12.04.2002

Zug nach Nirgendwo

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Zug nach Nirgendwo

Von MARC NUSSBAUMER *

IN Ken Loachs neuem Film „The Navigators“ wird gezeigt, wie die Fiktion von der Realität noch übertroffen wird. Die Schauspieler eines kleinen Theaters in der Gegend von Sheffield bekommen ihre Stichworte von echten Eisenbahnern geliefert. Der Film demonstriert, wie sich die Lebensbedingungen der Streckenarbeiter verschlechtern und wie die Sicherheit zugunsten der Rentabilität vernachlässigt wird. Die Eisenbahner Paul, Mick, Len und Garry, eine solidarische Gruppe, müssen 1995 eines Morgens feststellen, dass sich ihr Leben radikal verändert hat: Als sie ihren Dienst im Bahndepot antreten wollen, erfahren sie, dass die Eisenbahngesellschaft privatisiert wurde. Eine eilig angebrachte Tafel informiert sie darüber, dass sie fortan für die „East Midlands Infrastructure“ arbeiten werden. Kurze Zeit später taucht ein neues Schild auf: „Gilchurch Industry“.

Die Manager der neuen Bahngesellschaft versuchen sogleich, den Lohn der Bahnarbeiter zu drücken: „Einfach seine Arbeit machen, das reicht jetzt nicht mehr!“ Es gehe darum, „Aufträge zu akquirieren“ und „sich auf dem Markt gegen die Konkurrenz zu behaupten“. Die neuen Chefs stellen die Lohnempfänger vor folgende „Alternative“: Entweder ihr akzeptiert die neuen Arbeitsbedingungen, oder ihr unterschreibt eure Kündigung und bezieht eine bescheidene Abfindung.

Die Szenen, in denen die Arbeiter gezwungen werden, ihr Werkzeug zu zerstören, damit das Konkurrenzunternehmen es nicht benutzen kann, zeigen lediglich die Realität, wie sie in der Zeit nach der Privatisierung aussah. In Beckenham Junction mussten Railtrack-Angestellte einen Brand mit Schlamm löschen, weil der Feuerlöscher einer anderen Bahngesellschaft gehörte: Auf einer Hinweistafel wurden für die Benutzung der Feuerlöscher sogar Disziplinarmaßnahmen angedroht. Und weil das Management davon ausging, zwischen den Städten Teignmouth und Torre würden viele Schüler fahren, erhöhten sie den Preis der Schülermonatskarte auf dieser Strecke um 50 Prozent.

Das Schlüsselwort lautet: „Rentabilität“. Mit der Privatisierung von British Railways (BR) wurde das Unternehmen ab 1994 in etwa hundert selbstständige Profitcenter aufgeteilt, deren Zusammenarbeit vertraglich geregelt ist. Die neue Struktur, die der Privatisierungsplan vorsieht, besteht aus Railtrack, den Franchising-Dienstleistern im Personenverkehr und den Leasing-Firmen für das Bahnmaterial. Die Organisation wird von mehreren Behörden kontrolliert: Der Franchising-Direktor ist für Abschluss, Bewilligung und Kontrolle der Franchise-Lizenzen verantwortlich; der Dispatcher ist für die Nutzung der Gleisanlagen zuständig und soll die Konkurrenz auf diesem Sektor fördern; eine gesonderte dritte Instanz schließlich kontrolliert die Einhaltung der Sicherheitsbestimmungen.

Für den Bereich des Personenverkehrs beschloss die Regierung, die Dienstleistungen nach dem Franchise-Modell zu organisieren. Dieser Betriebsbereich von British Railways wurde in 25 separate Gesellschaften (Train Operating Companies = TOC) aufgeteilt. Um eine TOC managen zu können, müssen die Betreiber zunächst die Zustimmung des Dispatchers einholen.

Ihre wesentlichen Einkünfte beziehen die Franchise-Unternehmen aus dem Fahrkartenverkauf. Sie können Subventionen beanspruchen, wenn sie unrentable Linien oder Züge betreiben, die als öffentliche Dienstleistungen angeboten werden müssen. Sie können Bahnhöfe ganz oder teilweise untervermieten, etwa an Geschäfte oder Restaurants. Die wichtigsten Ausgaben betreffen den Gleisbetrieb, die Miete für Bahnhöfe, die Kosten für rollendes Material und für das Personal.

Um die Skeptiker zu beruhigen, erklärte die Regierung, sie werde sich besonders um die Sicherheit, die Qualität der Dienstleistungen und den Erhalt der Regional- oder Vorortlinien kümmern. Acht Jahre nach der Privatisierung von British Railways sieht die Bilanz allerdings ausgesprochen düster aus. Die Fahrgäste beschweren sich massenhaft über mangelnde Informationen, verdreckte Waggons, verspätete und ausfallende Züge, aber auch die Unfälle häufen sich. Doch nicht für alle war die Privatisierung ein Unglück: Die Bahnspekulanten haben ihren Schnitt gemacht.

Als im Verlauf der Privatisierungsdebatte die Frage aufkam, ob die einzelnen privatisierten Sektoren überhaupt rentabel sind, erzählte Hugh Jenkins von der Universität Salford folgendes Gleichnis: „Eines Tages strandeten fünfundzwanzig Antiquitätenhändler auf einer einsamen Insel; das Einzige, was sie retten konnten, war der Tisch des Kapitäns. Sie wurden erst sieben Jahre später entdeckt. Dennoch hatten sie es zu Wohlstand gebracht, indem sie sich den Tisch gegenseitig verkauften und immer wieder zurückkauften!“1

Mit seiner Prognose sollte er recht behalten. Seit der Privatisierung sind die Chefs der Unternehmen reich geworden, vor allem dank der stock options. So stieg der Aktienkurs der Railtrack-Gruppe PLC zwischen 1996 und 1998 um 300 Prozent. Die einfachen Bahnarbeiter müssen „produktiver“ werden, damit sich der Wert des Kapitänstisches erhöht.

Die Eisenbahner büßten elementarste Errungenschaften ein. So wurden sie früher von der Firma zum Arbeitsplatz transportiert, heute müssen sie dazu häufig ihr eigenes Fahrzeuge benutzen. Auch verloren sie ihren Anspruch auf bezahlten Urlaub und bezahlte Krankheitstage.

Die Arbeitsbedingungen verschlechterten sich, ohne dass sich nennenswerter Widerstand geregt hätte, da sich das Kräfteverhältnis zwischen Gewerkschaften und Firmenchefs zugunsten der Bosse verschoben hat. Zudem fiel die Neustrukturierung des Unternehmens in eine Periode radikal gewerkschaftsfeindlicher Politik.

Ende der Siebzigerjahre attackierten die Konservativen die sehr starke Macht der Gewerkschaften, die sie als „Staat im Staate“ denunzierten. 1978 und 1979 erlebte die Regierung von James Callaghan einen harten „Winter des Missvergnügens“ mit zahlreichen Arbeitsniederlegungen im öffentlichen Dienst.

Margaret Thatcher schränkte den Einfluss der Gewerkschaften durch außerordentlich restriktive Gesetze ein: Das gewerkschaftliche Einstellungsmonopol darf in einem Betrieb nur noch mit Zustimmung der gesamten Belegschaft verlängert werden; das Streikrecht wird stark eingeschränkt; der Einsatz fliegender Streikposten und Hilfe von außerhalb sind verboten. 1982 wurde ein nach Arbeitsminister Norman Tebbit benannte Gesetz verabschiedet, das die Entlassung streikender Arbeitern ohne gerichtliche Entscheidung erleichtert. Und eine Gewerkschaft konnte wegen „illegaler Aktionen“ auf Schadensersatz verklagt werden – was sie je nach Mitgliederzahl zwischen 10 000 und 250 000 Pfund (16 000 bis 400 000 Euro) kosten kann.

1983 verkündete die Regierung Thatcher drei Maßnahmen zur weiteren Schwächung der Gewerkschaften. Die Verbände mussten fortan ihre Funktionäre alle fünf Jahre in geheimer Abstimmung und durch sämtliche Mitglieder neu wählen lassen. Damit hofften die Konservativen, die Wahl „gemäßigter“ Gewerkschaftsführer zu begünstigen, wobei sie vor allem auf den Einfluss der Medien setzten. In den Augen der Gewerkschafter widersprachen diese Bestimmungen der – auch von Großbritannien ratifizierten – internationalen Konvention Nr. 87 der International Labour Organization (ILO), die den Arbeitnehmerorganisationen das Recht gibt, „ihre eigenen konstitutiven Regeln festzulegen“. Bezeichnend ist, dass die Konservativen die gesetzlichen Prinzipien, die für die Gewerkschaften gelten, in der eigenen Partei nicht praktizieren.

Dieses antigewerkschaftliche Arsenal kam vor allem bei den Bahnunternehmen zum Einsatz und bewirkte bei sämtlichen Eisenbahnergewerkschaften einen radikalen Mitgliederschwund. Der lange Streik der Weichensteller von Railtrack im Jahre 1994 zeigte, dass es nach der Privatisierung immer schwieriger wurde, für soziale Fortschritte zu kämpfen und die Arbeitnehmer zu mobilisieren. Während des Konflikts drohte die Privatgesellschaft, Streikende zu entlassen und ihnen „persönliche Arbeitsverträge“ aufzuzwingen, nach denen sie verpflichten waren, auf Arbeitskämpfe zu verzichten, wenn sie neuerlich eingestellt werden wollten. Letztendlich wurden die Forderungen der Eisenbahner nicht erfüllt.

Die Angestellten der privaten Eisenbahngesellschaften arbeiten oft mehr als 72 Stunden pro Woche, und das zwei Wochen hintereinander ohne Ruhetag. Daraus erklärt sich zum Teil auch das häufige Überfahren von Haltesignalen: Die zuständige Sicherheitsbehörde hat eine Liste der 22 Bahnhöfe veröffentlicht, in denen mehr als fünfmal innerhalb von acht Jahren Haltesignale überfahren wurden. Allein 1988 wurden in 643 Fälle die Haltesignale nicht beachtet. Nach dem Zugunglück von 1988 bei Clapham Junction (35 Tote) hatte die Regierung versprochen, auf den Hauptlinien das Sicherheitssystem ATP (Automatic Train Protection) einzuführen. Doch bald stellte sich heraus, dass das Projekt für die Privatgesellschaften zu kostspielig war: Ihr Interesse an Investitionen in die Sicherheit war auch deshalb so gering, weil ihre Franchise-Verträge drei oder vier Jahre später auslaufen sollten.

Dann ereignete sich auf dem britischen Eisenbahnnetz eine ganze Serie von Zugunglücken: Bellgrove 1989 (2 Tote, 40 Verletzte), Cannon Street 1991 (2 Tote, 248 Verletzte), Newton 1991 (4 Tote, 22 Verletzte), Cowden 1994 (5 Tote, 12 Verletzte), Southall 1997 (7 Tote), Hatfield 2000 (4 Tote, 35 Verletzte), Selby 2001 (10 Tote), Lincolnshire 2002 (1 Toter, 12 Verletzte).

Auch während der Dreharbeiten zu „The Navigators“ kam es zu einer Katastrophe: Die Entgleisung eines Zugs in Hatfield forderte vier Menschenleben. Obwohl man aufgrund eines Berichts wusste, dass die Gleise defekt waren, waren keinerlei Reparaturen vorgenommen worden. Die Eisenbahner, die unter den Konservativen der Privatisierung zum Opfer fielen, werden auch von New Labour vergessen: Die erneute Verstaatlichung der Eisenbahn kommt für die Blair-Regierung nicht in Frage. Allerdings hat sie angekündigt, dass in den nächsten zehn Jahren rund 60 Milliarden Pfund in die Eisenbahn investiert werden müssen.

dt. Matthias Wolf

* Professor an der Université Nancy 2, Autor von „Tensions et conflits autour des chemins de fer britanniques au 20e siècle“, Annales Littéraires de l‘Université de Franche-Comté, Nr. 691, Besançon 2000.

Fußnote: 1 Philip Bagwell, „The Railways Bill 1993“, Public Enterprise Nr. 41, Frühjahr 1993.

Le Monde diplomatique vom 12.04.2002, von MARC NUSSBAUMER