die Republik Zypern, die faktisch nur aus dem griechischen Süden besteht, wird auch ohne vorherige Lösung aufgenommen, es sei denn, diese Lösung scheitert an der griechischen Seite. Das aber war ausgeschlossen, solange die türkische Seite die Gespräche boykottierte. Also musste Denktasch zurück an den Verhandlungstisch.

Unter den Kandidaten der ersten EU-Erweiterungsrunde, die im Dezember 2002 beschlossen wird, liegt Zypern bei der Übernahme der EU-internen Regeln (des so genannten acquis communitaire) an der Spitze. Von den 29 Sachkapiteln sind bereits 25 durchverhandelt. Bis Herbst will man als erstes Beitrittsland alle Kapitel abgeschlossen haben. Würde dieser Musterkandidat aus politischen Gründen abgewiesen, könnte das ganze Projekt scheitern, weil Griechenland jede Erweiterung ohne Zypern blockieren würde.

Die EU-Regierungen nehmen diese Gefahr ernst. Viel ernster als die Drohung aus Ankara, man werde den Norden Zyperns annektieren, falls die EU den Süden allein aufnehme. Diese Drohung wird in Europas Hauptstädten eher als Verzweiflungsgeste angesehen. Für manche EU-Regierung ist die geballte Faust sogar ein Hoffnungszeichen, das ihren heimlichen Wünschen entgegenkommt. Denn die EU-Perspektive der Türkei wäre hinfällig, wenn sie ein Territorium annektieren würde, das völkerrechtlich zu einem EU-Staat gehört.

Dass die Regierung Ecevit in der Sackgasse steckte, erkannten auch die EU-begeisterten Kräfte in der türkischen Gesellschaft. Sie warnten, das Land dürfe seine europäische Perspektive nicht auf dem Altar nationalistisch oder militärstrategisch definierter Zypern-Interessen opfern. Diese Kreise sehen in einem vernünftigen Beitrag zur Lösung der Zypern-Frage eine große Chance, die europäischen Partner von der politischen Reife der Türkei zu überzeugen. Verstärkt wird diese Argument durch die türkische Wirtschaftskrise. Der Unternehmerverband Tusiad plädiert für eine Zypern-Lösung, schon im Interesse der eigenen EU-Perspektive, denn nur die biete einen langfristigen Ausweg aus der strukturellen Krise. Ähnlich argumentieren demokratisch engagierte NGOs, liberale und europaorientierte Intellektuelle und Publizisten, Exdiplomaten und Elder Statesmen wie der Exaußenminister Ilter Turkmen.4

Die türkische Wirtschaftskrise schlug auch auf den Norden Zypern durch. Die einzige Branche, die hier boomt, ist die Glücksspielindustrie. Aber die bringt den türkischen Zyprern nichts, denn die 28 Casinos sind im Besitz von Türken und dienen in erster Linie der Geldwäsche. Vor allem junge, qualifizierte Leute sehen angesichts der ökonomischen Misere ihr Heil nur noch in der Emigration – oder im Beitritt von ganz Zypern zur Europäischen Union. Für sie bedeutete die türkische Gesprächsverweigerung den Boykott ihrer einzigen Zukunftshoffnung. Auf die neue Verhandlungsrunde reagieren sie daher mit einer Mischung aus Hoffnung und Skepsis. Die meisten türkischen Zyprer wollen, wie Akinci und die anderen oppositionellen Parteien, eine Verhandlungslösung, aber sie haben tiefe Zweifel, ob Denktasch und seine Patrone in Ankara ihre alten Ziele aufgegeben haben.5

Diese Zweifel sind höchst angebracht. Seit Verhandlungsbeginn zeigt Denktasch bei jeder Gelegenheit, dass er noch immer der Alte ist. Selbst der Einmarsch der israelischen Armee in die palästinensischen Autonomiegebiete dient ihm als demagogisches Argument, um auf einem souveränen Staat zu beharren: Ohne einen solchen Staat werde es den türkischen Zyprern wie den Palästinensern ergehen.6

Auch in Ankara gibt es kein Anzeichen für ein Umdenken. Anfang März argumentierte Außenminister Cem in einem Brief an die Außenminister aller EU-Länder, angesichts der weltweiten Tendenz zu ethnischer Separation könne es auch in Zypern nur „zwei gleichberechtigte separate Staaten mit je eigener Souveränität“ geben, die dann einen gemeinsamen „Partnerschaftsstaat“ gründen könnten – eine elegante Bezeichnung für das Modell einer denkbar lockeren, jederzeit auflösbaren Konföderation.7

Insgesamt haben in der Regierung Ecevit – bestehend aus der DSP des Regierungschefs, der konservativen Anap und der rechtsradikalen MHP – die Zypern-Hardliner die Oberhand. Zu ihnen gehört auch Ecevit selbst, der sich die Eroberung Nordzyperns als persönliches historisches Verdienst zugute hält. Auch im Juli 1974, als die griechische Junta in Zypern gegen die Regierung Makarios putschte, war Ecevit in Ankara der Regierungschef und gab grünes Licht für die Invasion, die der türkische Generalstab schon seit 1964 geplant hatte.8

Doch selbst wenn Ecevit heute einen weicheren Kurs einschlagen wollte, würde sich die ultranationalistische MHP quer legen, die jede Konzession in der Zypern-Frage als nationalen Verrat brandmarkt. Konzilianter zeigt sich nur der dritte Koalitionspartner, die Anap, deren Vorsitzender Mesut Yilmaz stellvertretender Regierungschef und Europaminister ist. Als solcher ist er mit der Haltung der EU-Partner in der Zypern-Frage am besten vertraut und plädiert für türkische Konzessionen. Für die will er allerdings in Brüssel eine Gegenleistung herausholen: die Zusage eines verbindlichen und möglichst frühen Termins für den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit Ankara.

Die Aussichten auf ein solches Zypern-Honorar sind allerdings begrenzt. Die meisten EU-Regierungen gehen wie der EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen davon aus, dass über den Verhandlungsbeginn mit Ankara ohnehin erst dann befunden werden könne, wenn das türkische Parlament die politischen Reformen, die nach den „Kopenhagener Kriterien“ von jedem Beitrittskandidaten erfüllt werden müssen, komplett verabschiedet hat. Angesichts der demokratischen Defizite, die das politische System der Türkei noch immer aufweist, muss der von Yilmaz erhoffte Terminrabatt eine sympathische Utopie bleiben.9

Alle interessierten Parteien, die sich von der EU-Dynamik einen raschen Durchbruch bei den Verhandlungen in Nikosia erhofft haben, sind vom bisherigen Verlauf der Klerides-Denktasch-Gespäche enttäuscht. Das gilt nicht nur für die UN-Vermittler, die das Zypern-Problem seit 1974 ungelöst vor sich herschieben. Enttäuscht sind auch die EU-Partner, die keineswegs begeistert wären, wenn sie eine geteilte Insel mit einem Rattenschwanz von rechtlichen Problemen in ihre Reihen aufnehmen müssten. Auch die USA dringen auf eine Lösung, denn erstens wollen sie ihren „strategischen Partner“ Türkei unbedingt in der EU sehen und zweitens können sie im östlichen Mittelmeer nicht noch einen weiteren Spannungsherd brauchen. Großes Interesse an einer Zypern-Lösung hat auch Griechenland. Für jede Athener Regierung ist Zypern ein wichtiges nationales Thema, und speziell die Regierung Simitis/Papandreou will unbedingt ihre Entspannungspolitik gegenüber Ankara fortsetzen, die sie als einen ihrer wenigen politischen Erfolge vorzuweisen hat.10

Die verschiedenen Interessengruppen haben seit Jahren versucht, mit offenen Ratschlägen oder auch mit geheimen Plänen zu einer Kompromisslösung beizutragen. Doch an den Gesprächen in Nikosia ist offiziell nur die UN durch ihren Zypern-Beauftragten, den Peruaner Alvaro de Soto, beteiligt. Von ihm erwarten informierte Beobachter für den Fall, dass sich bis zum Juni keine substanziellen Fortschritte abzeichnen sollten, ein umfassendes Kompromisspaket, das beide Seiten mit Anreizen locken, aber auch unter Druck setzen könnte.

Aber auch in diesem Falle wird allerdings die Entscheidung, ob das Zypern-Stück abgesetzt wird oder ein Happy End findet, in Ankara fallen. Hier regen sich in jüngster Zeit verstärkt die EU-skeptischen Kräfte, die offenbar über starken Rückhalt in der militärischen Führung verfügen. Ein Indiz dafür ist die Tatsache, dass der mächtige Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrates, General Tuncer Kilinc, Anfang März erstmals ganz offen und offensiv die Position der euroskeptischen Militärfraktion artikuliert hat. Diese Fraktion hatte sich zuvor schon mit klandestinen Aktionen zu Wort gemeldet, die dem derin devlet zugeschrieben werden, dem „tiefen Staat“ der Geheimdienste und Sicherheitsorgane.

Ein Warnsignal aus dem staatlichen Untergrund war die Publikation der E-Mail-Korrespondenz von Karen Fogg, der EU-Repräsentantin in Ankara, die nur als Werk von „Hardcore-Nationalisten“ in den Kreisen des Militärs und des Geheimdienstes zu erklären ist. Diese Kräfte, die der breiten EU-Zustimmung innerhalb der türkischen Gesellschaft (nach Umfragen liegt sie bei 70 Prozent) das Wasser abgraben wollen, sehen ihre Macht durch eine „Europäisierung“ und dadurch forcierte Demokratisierung des politischen Systems bedroht. Dieselben Kräfte betreiben seit Monaten eine Kampagne gegen ausländische Stiftungen, die demokratische Kräfte in der türkischen Zivilgesellschaft unterstützen, um damit die europäische Perspektive der Türkei zu fördern.11 Für die alten, staatsautoritären Kemalisten ist die Zumutung eines „Notopfers Zypern“ das ideale Argument gegen die EU-Orientierung der Türkei, zumal sie mit Schrecken ahnen, dass die türkischen Zyprer als Bürger eines EU-Landes dem Einfluss des „Mutterlandes“ bald entzogen wären.

Der Ausgang der Zypern-Verhandlungen hängt also in erster Linie vom Ausgang des „Kampfs um Europa“ in der türkischen Gesellschaft ab. Weit mehr jedenfalls als vom politischen Willen der türkischen Zyprer, die lieber heute als morgen der EU beitreten würden. In dieser Hinsicht repräsentiert die Opposition die große Mehrheit ihrer Landsleute, während der türkische Nationalist Denktasch in die Minderheit und in die politische Defensive geraten ist. Gerade deshalb setzt der Machtapparat der TRNC aber auch verstärkt auf seine repressiven Mittel. Seit Denktasch in Nikosia am Verhandlungstisch sitzt, sehen sich seine Gegner tagtäglich versteckt oder auch ganz offen bedroht. Dabei tut sich besonders die militante Nationale Volksbewegung UHH (Ulusal Halk Hareketi) hervor, das wichtigste Instrument des derin devlet in Zypern. Ihr Vorsitzender Taner Etkin ist ein ebenso enger „Berater“ von Denktasch wie Sabahattin Ismail, der die UHH-Zeitung Volkan herausgibt. Auf deren Titelseite werden regelmäßig Poliker und Journalisten, die sich für eine Zypern-Lösung und eine EU-Perspektive engagieren, als „Verräter“ und „griechische Agenten“ denunziert. Dass hier dieselben EU-feindlichen Kreise am Werk sind wie in der Türkei, zeigen Details wie diese: Die beiden populären Journalisten Hasan Hasturer und Hasan Kahvecioglu werden von der UHH als „die Hasans von Karen (Fogg)“ bezeichnet; und in einer Fernsehdiskussion am 14. März legte ein Volkan-Mann als „Belastungsmaterial“ gegen die beiden Journalisten eine Liste ihrer Auslandsreisen vor, die er nur von amtlichen Stellen haben konnte.

Die EU-orientierten Kräfte, zu denen auch die meisten Gewerkschaften und neuerdings die türkisch-zyprische Handelskammer zählen,12 halten zwar den Namen für das panzyprische Staatsmodell für zweitrangig, aber sie wissen auch, dass die EU nur eine Föderation aufnehmen wird. Deshalb studieren sie föderative Systeme wie Belgien, das ebenfalls aus zwei Volks- und Sprachgruppen besteht. Innerhalb einer solchen Föderation legen diese türkischen Zyprer allerdings größten Wert auf eine einheitliche Staatsbürgerschaft, damit die gesamtzyprische Regierung kontrollieren kann, wer in der Inselrepublik eingebürgert wird. Nur so lässt sich in ihren Augen der unkontrollierte Zustrom von türkischen Siedlern aus Anatolien stoppen, der dazu geführt hat, dass die türkischen Zyprer im Norden gegenüber den Zuwanderern in die Minderheit geraten sind.13

Aber auf einem Punkt besteht auch die Opposition im Norden: Die Sicherheit der türkischen Zyprer geht ihr über alles. Das gilt auch für zwei der schwierigsten Dimensionen einer politischen Lösung: Zum einen soll im Norden eine klare türkische Bevölkerungsmehrheit garantiert sein, zum anderen soll es auch nach einer Lösung noch eine türkischen Militärpräsenz geben, und sei es nur in symbolischem Umfang.

Hier liegt zwischen der Opposition im Norden und der Mehrheit im Süden eine erhebliche Differenz. Auch die Politikerrunde an dem zu kleinen Tisch im Ledra Palace Hotel, in der die türkische Seite durch die EU-orientierten Parteien vertreten ist, brauchte also viel Zeit und guten Willen, um in diesen Punkten einen Kompromiss zu erreichen. Am deutlichsten wird dieses Problem am Beispiel der türkischen Militärpräsenz: Was man im Norden als Sicherheitsgarantie sieht, wird im Süden zwangsläufig als militärische Bedrohung empfunden. Ein Kompromiss könnte darin bestehen, begrenzte Kontingente aus der Türkei und Griechenland in eine (UN- oder EU-)Schutztruppe einzubinden, die in der neuen Föderation für einen längeren Zeitraum als „Bewährungshelfer“ stationiert würde.

Auch auf anderen Problemfeldern steckt der Teufel im Detail: Wie muss die Grenze zwischen dem nördlichen und dem südlichen „Bundesland“ gezogen werden, damit möglichst viele griechische Flüchtlinge an ihre Heimatorte zurückkehren können, ohne auf die „andere Seite“ zu geraten? Wie können die Flüchtlinge bzw. die Umgesiedelten auf beiden Seiten ihre Rückkehr- und Besitzrechte realisieren, ohne eine neue Umsiedlungswelle auszulösen? Und was soll mit den Siedlern aus der Türkei werden: Wann und nach welchen Kriterien könnte man diesen – völkerrechtlich illegalen – Siedlern ein Heimatrecht im Norden Zyperns gewähren?14

Für die meisten dieser diffizilen Fragen gilt: Eine Lösung ist möglich, sobald sich die abstrakten Prinzipien an der konkreten Realität orientieren. Das lässt sich an dem Problem zeigen, das auf beiden Seiten die heftigsten Gefühle auslöst: bei der Flüchtlingsfrage. Alle informierten und klar denkenden Leute auf beiden Seiten wissen, dass das absolute Recht auf Rückkehr eine Schimäre ist, denn auch in einer Föderation wird zunächst nur ein Bruchteil der griechischen und türkischen Zyprer auf der „anderen Seite“ leben wollen. Die meisten der 160 000 griechischen Flüchtlinge aus dem Norden haben längst im Süden Wurzeln geschlagen; und fast allen ist klar, dass die „alte Heimat“ nicht mehr die alte ist. Ihre ehemaligen Dörfer sind in eine türkisch geprägte Umwelt eingebettet, die Rückkehrer wären also einem erheblichen Anpassungsdruck ausgesetzt.

Die neue Realität der bizonalen Gliederung stellt neue Regeln auf, deren wichtigste so lautet: Wer auf der „anderen Seite“ wirklich leben will, müsste nach seiner Muttersprache eine neue „Heimatsprache“ lernen, um mit den Nachbarn – und den Behörden – kommunizieren zu können. Solche Bereitschaft zu übergreifender Zweisprachigkeit kann sich nur langsam und freiwillig entwickeln, und das ist gut so. Denn eine wirkliche „Wiedervereinigung Zyperns“ ist nur als langfristiger Prozess denkbar. Und sie ist auf Menschen angewiesen, die nationalistisch verengte Wahrnehmungen überwinden und aktiv bekämpfen wollen. Eine EU-Mitgliedschaft des neuen Zypern kann die denkbar günstigsten Bedingungen für die Überwindung von Nationalismen schaffen, aber auch in diesem Rahmen wird es länger als eine Generation dauern, bis aus einem friedlichen Nebeneinander ein neues, panzyprisches Miteinander entsteht.15

Realistische Aussagen über die Mühen und Anforderungen eines Neubeginns sind von den führenden Politikern im Süden nur selten zu hören. Und nur wenige von diesen sind schon rein sprachlich imstande, um das zu werben, was eine bizonale Föderation als entscheidendes Startkapital braucht: um das Vertrauen der türkischen Zyprer.

Dabei wäre es gerade in dieser kritischen Phase der Verhandlungen wichtig, dass die griechischen Politiker ihre Bereitschaft zu einer neuen Partnerschaft überzeugend deutlich machen. Doch solche Impulse sind nirgends sichtbar, allenfalls wird hinter vorgehaltener Hand und in hypothetischer Form darüber gesprochen. Und kein Politiker des Südens wagt, das Angebot zu machen, das den türkischen Zyprern am meisten nützen würde: Produkte aus dem Norden über den Süden zu exportieren und so das Wirtschaftsembargo gegen den Norden aufzuheben, das die Entwicklungsmöglichkeiten der türkischen Zyprer massiv beschränkt.

Vertrauensbildend wäre auch eine kritische Diskussion über die historischen Fehler, die zum Scheitern der Ersten Republik Zypern geführt haben. Zu diesem Scheitern hat die politische Klasse auf griechischer Seite maßgeblich beigetragen, als sie den Bürgerkrieg von 1963/64 begann, der zu einer ersten Trennung der Volksgruppen führte und der separatistischen Politik Denktaschs in die Hände spielte.

Die Zweite Republik als neuer Anlauf

DIESES Thema ist bis heute ein Tabu, weil die Protagonisten von damals noch immer auf der politischen Bühne stehen oder aus der Kulisse soufflieren.16 Deshalb hat noch keiner der jüngeren Politiker den Mut aufgebracht, das Naheliegendste auszusprechen: Nach dem von beiden Volksgruppen verschuldeten Scheitern der ersten Republik bedeutet eine in den EU-Rahmen eingebettete Föderation einen radikalen Neubeginn, sprich: die Gründung einer „Zweiten Republik Zypern“.

Aus dem Süden kommen viel zu wenig rhetorische Signale, die den türkischen Zyprern zeigen könnten, dass sie in einer neuen Republik als gleichberechtigte Partner willkommen wären. Auf griechischer Seite reden die meisten Politiker in der Regel so, als wollten sie die türkischen Zyprer mit gesicherten Minderheitenrechten plus großzügiger Finanzhilfen aus den EU-Kassen abfinden.17 Sie verkennen damit, dass die türkischen Zyprer gerade keine Minderheit, sondern Partner in einer Zypern-Föderation sein wollen. Das Gefühl, nicht für voll genommen zu werden, müssen die türkischen Zyprer sogar bei manchen Kontakten bekommen, die sich auf der Ebene der Zivilgesellschaften über die Demarkationslinie hinweg entwickelt haben. Solche Kontakte werden immer wieder von der Denktasch-Regierung torpediert, die türkisch-zyprischen Gruppen den Zutritt nach Süden oder sogar auf das UN-Gelände verwehrt. Aber auch auf griechischer Seite werden diese Kontakte durch einen grotesken Formalismus behindert. So scheiterte im Februar dieses Jahres ein Treffen zwischen der griechischen und der türkischen Handelskammer, weil sich die griechischen Zyprer bei ihrem Besuch im Norden weigerten, ihre Personalien in das Einreiseformular am Checkpoint der TRNC einzutragen. Und zwar aus Angst, damit den Denktasch-Staat „anzuerkennen“ beziehungsweise von den Nationalisten im Süden der Anerkennung bezichtigt zu werden. Ihre Bedenken waren schon deshalb abwegig, weil die Anerkennung eines Staates durch ein Individuum gar nicht möglich ist; und sie waren vollends absurd, weil auf dem Formular gar keine Unterschrift vorgesehen ist.

Als die Gastgeber eine salomonische Lösung fanden, indem sie die griechischen Personalien mit ihrer türkischen Handschrift eintrugen, versagten die TRNC-Behörden dem Gemeinschaftswerk ihre Anerkennung. Der Besuch scheiterte damit letztlich an der Denktasch-Doktrin, dass Kontakte zwischen beiden Seiten von Übel sind. Aber auch die griechischen Zyprer hatten demonstriert, dass ihnen noch die winzigsten Formalien wichtiger sind als die Möglichkeit, mit ihren türkischen Kollegen ins Gespräch zu kommen und gegenseitiges Vertrauen aufzubauen.

Solche Episoden bestätigen den Eindruck, den man als Besucher gewinnt, wenn man mit den Menschen im Süden und im Norden spricht. Auf griechischer Seite wird die „Wiedervereinigung“ zwar ständig formelhaft beschworen, aber in den konkreten Vorstellungen und Zukunftswünschen der Menschen hat sie keinesfalls die höchste Priorität. Die Gleichgültigkeit, mit der sie die Verhandlungen Denktasch/Klerides verfolgen, ist auch eine verständliche Enttäuschungsprophylaxe, denn in den letzten 25 Jahren sind sie schon zu oft ihren falschen Hoffnungen aufgesessen. Aber diese Gleichgültigkeit spiegelt auch die Gewissheit, dass der EU-Beitritt des Südens selbst bei einem Scheitern der aktuellen Verhandlungen gesichert ist. Für die meisten griechischen Zyprer ist dies weit mehr als ein Trostpreis, denn sie sehen in der EU-Mitgliedschaft das wichtigste Ziel – und eine existenzielle Sicherheitsgarantie.

Demgegenüber zeigt der verzweifelte Optimismus, mit dem die türkischen Zyprer die Verhandlungen verfolgen, dass nicht weniger auf dem Spiel steht als ihre kollektive Existenz. Bei einem Scheitern bliebe ihnen als Ausweg aus ihrer Misere nur der individuelle EU-Beitritt: Wenn die Republik Zypern zur EU gehört, können sie ihr Recht auf einen zyprischen Pass wahrnehmen und sich im erweiterten EU-Europa niederlassen.18 Damit würden sie zwar der in der Heimat herrschenden Misere entkommen, aber diese Heimat wäre in absehbarer Zeit nicht mehr das Land der türkischen Zyprer. Denn die demografische Lücke, die ihr Exodus im Norden Zyperns hinterlässt, wird sich mit neuen Siedlern aus Anatolien auffüllen.

Diese Konsequenz haben sich die griechischen Zyprer noch nicht bewusst gemacht. Für sie steht weit mehr auf dem Spiel, als sie sich klar machen – und als man ihnen sagt. Ein Scheitern der letzten Verhandlungsrunde dürfte die endgültige Teilung der Insel bedeuten, denn der Norden würde sich – auch ohne formelle Annexion durch Ankara – so stark verändern, dass im Süden der Wunsch nach Vereinigung rasch versiegen würde.

Und selbst auf die Freiheit, sich auf der ganzen Insel bewegen zu können, müssten die griechischen Zyprer warten, bis auch die Türkei in die EU aufgenommen ist. Doch dies ist eine höchst ungewisse Aussicht, denn das europäische Schicksal der Türkei wird durch Faktoren bestimmt, auf die Zypern keinen Einfluss hat. Es hängt ab vom Demokratisierungspotenzial der türkischen Gesellschaft und von der Bereitschaft der politischen Klasse, dieses Potenzial zur Entfaltung kommen zu lassen. Und natürlich von der Bereitschaft Europas, die Türkei wirklich als Teil Europas zu akzeptieren – und dies den europäisch orientierten Kräften der Türkei ebenso klar zu vermitteln wie den Nationalisten und Isolationisten des „tiefen Staates“.

Die verständigungsbereiten Kräfte in beiden Teilen Zypern, die im Ledra-Palace-Hotel von Nikosia am runden Tisch sitzen, wünschen sich den EU-Beitritt der Türkei mit kühlem Kopf und aus vollem Herzen. Doch auch bei dieser Fragen haben sie nicht viel mitzureden. Dennoch treffen sie sich alle vier Wochen, und sei es nur, um ihren guten Willen zu demonstrieren. Immerhin wird der Kreis der beteiligten Parteien mit jedem Mal größer. Und so haben sie beim letzten Treffen einstimmig einen größeren Tisch beantragt.

* Freier Journalist und Redaktionsmitglied der deutschsprachigen Ausgabe von Le Monde diplomatique.

Fußnoten: 1 Siehe Niels Kadritzke „Im Norden träumt man von Europa“, Le Monde diplomatique, September 1998. 2 Das von der Militärführung dominierte Gremium hat in allen „nationalen Fragen“ das letzte Wort. 3 Akinci hatte außerdem gefordert, die zivile Polizei dem Kommando des türkischen Militärs zu entziehen. 4 Auch Europa-Experten der Regierung sprechen inoffiziell von der Alternative zwischen dem „Szenario des totalen Chaos“ (ein neuer Zypern-Konflikt) und dem „Szenario der günstigen Chance“ (eine Zypern-Lösung). 5 Die Oppositionsparteien sind: Republikanische Türkische Partei (CTP), Kommunale Befreiungspartei (TKP), Patriotische Union des Volkes (YBH). 6 Turkish Daily News, Ankara, 2. April 2002. 7 Siehe auch International Herald Tribune vom 14. 3. 2002. Bei den türkischen Kurden empfindet Ankara die „Tendenz zur Separation“ allerdings als existenzielle Bedrohung. 8 Siehe Mehmet Ali Birand, „30 Hot Days“, London, Nikosia, Istanbul 1985. 9 Nach türkischen Vorstellungen wäre der Termin für den Verhandlungsbeginn mit Ankara spätestens auf dem EU-Gipfel im Dezember 2002 festzulegen. Aus EU-Sicht ist allenfalls denkbar, einen Starttermin für den so genannten Screening-Prozess zu beschließen, der noch keine verbindliche Beitrittszusage implizieren würde. Siehe auch Heinz Kramer, „Die Türkei und der 11. September“, Südosteuropa-Mitteilungen, München, 4/2001. 10 Mitte März hat auf Beamtenebene ein griechisch-türkischer Dialog begonnen, der sich auf die Ägäis-Problematik konzentriert. Nach Ausssage von Außenminister Papandreou soll damit auch eine Zypern-Lösung befördert werden; siehe To Vima, Athen, 3. Februar 2002. 11 Turkish Daily News vom 8. und 9 März 2002. Zum „tiefen Staat“ und der EU-Furcht der „Hardcore-Nationalisten“ siehe den Beitrag von Murat Bilge im Sonderheft der Südosteuropa-Mitteilungen, „Europa 2030“, München 2002, S. 121 ff., und Heinz Kramer (Fußnote 9). Zur Kampagne gegen die ausländischen Stiftungen siehe Süddeutsche Zeitung, 11. Oktober 2001 und 30./31. März 2002 12 Die neue Führung der türkischen Handelskammer repräsentiert einen wichtigen Erfolg der Zivilgesellschaft gegen das Denktasch-Regime, weil sie von den Mitgliedern auf der Basis eines EU-orientierten Programms gewählt wurde. In den Räumen der Handelskammer ist seit kurzem ein Informationsstand der EU-Vertretung auf Zypern eingerichtet. 13 Die Zahl der aus Anatolien stammenden Siedler ist in Nordzypern ein derart strenges „Staatsgeheimnis“, dass sie nicht einmal von Ministern der TRNC-Regierung in Erfahrung gebracht werden kann. 14 Siehe Heinz Kramer, „Endspiel auf Zypern“, SWP-Aktuell 4, Februar 2002, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin. 15 Eine Begrenzung der Zahl der Rückkehrer für eine längere Phase ist auch für die EU akzeptabel, wenn sie nicht auf ewige Dauer gilt. 16 Bezeichnend ist in dieser Hinsicht, dass der einzige Film, der eine gesamtzyprische Sicht auf den Bürgerkrieg von 1963/64 präsentiert und auch den gravierenden Schuldanteil der griechischen Seite thematisiert, im Süden weder vom staatlichen Fernsehsender RYK noch von einem privaten Sender ausgestrahlt wurde. „Unsere Mauer“ (produziert für das ZDF) ist eine Arbeit des griechischen Zyprers Panikos Chrysanthou und des türkischen Zyprers Niyazi Kizilyurek. 17 Einer der wenigen Politiker im Süden, die in ihrer Rhetorik auf jegliche griechisch-nationalen Töne verzichten und deshalb auch die türkischen Zyprer ansprechen, ist der ehemalige Präsident Giorgos Vassiliou, den der heutige Präsident Klerides zum Chefunterhändler mit der EU-Kommission ernannt hat. Für den Mangel an panzyprischer Reflexion ist die Tatsache bezeichnend, dass für die 2003 anstehenden Präsidentschaftswahlen ein nationalistischer Dinosaurier als aussichtsreichster Kandidat gilt. Tassos Papadopoulos, Vorsitzender der Demokratischen Partei (DIKO), war 1963/64 ein führender Stratege des „Akritas-Plans“, der durch einen kontrollierten Bürgerkrieg die Vereinigung Zyperns mit Griechenland erreichen sollte. Im Norden löst der Name Papadopoulos blankes Entsetzen aus, da er seine frühere Rolle nie öffentlich bedauert hat und sich auch heute für die Ängste der türkischen Zyprer völlig unsensibel zeigt. 18 Bei den Botschaften Zyperns in den EU-Ländern haben seit 1999 tausende türkische Zyprer einen Pass der Republik beantragt. Allein in diesem Jahr waren es bis Ende März schon über 2000.

Le Monde diplomatique vom 12.04.2002, von NIELS KADRITZKE