Das große Umbauen
Es war die größte Kundgebung seit Kriegsende: Zwei Millionen Menschen demonstrierten nach der Ermordung des Regierungsberaters Marco Biagi in Rom gegen den Terrorismus, aber zugleich gegen die Sozialpolitik der Regierung Berlusconi. Hintergrund der anhaltenden Proteste sind die jüngeren Entwicklungen im italienischen Wirtschaftsleben. Sie haben an der Seite der alten Industriellenkaste einen neuen Unternehmertyp von Art der Condottieri hervorgebracht, der sich durch die Kombination von politischer, wirtschaftlicher und Medienmacht auszeichnet. Und der sich in Gestalt des omnipräsenten Ministerpräsidenten Berlusconi anschickt, auch in der deutschen Medienlandschaft Fuß zu fassen.
Von PIERRE MUSSO *
BLICKT man auf die Rangliste, auf der die OECD-Staaten nach dem Bruttosozialprodukt pro Kopf eingereiht sind, erlebt man eine Überraschung: Italien rangiert vor Schweden, während Großbritannien und Frankreich abgeschlagen auf Rang 19 liegen. Und doch verzeichnet das Land hohe Arbeitslosenzahlen, zumal unter der Jugend. Insgesamt gehört Italien also zu den reichen EU-Staaten und keineswegs zu dem europäischen „Club Med“, wie es offenbar gewisse Adepten des „rheinischen Kapitalismus“ annehmen. Italiens ehemaliger Ministerpräsident Giuliano d‘Amato hält die Bezeichnung „Zwergenkapitalismus“ für angebrachter und meint damit ein Wirtschaftssystem, das dominiert wird von einer Hand voll großindustrieller Familienunternehmen, um die herum sich unzählige Klein- und Mittelbetriebe tummeln. Die OECD bescheinigt Italien „eine duale Industriestruktur. Neben einer kleinen Zahl von Großunternehmen existiert ein ausgedehntes Netz von kleinen und mittleren Unternehmen.“ Seit Sommer 2001 ist der italienische Kapitalismus außer Rand und Band geraten. Die Tatsache, dass der reichste Mann Italiens – weltweit liegt er auf Platz 14 – zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, spiegelt diese Umstrukturierung wider und beschleunigt sie zugleich. Unter den 26 Ministern der Regierung Berlusconi sind 12 (kleine) Firmenchefs. Kurz: Unter der Regie des Medienzars, der seinen Wahlkampf ausschließlich mit der Parole bestritt, der Staat sei wie ein Unternehmen zu führen, entsteht ein neues Kapitalismusmodell: das Modell Italien.
Auf den ersten Blick erscheint der italienische Kapitalismus als höchst kompliziertes Geflecht aus Schattenwirtschaft und einem untereinander verflochtenen Firmenkonglomerat, aber letztendlich hat ein nationales Oligopol aus Großaktionären und Finanziers das Heft in der Hand. Um das Knäuel zu entwirren, muss man zunächst die historisch gewachsene Vielgestaltigkeit der italienischen Wirtschaft zur Kenntnis nehmen. Wir haben es also nicht etwa mit einem einheitlichen Ganzen zu tun, sondern mit mehreren unterschiedlichen Produktionssystemen, die sich auch geografisch verorten lassen.
Da ist zunächst das fordistische Modell, das in Italien gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand und den Apenninenstaat in einen reichen, industrialisierten Nordwesten und einen armen, agrarisch geprägten Süden spaltete. Zwei Herzen schlugen in diesem System: die Finanz und die Industrie. Das finanzielle Herzstück bestand lange Zeit aus drei Großbanken, die um die Wende zum 20. Jahrhundert gegründet wurden: der Banca Commerciale Italiana, der Credito Italiano und der vatikannahen Banca di Roma. Unter Federführung von Enrico Cuccia, dem Großregulator des Finanzsystems und Paten aller Geschäfte, schlossen sich diese drei Institute 1944 zur Mediobanca zusammen. Das industrielle Herz hatte sozusagen zwei Kammern: die beiden piemontesischen Großunternehmen Fiat und Pirelli, also Autos und Reifen. Ein halbes Jahrhundert lang steuerten die beiden Industriekapitäne Giovanni Agnelli und Carlo De Benedetti im Verein mit Mediobanca-Führer Cuccia den fordistischen Kapitalismus Italiens. Doch als Cuccia im Juni 2000 starb, brach die Troika auseinander. Eine Zeit totaler Umstrukturierung begann, in der sich zeigte, wie außerordentlich flexibel der transalpine Kapitalismus ist. Bereits in den Siebzigerjahren hatten im äußerst dynamischen Sektor der kleinen und mittleren Unternehmen zwei postfordistische Neo-Condottieri von sich reden gemacht: die Herren Gilberto Benetton und Silvio Berlusconi.
Seit dieser Zeit lassen sich in Italien drei wirtschaftsgeografische Einheiten unterscheiden: Da ist erstens das Industriedreieck im Nordwesten, das weiterhin von Fiat in Turin und Pirelli in Ivrea dominiert wird, umgeben von einem Netz kleine und mittlerer Zulieferbetriebe. Das ist zweitens der Mezzogiorno, wo nach wie vor Großgrundbesitz und Armut, Subventionsabhängigkeit und Bürokratie, Mafia und Schattenwirtschaft herrschen, wenngleich sich auch hier viele dynamische Kleinunternehmen hervortun.1 Und dann gibt es noch das „dritte Italien“ mit seinen spezialisierten Industrieregionen, in denen meist arbeitsintensive Industrien beheimatet sind: Textilien in Prato, Biella und Como, Schmuck in Arezzo, Möbel in Bassano und Pesaro, Spezialmaschinen in Modena, Brillen in Cadore, Schuhe in Macerata und Vigavano. Diese Klein- und Mittelbetriebe bilden inzwischen das Fundament der italienischen Wirtschaft. Fast die Hälfte der 4 Millionen Unternehmen Italiens beschäftigt weniger als 10 Personen,und nur 20 Prozent haben mehr als 250 Beschäftigte. Die Unternehmen mittlerer Größe (zwischen 11 und 249 Beschäftigte) – ihr Anteil beläuft sich auf 17 Prozent –, organisatorisch flexibel und dynamisch, sind sie auch international als „Westentaschen-Multis“ aktiv.
Neben diesen dreien existiert noch ein viertes Italien: die mafiose, die Schattenwirtschaft. Hier sind die illegalen Arbeitskräfte beschäftigt, die 1998 22,6 Prozent aller Beschäftigten ausmachten, von denen 18 Prozent in der Industrie und 73 Prozent in der Landwirtschaft arbeiteten.
Im Laufe der vergangenen zehn Jahre erfuhr dieses Nebeneinander von einigen Megaunternehmen und einer Fülle von Klein- und Mittelbetrieben eine grundlegende Veränderung: Zunächst wurden die großen Holdinggesellschaften und Großbanken „liberalisiert“ und die Staatsbetriebe privatisiert, um die Verschuldung der öffentlichen Hand zu senken;2 anschließend ging es, ab 2001, an die Neuverteilung der wirtschaftlichen und politischen Macht. Im Gefolge der Weltwirtschaftskrise von 1929 war in Italien eine Art faschistischer „Staatskapitalismus“ entstanden. Das von Mussolini 1933 gegründete Istituto per la Ricostruzione Industriale (IRI) kontrollierte den Bankensektor und 40 Prozent der Aktiengesellschaften. Nach dem Zweiten Weltkrieg weitete der Staat seine Wirtschaftstätigkeit aus und gründete neben dem IRI zwei weitere Holdinggesellschaften: die Ente Nazionale per l‘Energia Elettrica (Enel) und die Ente Nazionale Idrocarburi (ENI). Damit befanden sich 50 Prozent des italienischen Industriekapitals in staatlicher Hand.
In den Neunzigerjahren gab die Regierung die Hälfte dieser Kapitalbeteiligungen auf. Der in Gang gekommene Privatisierungsschub spülte 63,5 Milliarden Dollar in die Staatskassen. Die Hälfte der neuen Aktien wurde von Privathaushalten gezeichnet, die ihre Ersparnisse jetzt an der Börse anlegten,3 ein Drittel von ausländischen Investoren und der Rest von institutionellen Anlegern.4
Der 1997 privatisierten Börse von Mailand brachte die Umwandlung einen triumphalen Aufschwung. Zwischen 1992 und 2000 verfünffachte sich der Durchschnittspreis der Mailänder Aktienwerte, während er sich im internationalen Maßstab nur verdoppelte. Gleichzeitig vollzog sich im Bankensektor ein Konsolidierungsprozess. Die Banca Intesa schloss sich mit der Banca Commerciale Italiana zusammen, und die beiden führenden italienischen Versicherer Generali und INA fusionierten zur drittgrößten Assekuranzgruppe Europas hinter der deutschen Allianz und der französischen Axa.
Laut OECD5 „hat die forcierte Privatisierung im Verein mit der explosionsartigen Zunahme von Firmenübernahmen und -zusammenschlüssen die dominierende Rolle großer Unternehmensgruppen auf dem Börsenmarkt weiter verstärkt […]. Ende 1998 repräsentierten die privatisierten Staatsunternehmen 50 Prozent der gesamten Börsenkapitalisierung.“ Im Sommer 2001 bewies der italienische Kapitalismus mit den spektakulären Rettungsaktionen für Montedison und Telecom Italia erneut seine Flexibilität. Im Zuge dieser Übernahmen wurde auch die Mediobanca umstrukturiert. Und Fiat begann Ende des Jahres mit dem Umbau seines Konzerns.
Alte Fordisten und junge Condottieri
DIESE neue Betriebsamkeit hat mehrere Gründe. Zum einen starb Enrico Cuccia just in dem Augenblick, in dem der Privatisierungsprozess so gut wie abgeschlossen war. Zum anderen stellte sich zwischen den „alten Fordisten“ und der neuen Managergeneration ein neues Gleichgewicht her. Und drittens schuf die Regierungsübernahme durch Berlusconis „Pol der Freiheit“ ein unternehmerfreundliches Klima.
Im Juli 2001 unterbreiteten die französische Elektrizitätsgesellschaft EDF und Fiat ein öffentliches Übernahmeangebot für die Montedison-Holding. Montedison hält Betriebe in den unterschiedlichsten Branchen, von der Lebensmittelindustrie über Schiffsbau und Chemie- und Pharmaindustrie bis hin zum Finanz- und Energiesektor (Edison und Sondel). An Edison – dem zweitgrößten Stromversorgungsunternehmen Italiens hinter Enel – ist die Holding mit 61 Prozent beteiligt. Obwohl Montedison nur 19 Prozent seines Umsatzes in der Elektrizitätswirtschaft realisiert, zielte das Übernahmeangebot allein auf diesen Bereich.
Das Ganze begann im Mai 2001. Als die EDF bei Montedison einstieg, ging ein Aufschrei durch ganz Italien. Um zu verhindern, dass der öffentliche französische Energiekonzern zum Hauptaktionär von Montedison wird, erließ die Regierung d‘Amato im Eilverfahren eine gesetztliche Verordnung, die das Stimmrecht der EDF in der Energiesparte des Konsortiums auf 2 Prozent beschränkte. Im Juni verklagte Montedison die EDF bei der Europäischen Kommission wegen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung. Die nationale Gegenoffensive begann sich zu formieren. Die drei traditionellen Hauptaktionäre der Holding – die Banco di Roma und die Sanpaolo IMI und Intesa BCI – beschlossen, ihre Anteile fortan gemeinsam zu verwalten. Daraufhin gründeten Fiat und EDF das Gemeinschaftsunternehmen Italenergia, das den Montedison-Konzern nach erfolgreicher Übernahme führen sollte. Im Juli akzeptierte Montedison schließlich das öffentliche Übernahmeangebot durch Italenergia.
Die zweite große Umstrukturierung betraf die Telecom Italia. Bereits 1999 hatten sich die Aktionäre gegen eine ausländische Übernahme der Telefongesellschaft schützen müssen, und Olivetti hatte unter Führung von Roberto Colaninno das Unternehmen übernommen. Die Mediobanca hatte diese Operation unterstützt und der Chef der damaligen Mitte-links-Regierung, Massimo D‘Alema, zur großen Entrüstung der Finanzwelt seinen Segen gegeben. Doch schon im Sommer 2001 stand Telecom Italia abermals mit dem Rücken zur Wand, als die spanische Telefongesellschaften Telefónica und Endesa sowie die Deutsche Telekom ihr Übernahmeinteresse deutlich machten. Die Regierung Berlusconi verhielt sich zwar betont neutral, begrüßte aber dennoch, dass das strategisch wichtige Unternehmen in italienischen Händen blieb. Am 27. Juli 2001 machten Pirelli-Chef Marco Tronchetti Provera und die Benetton-Familie 7 Milliarden Euro locker. Mit Telecom Italia übernahmen die beiden Partner auch die Mobiltelefonsparte, die „Gelben Seiten“ und die neue Fernsehanstalt „7“ (ehemals TMC).
Diese Transaktionen wie auch die Umorganisation bei Fiat im Dezember 2001 vermitteln einen Eindruck davon, wie prompt die italienischen Industriekapitäne reagieren, wenn strategisch wichtige Unternehmen auf dem Spiel stehen. Die geschilderten Umstrukturierungen haben dabei die Wirtschaftstätigkeit stimuliert, ohne die finanzielle Kontrolle einiger weniger Familienholdings zu gefährden. Allerdings müssen die alten Industriellenfamilien des fordistischen Kapitalismus – also Fiat-Chef Agnelli, Italiens „Vizekönig“ und Senator auf Lebenszeit, und der Ingenieur De Benedetti – ihre Macht nun mit den Neo-Condottieri teilen, die in den Siebzigerjahren als Kleinunternehmer anfingen. Die bekanntesten unter ihnen heißen Silvio Berlusconi und Gilberto Benetton, der seinen kleinen Familienbetrieb vom Pulloverhersteller zum diversifizierten Multi ausgebaut hat. Diese beiden Herren verkörpern die neue Fähigkeit der italienischen Unternehmer, ihre Firma durch Einsatz moderner Technologien, Medien und Marketingtechniken auf die „Erwartungen“ der Verbraucher auszurichten, anstatt den Imperativen der Produktionsmaschinerie zu folgen wie noch die alten fordistischen Unternehmen.
Die Machtverschiebung auf der Arbeitgeberseite hatte ihr Gutes auch für die kleinen und mittleren Unternehmen. Diese kürten Antonio d‘Amato zum Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Confindustria; das Nachsehen hatte Carlo Callieri, der immerhin von Agnelli und De Benedetti protegiert wurde. Zu den Gewinnern zählte aber auch die neue Managergeneration. Zu ihr gehören etwa Marco Provera, der neue Telecom-Italia-Präsident und Vizekönig des italienischen Kapitalismus, und Fiat-Präsident Paolo Fresco und sein Geschäftsführer Paolo Cantarella.
Das markanteste Phänomen dieser Entwicklung ist wahrscheinlich die unmittelbare Regierungsübernahme durch einen der Neo-Condottieri. Die Wirtschaft regiert, und Silvio Berlusconi an den Schalthebeln ist der Papst des transalpinen Kapitalismus. Der Mann, der sich in seinem Wahlkampf als Verkörperung des „italienischen Wirtschaftstraums“ präsentiert hat, versammelt heute um sich, was in der Geschäftswelt Rang und Namen hat. Antonio D‘Amatos Confindustria hat ihn aktiv unterstützt, Giovanni Agnelli erteilte ihm nach langem Widerstreben den Segen, und die neuen Manager und Aktionäre taten das selbstverständlich auch. Bei den letzten Parlamentswahlen erhielt Berlusconis Partei Forza Italia 30 Prozent der Wählerstimmen und rückte damit zur führenden politischen Kraft Italiens auf. Der Chef der Fininvest6 und der TV-Firma Mediaset (mit drei landesweit ausstrahlenden Privatsendern) hat es geschafft, die Politik mit dem Glorienschein unternehmerischer Leistungsfähigkeit zu umgeben. Originalton Berlusconi: „Wenn ich mich neuerdings fürs politische Leben interessiere, dann deshalb, weil ich weiter als Unternehmenschef tätig sein will.“7 Und wenn er mit der Anwendung moderner Marketingtechniken in der Politik so erfolgreich war, so deshalb, weil er im wahrsten Sinne des Wortes die Inkarnation des erfolgreichen Kommunikationsunternehmens darstellt, das über die traditionellen Parteien und den Nationalstaat triumphiert.
Berlusconi transportiert den Diskurs und die Werte der Klein- und Mittelbetriebe und symbolisiert den Erfolg des Selfmademan, von dem so viele Italiener träumen. Als Lombarde personifiziert er aber auch – im prononcierten Gegensatz zum piemontesischen Fordismus – die wachsende Bedeutung der Börse und des Finanzsektors. Im italienischen Kapitalismus wurden damit die unsichtbaren Hände der Wirtschaftsführer alten Typs durch die politisch-mediale Überpräsenz einer neuen Managergeneration abgelöst. Wichtig war dabei nur, dass die Condottieri überhaupt am Drücker bleiben konnten, um dem Modell Italien im Kontext von Globalisierung und europäischer Einigung einen Platz an der Sonne zu sichern. So wie es Giuseppe Tomasi di Lampedusa in seinem Roman „Der Leopard“ dem jungen Adligen Tancredi in den Mund legte: „Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann muss sich alles ändern.“
dt. Bodo Schulze
* Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Rennes-2.