12.04.2002

Virtuelle Umma

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Virtuelle Umma

AUS den Umwälzungen im Gefolge der Globalisierung ist eine neue Strömung des Islam entstanden, die sich darauf beschränkt, verbindliche Lebensregeln festzulegen. Dieses schlichte Regelwerk soll überall anwendbar sein – in der afghanischen Wüste wie am amerikanischen College. Kulturelle Eigenheiten bleiben außen vor. Dieser kodifizierte Fundamentalismus schließt eine religiöse Marktlücke und ist zugleich Mitursache und Wirkung des weltweit zu beobachtenden kulturellen Identitätsverlusts.

Von OLIVIER ROY *

Gemäßigte oder traditionell orientierte Muslime sprechen vom „wahhabitischen“ Islam, um jene Glaubensrichtung zu kennzeichnen, die in den Madrassen der Taliban im Süden Afghanistans ebenso propagiert wird wie auf islamischen Internetseiten und in zahlreichen Moscheen der Vorstädte von London oder Paris. Die Anhänger dieser Richtung lehnen die Bezeichnung zumeist ab und bezeichnen sich als „Salafisten“1 , also als Anhänger einer Strömung, die eine buchstabengetreue Auslegung des Korans vertritt. Die gesamte Entwicklung nach der idealen muslimischen Gemeinschaft zur Zeit des Propheten gilt dieser Strömung als Irrweg.

Dieser Neofundamentalismus2 will die Scharia auf alle Formen menschlichen und sozialen Verhaltens verbindlich anwenden. Entsprechend lehnt er alle kulturellen Zusammenhänge außerhalb der strikt religiösen Sphäre ab: Bildhauerei, Musik, Philosophie und Literatur ebenso wie die Aneignung lokaler (fremder) Sitten – etwa den Brauch, das Neujahrsfest zu feiern oder einen Weihnachtsbaum zu schmücken. Das Verhältnis der Salafisten zum wissenschaftlich-technischen Fortschritt ist gespalten. Den Computer akzeptiert man aus pragmatischen Gründen, aber mit wissenschaftlicher Ratio will man nichts zu tun haben. Christentum, Judentum und auch der schiitischen Islam werden bekämpft: Die Ermordung der Mönche im algerischen Tibéhirine zeigt dies ebenso wie die Ablehnung von Kirchenbauten in Saudi-Arabien – im Gegensatz etwa zur Haltung der ägyptischen Muslimbruderschaft gegenüber den Kopten3 oder zur Situation im Iran, wo es kaum Spannungen zwischen Muslimen und Christen gibt. Den Fundamentalisten dieser Richtung geht es vor allem um die eindeutige Abgrenzung des wahren Glaubens (ad-din) gegen den Unglauben (kafir). Die Grenze verläuft quer durch die Umma, die Gemeinschaft der Muslime. Jedes religiöse oder kulturelle Einlassen auf die westliche Kultur wird verteufelt. Entscheidend ist letztlich nur: Was ist erlaubt und was nicht. Dabei geht es mitunter um so banale Fragen wie die Art, sich die Zähne zu putzen. Die wichtigste Tätigkeit der Religionsgelehrten ist folglich, alles und jedes (von der Kreditkartenbenutzung bis zur Organspende) durch eine Fatwa zu regeln.

Diese fundamentalistische Bewegung hat sich jedoch in höchst unterschiedlichen sozialen und politischen Zusammenhängen etablieren können. Eine Vereinigung wie die „Dschamaat at-Tabligh“ ist unpolitisch und gesetzestreu. Aber überall in Europa verkünden die Imame am Freitag in den Stadtteilmoscheen, dass Mädchen den Schleier tragen und nicht am Sportunterricht teilnehmen sollen, dass Muslime Frauen nicht die Hand geben und auf Neujahrskarten nicht antworten sollen. In London rufen Prediger wie Abu Hamsa und Omar Bakr zum Dschihad auf .

Mit sehr radikalen Parolen tritt die in London residierende Hisb ul-Tahrir (Partei der Befreiung) an, die ihre Anhänger unter den jungen Muslimen der zweiten Einwanderergeneration rekrutiert. Sie ruft zur sofortigen Wiedererrichtung des Kalifats4 auf und lehnt jede Teilnahme am sozialen und politischen Leben des Aufnahmelandes strikt ab, hütet sich aber, vom Dschihad zu sprechen.

Der saudi-arabischen Wahhabismus – benannt nach dem Gründer Muhammad Abd al-Wahhab (ca. 1703–1792) – geht inseiner buchstabentreuen Schriftgläubigkeit und in der Ablehnung all dessen, was nicht ursprünglich islamisch ist, besonders weit. Die Wahhabiten ließen sogar das Grabmal des Propheten zerstören, damit es nicht zur Kultstätte werde. Gegründet hat sich diese Sekte in Abgrenzung zu anderen islamischen Strömungen, nicht gegen den Westen, mit dem das wahhabitische Königshaus der Saud politisch verbündet ist. Kulturelle und religiöse Einflüsse aus dem Westen sind allerdings nach wie vor verpönt – daher der Dauerkonflikt um die Anwesenheit der US-Truppen. Saudische Fernsehprogramme für Muslime im westlichen Ausland verurteilen jede Form der kulturellen Integration, verteidigen aber gleichzeitig die proamerikanische Haltung des Königshauses.

Auch Organisationen wie die Bewaffnete Islamische Gruppe (GIA) in Algerien oder die al-Qaida predigen natürlich den Dschihad. Al-Qaida hat sich auf die USA eingeschossen, die GIA hingegen propagiert zwar auch ein Algerien ohne Christen, richtet ihren Kampf aber vor allem gegen die anderen Muslime, allen voran gegen die Islamische Heilsfront (FIS), die nicht mit der GIA zusammengehen wollte. An Widersprüchen und Fehden fehlt es ohnehin nicht: So kritisieren die Salafisten die von der Dschamaat at-Tabligh eingeführten „Neuerungen“ wie die Aussendung von Missionaren (chorudsch); die Anhänger Ussama Bin Ladens verabscheuen die saudische Monarchie, und Hisb ul-Tahrir ist nicht bereit, sich dem von Bin Laden propagierten Dschihad anzuschließen. Kern der Auseinandersetzung ist die Frage, welchen Zielen der Dschihad dienen soll. Gemeinsam ist diesen Gruppierungen eine strenge Anwendung der Scharia, die Ablehnung kultureller Autonomie und die Verpflichtung des Einzelnen zur strengen religiösen Praxis.

Solche Strömungen kennt der Islam seit seinen Anfängen. So erinnern die afghanischen Taliban an die Almohaden: Wie bei jener Berberdynastie im Maghreb des 12. und 13. Jahrhunderts haben sich die Stammesverbände – hier die paschtunischen – um einen charismatischen Führer geschart und versuchen, der städtischen Bevölkerung einen streng an der Scharia orientierten Islam aufzuzwingen. Die Frage ist allerdings, wie eine solche Bewegung heute unter den im Westen lebenden Muslimen Erfolg haben kann. Entscheidendes Instrument sind die islamischen Bildungseinrichtungen, wie die Madrassen in Pakistan oder die zahlreichen islamischen Institute in Saudi-Arabien und in den Golfstaaten. Von dort stammen die Imame, die im Westen neue Moscheen gründen oder von bestehenden Gemeinden als Prediger berufen werden. Am besten ist die Missionstätigkeit (dauat) bei Dschamaat at-Tabligh organisiert: Sie haben international zusammengesetzte Missionarsgruppen, die unter der muslimischen Bevölkerung praktisch von Tür zu Tür gehen. Wie die „Wahhabisierung“ der Glaubenserziehung funktioniert, konnte man vor allem in Pakistan verfolgen. Dort geriet die so genannte Deoband-Schule, die einst für die Behauptung der persischen kulturellen Identität und ihrer sprachlichen und literarischen Tradition stand, innerhalb von zwei Jahrzehnten unter den Einfluss wahhabitischer Autoritäten und Geldgeber, die den Dschihad der Afghanen gegen die Sowjetunion unterstützten.

Bei der Ausbreitung des modernen Neofundamentalismus haben die Saudis eine entscheidende Rolle gespielt. Um dem arabischen Nationalismus, dem iranischen Schiismus und dem Kommunismus das Wasser abzugraben, propagierten sie eine äußerst konservative und doktrinäre Lesart des sunnitischen Islam, mit stark antiwestlicher Ausrichtung – die wahhabitische Geistlichkeit in Saudi-Arabien ist vom Königshaus der Saud weitgehend unabhängig. Ihre Strategie war es, ihre religiöse Auffassung nicht unter dem Etikett „Wahhabismus“ zu exportieren, sondern auf die religiösen Bildungseinrichtungen der anderen Richtungen Einfluss zu nehmen, wobei die Errungenschaften der großen islamischen Kulturen der Welt relativiert werden und die Stellung der hanbalitischen, der schriftgläubigsten unter den vier Rechtsschulen des Islam, gestärkt werden sollte. (Deren Begründer, der Imam Ahmad Ibn Hanbal, war der Lehrer von Mohammed Abd al-Wahhab.) Wo ihnen das gelang, wurde der Lehrstoff verknappt – zugunsten kürzerer Anleitungen im Geiste des fiqh (der islamischen Rechtswissenschaft) und der ibadat (Glaubenspflichten). Auch die Ausbildungsdauer reduzierte sich: Hatte ein alim (Korangelehrter) zuvor in der Regel etwa fünfzehn Jahre studieren müssen, so genügten nun drei bis fünf Jahre. Die geistlichen Lehrer, wie die kürzlich verstorbenen Scheichs Ibn Bas und Al-Albani, befassten sich vorwiegend mit der Ausarbeitung von Fatwas (also Rechtsgutachten nach dem Koran) und von Traktaten über alles, was erlaubt und verboten ist. Diese finden auch im Internet Verbreitung.

Die Saudis stellten ihre finanziellen Mittel ganz in den Dienst der Verbreitung dieser Glaubensrichtung. Organisationen wie die Islamische Welt-Liga (Rabita al-Alam al-Islami) und die Islamische Weltmission (Dawah Wal Irshaad) haben unzählige neue islamische Institute und Koranschulen ins Leben gerufen. Das Geld kommmt häufig von islamischen Banken in Saudi-Arabien oder von reichen Geschäftsleuten, die durch derlei direkte Zuwendungen ihrer Almosenpflicht (sakat) genügen. Natürlich war das auch eine Kampfansage an die traditionellen Zentren religiöser Bildung, wie etwa die Al-Azhar-Universität in Kairo. In Saudi-Arabien erhalten Koranstudenten heute höhere Stipendien und finden bessere Studienbedingungen vor als in Ägypten. Und für einen jungen Afghanen in einem pakistanischen Flüchtlingslager ist es wesentlich leichter, ein Stipendium für das Studium des Islam in Saudi-Arabien zu erhalten als etwa politisches Asyl in Australien.

Dieser saudische Propagandafeldzug fand bei den wichtigsten Ländern der islamischen wie der westlichen Welt stillschweigend Zustimmung. Damals, in den 1980er-Jahren, sah man darin ein nützliches Werkzeug gegen die radikalen Bewegungen der Zeit – den iranischen Islamismus und den Kommunismus. Angesichts der ausgezeichneten Beziehungen zwischen der saudischen Monarchie und den westlichen Regierungen schien es kein Problem, die islamische Missionsbewegung politisch unter Kontrolle zu halten. Warum hätte man also Visaanträge ablehnen sollen, die von einer saudischen Botschaft gestellt wurden?

Aber Geld ist nicht alles. Der anhaltende Erfolg des Neofundamentalismus beweist, dass er eine religiöse „Marktlücke“ schließt. Denn die „klassischen“ Vertreter der neuen islamistischen Bewegung – die türkische Wohlfahrtspartei (Refah), die algerische Heilsfront (FIS), die libanesische Hisbullah, die palästinensische Hamas und auch Teile der ägyptischen Muslimbrüder – sind entweder unterdrückt oder durch Teilhabe an der Macht gezähmt worden. Sie sind, wie Hamas und Refah, heute eher nationalistische denn islamistische Bewegungen.

Den jungen Muslimen, die nicht in ihrem „Heimatland“, sondern in der Fremde leben – als Emigranten, Exilanten oder Studenten – und sich keiner „nationalen Sache“ recht verpflichtet fühlen, haben sie nichts mehr zu bieten. Das gilt zum Beispiel für die palästinensischen Flüchtlinge von 1948 (wie die Bewohner des Lagers Ain Helweh im Libanon), denen klar ist, dass auch die Umsetzung eines israelisch-palästinensischen Friedensvertrags ihnen nicht die Rückkehr in ihre Heimatorte bringen wird, aber ebenso für Arbeitsmigranten in den Golfstaaten, für Saudis, die nicht zu den politisch bestimmenden Kreisen zählen, für junge Korangelehrte, die sich von einem Stipendium zum anderen hangeln und in dem oder jenem Land eine Anstellung suchen. Bei den von Saudi-Arabien finanzierten internationalen Organisationen sind zahlreiche Muslimbrüder beschäftigt, die in ihren Heimatländern keine Arbeit finden. Englisch und das moderne Schriftarabisch verdrängen allmählich die Muttersprachen.

Natürlich gibt es verschiedene Formen der Religiosität, die den neuen Bedürfnissen einer über die Welt verstreuten muslimischen Bevölkerung gerecht werden können, aber der Neofundamentalismus bietet die perfekte Lösung: Als Antwort auf die Erfahrung des Identitätsverlusts bietet er eine Neufassung des Islams mit universeller Geltung, in dem lokale Traditionen und Gebräuche keine Rolle mehr spielen und der darum allen Gesellschaften angepasst werden kann.

Er definiert die globalisierte Welt als eine Art virtuelle Umma, die nur noch durch die gemeinsame Anstrengung aller Muslime verwirklicht werden muss. Dieser Appell ergeht nicht mehr an die bestehenden Gemeinschaften, sondern an isolierte Einzelne, die Rückhalt in Glauben und Identität suchen. Den Neofundamentalisten ist es damit gelungen, die Globalisierung zu islamisieren – was als Bedingung für das Entstehen einer weltweiten Gemeinschaft der Muslime angesehen wird, vorausgesetzt, die heute vorherrschende westliche Kultur amerikanischen Zuschnitts wird entthront. Damit tun die Fundamentalisten nichts anderes, als den US-amerikanischen Universalitätsanspruch spiegelverkehrt nachzubilden: McHalal (halal = rechtmäßig) statt einer Rückkehr zu den Tafelfreuden der Kalifen.

Der Islam der Neofundamentalisten ist reduziert auf ein schlichtes System von Verhaltensregeln als Gebrauchsanleitung zur Rechtgläubigkeit, die in der afghanischen Wüste ebenso funktionieren soll wie an der amerikanischen Universität und die von der Verschiedenheit der Lebensweisen nichts wissen will. Der Islam der Taliban, der saudische Wahhabismus und der Radikalismus eines Bin Laden stehen der Kultur mit ihren Errungenschaften feindselig gegenüber, auch der muslimischen: An der Zerstörung des Grabmals des Propheten, an der Sprengung der Buddhastatuen von Bamyan und am Angriff auf die Twin Towers in New York zeigt sich jene antizivilisatorische und kulturfeindliche Haltung, die etwas vorschnell als „nihilistisch“ apostrophiert wurde.

Sie sind keineswegs Nihilisten, sondern eben Fundamentalisten: Ihnen geht es um die Rückkehr zu einem reinen, ursprünglichen Islam, der durch Menschenwerk verformt wurde. Ihr Beharren auf der Umma ist ein Angebot an jene Muslime, die sich keiner der bestehenden Nationen und keinem Territorium mehr zugehörig fühlen. Diese imaginäre Umma ist durchaus konkret: Sie gehört zur globalisierten Welt, in der sich die Vereinheitlichung von Sprache und Verhalten entweder nach dem vorherrschenden amerikanischen Modell (mit McDonald‘s und der englischen Sprache) vollziehen wird oder nach dem imaginären Gegenmodell (mit weißer Dschellaba, Bart und – der englischen Sprache). Die Haltung der Neofundamentalisten hat Ähnlichkeit mit den Positionen protestantischer fundamentalistischer Sekten, die ebenfalls ihren Moralkodex über jede Kultur stellen – und gerade bei jenen Schichten Erfolg haben, die ihre kulturelle Identität vor kurzem verloren haben, wie die Latinos in den USA. Für beide Fundamentalismen ist die spirituelle Wiedergeburt (to be born again) ein zentrales Motiv, schließlich will man ja gerade Menschen erreichen, die mit ihrer Vergangenheit gebrochen haben (und häufig auch mit ihren Familien, wie die jungen Terroristen, die die Flugzeuge in die Twin Towers steuerten).

Die Idee der Wiedergeburt erlaubt es zudem, ohne den Umweg über das Wissen Prediger zu werden: Um die Wahrheit zu sagen, muss man nicht studiert haben.

Die politische Radikalisierung basiert zudem auf der Islamisierung eines Teils der antiimperialistischen und der Dritte-Welt-Bewegungen.5 Zwischen der Fortentwicklung des Neofundamentalismus und dem Terrorismus besteht jedoch keine automatische Verbindung.

dt. Edgar Peinelt

* Forschungsdirektor am Centre nationale des recherches sociales (CNRS). Neuere Publikationen: „L‘Échec de l‘Islam politique“, Paris (Le Seuil) 1992, und „Généalogie de l‘Islamisme“, Paris (Hachette) 2002.

Fußnoten: 1 Abgeleitet von al-aslaf (die Ahnen), gemeint sind hier die Rechtgläubigen in der Gründungszeit des Islam, d. h. die Gefolgsleute des Propheten Mohammed. 2 Siehe Olivier Roy, „L‘Échec de l‘Islam politique“, Paris (Le Seuil) 1992. 3 Die ägyptischen Muslimbrüder waren stets um die Vermeidung von religiösen Auseinandersetzungen bemüht und haben wiederholt die Christen integriert. Dem Führungsgremium der ägyptischen Partei al-Wasat (Die Mitte) gehört sogar ein prominentes Mitglied der anglikanischen Glaubensgemeinschaft an. 4 Offiziell abgeschafft wurde das Kalifat 1924 durch Kemal Atatürk, den Begründer der modernen Türkei. 5 „L‘Islam de Ben Laden“, in: „La Guerre des Dieux“, Sonderheft des Nouvel Observateur, Januar 2002.

Le Monde diplomatique vom 12.04.2002, von OLIVIER ROY