Müde Demokraten
WIE ist es in den Ländern, die sich anderen als Modell andienen, um die Demokratie bestellt? Die meist geringe Wahlbeteiligung spricht nicht gerade dafür, dass in diesen Staaten alles zum Besten steht. Nun kann man natürlich das mangelnde gesellschaftliche Engagement der Bürger beklagen, wie es einige Politiker und politische Kommentatoren tun, doch ein moralischer Vorwurf ist noch keine Erklärung für das Phänomen. Vielleicht vermissen gerade in unseren entwickelten Demokratien, in denen alle mit sehr ähnlichen Konzepten um die politische Mitte buhlen, viele Bürger genau das, worum es in Wahlen geht: die Möglichkeit einer Entscheidung zwischen echten Alternativen.
Von ALAIN GARRIGOU *
Dass in den westlichen Demokratien immer weniger Bürger an die Urnen gehen, blieb bislang weitgehend unbeachtet, weil es sich nicht auf die Wahlergebnisse auswirkte. Die Wahlbeteiligung galt als Ausdruck für das Interesse am Meinungsstreit zwischen den politischen Lagern; ihre Höhe wurde zwar immer angegeben, aber dann ging man rasch zu der entscheidenden Frage nach dem Wahlsieger über. Inzwischen ist jedoch nicht mehr zu übersehen, dass die Zahl der Nichtwähler relativ kontinuierlich zunimmt, und zwar auch in Ländern mit langer demokratischer Tradition und bei Wahlen, die bislang eine breite Wählerschft mobilisieren konnten.
Bei den letzten Parlamentswahlen in Großbritannien im Juni 2001 haben 40 Prozent der Stimmberechtigten kein Votum abgegeben. In Frankreich sank die Wahlbeteiligung in den letzten rund zwanzig Jahren um 5 bis 10 Prozent. Und bei den Kommunalwahlen im Jahre 2001 blieb in zahlreichen Großstädten jeder zweite potenzielle Wähler zu Hause. Auch bei Referenden ist die Beteiligung ständig gesunken: An der Volksabstimmung in Frankreich über die Verkürzung der Amtszeit des Präsidenten von sieben auf fünf Jahre beteiligten sich nur 30,7 Prozent der Stimmberechtigten; in Irland waren es beim Referendum über den Vertrag von Nizza im Juni 2001 nur 31,5 Prozent.
In den Ländern, in denen diktatorische Regime stets für eine hohe Wahlbeteiligung gesorgt hatten, blieb diese auch nach der Demokratisierung noch einige Zeit auf beachtlichem Niveau, doch auch hier hat die Wahlverdrossenheit inzwischen alarmierend zugenommen. Während der ersten postkommunistischen Jahre in Polen war das politische Leben äußerst rege; bei den Parlamentswahlen im letzten Jahr ist die Wahlbeteiligung auf unter 50 Prozent gesunken. Bei den Wahlen im Iran von 1997 zeigten die Menschen ein äußerst lebhaftes Interesse, vier Jahre später war die Zahl derer, die der Wahl fernblieben, von 17 auf 33 Prozent gestiegen.
Bei diesen Zahlen ist jedoch zu bedenken, dass in einigen Ländern, so auch in Frankreich, die Wahlberechtigten nur dann statistisch erfasst werden, wenn sie sich zuvor in Wahllisten haben eintragen lassen. Diese Zahlen beschönigen also noch die Realität, weil auch die Anzahl der Bürger zunimmt, die sich erst gar nicht registrieren lassen. In den Achtzigerjahren lag in Frankreich die Zahl der nicht eingetragenen Stimmberechtigten bei etwa 10 Prozent, heute wird sie offiziell auf 15 Prozent geschätzt. Für die Kommunalwahlen von 2001 bedeutet dies, dass die Beteiligung offiziell bei 67,2 Prozent lag, effektiv aber (unter Berücksichtigung der nicht registrierten Stimmberechtigten) nur bei etwa 57 Prozent.
In mancher Hinsicht erinnert diese Entwicklung an die in den Vereinigten Staaten, wo ein Rückgang der Wahlbeteiligung bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu beobachten war. Aktuell gibt bei den Präsidentschaftswahlen nur noch die Hälfte der Wahlberechtigten – bezogen auf alle wahlmündigen Bürger – ihre Stimme ab, bei den mid term elections (bei denen das Repräsentantenhaus und der halbe Senat neu gewählt werden) ist es nur noch ein Drittel. Die Wahlbeteiligung ist also noch niedriger als in Europa.
Nun mag man sich damit beruhigen, dass die Wahlen immer noch ihre doppelte Funktion des Parteien- bzw. Kandidatenwettstreits und der Legitimierung der politischen Macht erfüllen. Es gibt also nach wie vor Wahlsieger, und die mangelnde Begeisterung der Wähler ändert nichts daran, dass sie ihre Legitimierung aus den Wahlen beziehen. Aber auf welchen Tiefstand muss die Wahlbeteiligung sinken, bis den Gewählten diese Legitimation entzogen ist? Während in den Sechzigerjahren, zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung, die Wahlbeteiligung in den USA wieder anstieg, sinkt sie derzeit erneut. Diese beunruhigende Entwicklung geht mit weitreichenden Veränderungen einher. Der US-amerikanische Soziologe Robert Putnam verweist in seinem Bestseller „Bowling Alone“ (1999) ganz allgemein auf ein abnehmendes gesellschaftliches Engagements in allen Formen.1
Aber wie ließe sich die Wahlbeteiligung erhöhen? Der Verfasser einer Studie über „Das Verschwinden des amerikanischen Wählers“2 hat einige wichtige Lösungsvorschläge begutachtet und einen Katalog möglicher und wünschenswerter Maßnahmen zusammengestellt: Einerseits müsse das Registrierungs- wie das Wahlverfahren vereinfacht werden, damit die Bürger ohne großen bürokratischen Aufwand an der Wahl teilnehmen können. Andererseits solle man die Vorteile des Wählens hervorheben und dem Wahlakt eine verstärkte symbolische Bedeutung verleihen.
Solche auf Aufwand-Ertrag-Überlegungen beruhende Lösungsvorschläge werden jedoch allenthalben mit Skepsis gesehen. Zwar sollen sie den prinzipiell überzeugten Wählern den Urnengang erleichtern, aber die Wahlunwilligen können sie wohl nicht überzeugen. Ein solcher utilitaristischer Ansatz könnte vielmehr die Auffassung bestärken, dass Wählen ohnehin nicht lohnt, weil die Stimme jedes Einzelnen sich im Gesamtergebnis nur als verschwindender Bruchteil niederschlägt. Überdies lassen sich Mühe und Aufwand nicht vollständig vermeiden, während der anvisierte Ertrag einzig und allein in der Befriedigung des Wählers besteht, dass er seine Bürgerpflicht erfüllt hat. Die vorgeblich rationale Argumentationslinie von „Aufwand“ und „Ertrag“ operiert unterschwellig also doch mit der Moral. Bei den letzten US-Präsidentschaftswahlen sollten Änderungen im Wahlverfahren (zum Beispiel die Briefwahl und die Möglichkeit, sich erst beim Urnengang in die Wahlliste eintragen zu lassen) die Wahlbeteiligung erhöhen, doch scheinen diese Maßnahmen kaum gefruchtet zu haben. Oder wäre ohne sie das Ergebnis womöglich noch schlechter ausgefallen?
Schon im Frankreich des Jahres 1848 stand in den Anleitungen für Wähler der schulmeisterliche moralische Appell im Vordergrund. „Wählen ist eine Bürgerpflicht“, hieß es damals. Auf dieselbe Parole setzte noch das 1999 sang- und klanglos verschwundene Centre d‘information civique3 ; und auf solchen Appellen beruht selbst die Arbeit des Vereins Civisme et Démocratie (CIDEM)4 , auch wenn er eine weniger ethisch und vorwiegend rationalistisch begründete Strategie verfolgt. Wenn es gelingt, die Staatsbürger davon zu überzeugen, sich in die Wahllisten einzutragen, dann werden sie – so der logische Schluss – am Ende auch wählen gehen. Allerdings kann im Endeffekt auch der Anteil der nicht abgegebenen Stimmen steigen, zumindest in Ländern wie Frankreich, wo die Wahlbeteiligung anhand der in den Wahllisten Registrierten errechnet wird: Ein neu eingetragener Wähler mag tatsächlich zur Wahl gehen, kann aber genauso gut am Ende zu Hause bleiben – und dann fällt er statistisch nicht mehr unter den Tisch, sondern trägt dazu bei, dass die Wahlbeteiligung sinkt.
Der moralische Appell, dass es sich einfach gehöre, zur Wahl zu gehen – und zwar zum Besten der eigenen Person wie der Mitmenschen – wird immer wieder mit der Behauptung begründet: „Für das allgemeine Wahlrecht haben Menschen ihr Leben hingegeben.“ Doch dieses Argument hat mit profunder Kenntnis der Geschichte nicht allzu viel zu tun hat und lässt sich historisch gesehen kaum halten.5 Und doch drückt sich darin die Überzeugung aus, dass allgemeines Wahlrecht und Demokratie untrennbar zusammengehören. In Verbindung mit einem gewissen Konformitätsdruck behält das moralische Argument häufig die Oberhand gegenüber Ansichten und Überzeugungen, und zwar mit einer leidenschaftlichen Vehemenz, die an die Grenzen der Toleranz gerät.
Die klassischen Maßnahmen gegen die Wahlmüdigkeit – wie vereinfachte Registrierung oder Moralappelle – beruhen auf der Kenntnis der Beweggründe, die Staatsbürger zu Nichtwählern machen. Da vergessen junge Erwachsene, sich rechtzeitig in die Wahlliste eintragen zu lassen. Alte Menschen versäumen es, sich nach einem Wohnortwechsel erneut registrieren zu lassen. Oder das Desinteresse an einer bestimmten Wahl kann zur „Initialzündung“ werden, der Wähler veranlasst, immer öfter zu Hause zu bleiben. Die genannten Maßnahmen können solche Entwicklungen hie und da vielleicht eindämmen, doch sie bieten keine Antwort auf die entscheidende Frage: Warum und zu welchem Zweck sollen wir wählen gehen?
Die Verlockung ist groß, für die geringe Wahlbeteiligung jeweils konkrete politische Ursachen auszumachen: die Krise des Politischen, den Mangel an „markanten“ Programmen bei den Kandidaten oder auch mangelndes gesellschaftliches Engagement bei den Wählern. Die Erklärungen der politischen Kommentatoren fallen allerdings oft zu moralisch aus, und die Kategorien geraten ihnen durcheinander.
In der Regel sind die Erklärungen entweder zu allgemein oder zu speziell. Mit schöner Regelmäßigkeit wird beispielsweise auf den Faktor „politische Enttäuschung“ verwiesen und auf die dafür Verantwortlichen. Wobei dahingestellt bleibt, wer eigentlich der Enttäuschte ist – der jeweilige Kommentator oder der Wähler. Derartige generelle Vorwürfe sind wahrlich nicht neu und haben auch keinen Bezug zu der sinkenden Wahlbeteiligung. Andere Kritikpunkte sind wiederum so speziell, dass der Zusammenhang mit einem mehr oder weniger alle Länder betreffenden Phänomen nicht nachvollziehbar wird.
Nicht wählen zu gehen ist traditionell ein Abstimmungsverhalten, mit dem die untersten sozialen Schichten sich selbst von der Wahl ausschließen und ihre gesellschaftliche Marginalisierung fortschreiben. Der Politologe Walter Dean Burnham hat diesen Sachverhalt für die Vereinigten Staaten in der Beobachtung zusammengefasst, dass die obere Hälfte der Bevölkerung wählen geht und die untere Hälfte zu Hause bleibt.
Allerdings: Diese Korrelation trifft umso weniger zu, je stärker die Zahl der Nichtwähler anwächst. Auch neue soziale Schichten – erstaunlicherweise vor allem die wohlhabendsten – verzichten zunehmend darauf, sich mit ihrer Stimmabgabe an der gesellschaftlichen und politischen Meinungsbildung zu beteiligen. Neuerdings sind es offenbar gerade die Doppelverdiener-Haushalte – mit ihrer ganz auf die Arbeit und den hohen Lebensstandard konzentrierten Existenzweise –, die sich am wenigsten für die öffentlichen Belange zuständig fühlen. Diese Entwicklung dürfte aufgrund der großen Zahl junger und gut ausgebildeter Menschen weiter zunehmen.
Jüngste Umfragen haben ergeben, dass die Bürger formal das Wahlrecht wahrnehmen und an der Notwendigkeit, zu wählen, festhalten, dass sie aber den Sinn und Zweck des Urnengangs nicht mehr recht einsehen. In einer Art gutartigen Schizophrenie bekräftigen sie: „Ja, es ist wichtig, zu wählen, aber es bringt nichts.“ Ein Indiz hierfür ist auch die gestiegene Zahl von leeren oder ungültigen Stimmzetteln bei den letzten französischen Wahlen, etwa beim Referendum über die verkürzte Amtszeit des Präsidenten. Während knapp 70 Prozent der Wähler erst gar nicht wählen gingen, gaben noch einmal 4,86 Prozent der registrierten Wähler leere bzw. ungültige Stimmzettel ab. Im Grunde bedeutet ein solches Abstimmungsverhalten: Man votiert prinzipiell für die Wahl, will aber zwischen den zur Wahl stehenden Alternativen keine Entscheidung treffen.
Sofern die traditionellen Nichtwähler ihre Gründe überhaupt zu erklären oder zu rationalisieren versuchen, bringen sie ein Gefühl politischer Ohnmacht und Entrechtung zum Ausdruck. Könnte es sein, dass die neue Wahlverdrossenheit der wohlhabenden Schichten ähnliche Ursachen hat? Zwar teilen sie das allgemeine Gefühl der Ohnmacht nicht, aber dass ihre Stimmabgabe nutz- und folgenlos bleibt, diese Auffassung ist auch unter ihnen weit verbreitet. Bezeichnenderweise gehören die neuen Nichtwähler gesellschaftlichen und beruflichen Milieus an, in denen die Erfahrung wechselseitiger Abhängigkeit besonders stark erlebt wird. Zugleich sind dies Milieus, in denen die Überzeugung vorherrscht, dass man die Entscheidungszentren verlagern (zum Beispiel weg von Politik und Staat und hin zur Wirtschaft und in die großen Unternehmen) und die Entscheidungen eher dezentral fällen müsse – und solche Vorbehalte sind ja tatsächlich nicht ganz unbegründet.
Wenn das politische Geschehen im globalen Maßstab zunehmend staatlicher Kontrolle zu entgleiten droht und mehr und mehr von Märkten geregelt wird, deren Zentren sich überall und nirgends befinden – beziehungsweise an den wichtigsten Börsenplätzen –, dann muss man den Wählern neue Gründe darlegen, weshalb sie wählen sollen. Es ist schon ein erstaunliches Phänomen: Dieweil die Markt- und Globalisierungspropheten die einschlägigen Entwicklungen als unvermeidlich darstellen und die Bürger auffordern, sich der Herrschaft des Notwendigen zu beugen, scheint ihnen zu entgehen, dass sie diesen Bürgern damit auch jedes vernünftige Motiv zur Teilnahme am politischen Entscheidungsprozess mittels Stimmabgabe nehmen – und sei es nur das Motiv, die demokratische Fassade zu erhalten und die Regierungen abzusegnen.
Dass sich der Glaube an die Herrschaft des Notwendigen immer weiter verbreitet, zeigt sich schon in der Auflösung der klaren Unterschiede zwischen den politischen Parteien und Kandidaten. Damit schwindet freilich auch die Möglichkeit, eine echte Wahl zu treffen – und zu welchem Zweck sollten Wahlen gut sein, wenn nicht zu diesem? Die zunehmende Abkehr der Bürger vom überkommenen Meinungsbildungsprozess per Urnengang lässt sich mit technischen Maßnahmen oder Werbekampagnen nicht bekämpfen. Es käme vielmehr darauf an, neue Antworten und Konzepte zu finden und der Teilnahme an Wahlen wieder einen Sinn zu geben.
dt. Passet/Petschner
* Professor für Politologie an der Universität Paris X-Nanterre, Verfasser von „Histoire sociale du suffrage universel en France. 1848–2000“, Paris 2002.