17.05.2002

Saudi-Arabien riskiert Öffentlichkeit

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Saudi-Arabien riskiert Öffentlichkeit

SEIT im März bei einem Brand in einer Mädchenschule 14 Jugendliche umkamen, sind in Saudi-Arabien die Missstände in den Mädchenschulen ins Zentrum der Auseinandersetzungen gerückt. Prinz Abdallah sah sich gezwungen, die Unterstellung der Mädchenschulen unter eine besondere religiöse Instanz aufzuheben. Das Kräfteverhältnis zwischen weltlicher und religiöser Macht (sprich zwischen Königshaus und Ulemas) ist nach wie vor ungeklärt. Dabei hat in letzter Zeit – entgegen der vorherrschenden Wahrnehmung im Westen – eine vorsichtige politische Öffnung stattgefunden, mit der sich eine immer selbstbewusstere zivile Öffentlichkeit als ernsthafte Konkurrenz zur religiösen Öffentlichkeit herausbildet. Mögliche Reformen zeichnen sich ab, die allerdings die Unterordnung des Regimes unter die US-amerikanische Vormacht in Frage stellen dürften.

Von unserem Korrespondenten ALAIN GRESH

Das Gerücht nahm seinen Anfang am Sonntagnachmittag, dem 24. März dieses Jahres. Per Mobiltelefon und Computer überwand es in Windeseile alle Schranken und Hindernisse. Über SMS und E-Mail wurden schließlich die letzten Zweifler überzeugt. Denn: „Seit es in Saudi-Arabien E-Mail und Mobiltelefone gibt, bleibt nichts mehr verborgen“, konstatierte ein Journalist zufrieden. Wenige Stunden später kam die offizielle Bestätigung: Auf Vorschlag von Kronprinz Abdallah hatte König Fahd das „Amt für das Schulwesen der Mädchen“ in das Bildungsministerium eingegliedert und dessen Leiter entlassen. Damit beendete der Kronprinz eine der heftigsten Kontroversen der letzten Jahre – die einerseits zeigt, dass in Saudi-Arabien eine politische Öffnung stattgefunden hat, und andererseits deutlich macht, in welche Widersprüche der neue Kurs Abdallahs das Land nach dem 11. September 2001 gestürzt hat.

Was war geschehen? Am Morgen des 11. März 2002 war in der Mädchenschule Nr. 31 in Mekka ein Feuer ausgebrochen, bei dem fünfzehn Mädchen zwischen zwölf und siebzehn Jahren ums Leben kamen. Noch am selben Nachmittag gab die zuständige Behörde in einer vom Staatsfernsehen verbreiteten Stellungnahme den Opfern die Schuld: „Nicht das Feuer, sondern die Panik, die unter den Schülerinnen ausbrach, war die Ursache, dass es Tote und Verletzte gab.“

Die betreffende Behörde, das Amt für das Schulwesen der Mädchen, war 1960 auf Veranlassung des damaligen Kronprinzen Faisal eingerichtet worden. Der spätere König (1964–1975) wollte die staatlichen Schulen für Mädchen öffnen – damals gingen 22 Prozent der Jungen, aber nur 2 Prozent der Mädchen zur Schule.1 Doch ein Teil der Korangelehrten hatte mit Unterstützung vieler Eltern – vor allem in den besonders konservativen Landesteilen – Front gegen den Vorstoß des Prinzen gemacht. Als Faisal etwa bei einer Zusammenkunft mit den Ulemas nachfragte, ob es einen Koranvers gebe, der die Schulbildung für Mädchen verbiete, hatte er keine Antwort erhalten und daraufhin erklärt: „Weil alle Muslime gehalten sind, zu lernen, werden wir Schulen für Mädchen einrichten. Es soll den Eltern freistehen, ihre Töchter dorthin zu schicken oder sie zu Hause zu behalten. Wir werden niemanden nötigen.“

Die Schaffung einer eigenen Behörde für die Mädchenschulen, die von einem Vertreter der Ulemas geleitet wurde und nicht dem Bildungsministerium unterstand, war damals ein Kompromiss. Im Lehrstoff für die Mädchen spielte die Religion eine größere Rolle. Vierzig Jahre später sind die anfänglichen Widerstände vergessen, und das Programm kann eine eindrucksvolle Bilanz vorweisen: Mehr als die Hälfte der fünf Millionen Schüler sind Mädchen. Sie stellen auch die Mehrheit an den Universitäten und sind dort häufig erfolgreicher als ihre Kommilitonen, obwohl ihnen nach wie vor nicht alle Studiengänge offen stehen. Das Unglück in der Mädchenschule Nr. 31 deckte allerdings die Mängel in diesem Bereich des Bildungssystems auf.

Unter dem Titel „Die Tragödie muss uns wachrütteln“ hatte der Schriftsteller Raid Qusti in einer Kolumne die konkreten Missstände aufgezeigt.2 800 Mädchen befanden sich in der für 250 Schülerinnen ausgelegten Schule. Das baufällige Gebäude war seit dreizehn Jahren angemietet, obwohl für solche Verträge eine Höchstlaufzeit von zehn Jahren gilt; es gab weder Rauchmelder noch Notausgänge. In den Tagen nach der Katastrophe berichteten die Zeitungen ausführlich über den schlechten Zustand von Schulgebäuden, die Unfähigkeit der zuständigen Behörde, die Lehrpläne, die den heutigen Anforderungen nicht gerecht würden und Lernen aufs Auswendiglernen reduzierten.

Erstmals mussten die Vertreter der Behörde sich der Kritik stellen. Einer der mutigsten saudischen Journalisten, Daud al-Scheryan, Regionalchef der panarabischen Tageszeitung Hayat, schrieb am 16. März: „Diese Brandkatastrophe muss Anlass sein, mit den billigen Erklärungen und der Zurückweisung von Verantwortung Schluss zu machen. Einige Minister und Staatsfunktionäre müssen lernen, dass diese Art, ihre Posten und ihre Institutionen zu verteidigen, nicht akzeptabel ist.“

Die Tageszeitung Al Watan, Sprachrohr von Khaled Bin Faisal, dem Gouverneur der Provinz Asir, hatte schon im Februar ein vertrauliches Rundschreiben von Kronprinz Abdallah an alle Behörden publik gemacht. „Trotz wiederholter Rundschreiben und Mitteilungen an die Verantwortlichen werden noch immer die Interessen der Bürger verletzt, und die Ungerechtigkeiten nehmen zu“, heißt es dort. Das Schreiben schließt mit dem Hinweis, der Staat werde nicht zögern, inkompetente Behördenvertreter abzulösen.3

Das Amt für das Schulwesen der Mädchen änderte alsbald seine Strategie: Man lud Journalisten ein, gab eine Pressekonferenz und stellte sich den Fragen. Vor allem wurde darauf verwiesen, dass vom Finanzministerium nicht die notwendigen Mittel bewilligt worden seien, um den geplanten Bau von 200 neuen Schulen durch private Firmen fortzuführen.

Aber auch eine Institution von weit größerer staatstragender Bedeutung geriet ins Visier der Presse. Einige der Helfer am Ort der Katastrophe, vor allem Mitglieder der zivilen Rettungsdienste, beklagten sich über die Behinderung ihrer Arbeit durch die Sittenpolizei hay‘a, das berüchtigte „Komitee zur Unterdrückung des Übels und der Förderung der Tugend“. Angeblich hatten die Tugendwächter den Tod mehrerer Schülerinnen verschuldet, weil sie nicht zulassen wollten, dass Männer in eine Mädchenschule eindrangen und dass die Mädchen unverschleiert evakuiert wurden. Okaz, eine große Tageszeitung des Landes, veröffentlichte dazu einen Kommentar mit dem bitteren Titel: „Das Leben unterdrücken, den Tod befördern“.

Obwohl sich die Sittenpolizei seit Mitte der 90er-Jahre etwas im Hintergrund gehalten hat, bleibt das Komitee hay‘a, auch unter dem Namen mutawwa‘ bekannt, in der Bevölkerung gefürchtet und verhasst. Aufgabe dieser Institution ist es, die Einhaltung des religiösen Sittengesetzes zu überwachen, dafür zu sorgen, dass die Frauen verschleiert sind, dass Männer und Frauen in der Öffentlichkeit nicht zusammenkommen und so weiter.

Am 16. März stellte Al-Riyad, die wichtigste saudische Tageszeitung, die Frage „Wann werden wir uns endlich für unser Verhalten gegenüber den Frauen schämen?“ Unter diesem Titel kommentierte ihr Chefredakteur Turki al-Sudeyri: „Alles Übel in unserer Gesellschaft wird der Frau zugeschrieben, als sei sie die Mittlerin zwischen dem Mann und dem Laster. Die Männer erscheinen geradezu als Engel, die nur angesichts einer Frau schwach werden […]. Wollen die Mitglieder des Komitees zur Unterdrückung des Übels und der Förderung der Tugend etwa behaupten, sie würden sich um unsere Frauen, Schwestern, Mütter und Töchter mehr sorgen und sich besser um sie kümmern als wir selbst?“

Auch hay‘a sah sich zur öffentlichen Rechtfertigung genötigt. Sein Vorsitzender Ibrahim al-Ghaith stellte sich den Journalisten. Den Zeugenaussagen hielt er entgegen, der Brand sei längst unter Kontrolle gewesen, als seine Leute vor Ort erschienen. Immerhin räumte er ein: „Falls sich erweisen sollte, dass ein Vertreter unserer Organisation in irgendeiner Weise die Rettungsmaßnahmen behindert hat, muss er vor Gericht gestellt werden.“4

Eine unzeitgemäße Behörde wird aufgelöst

AUF die Welle der Kritik in den Medien reagierten die staatlichen Stellen äußerst nervös. Während die Regierung die Bildung einer Untersuchungskommission ankündigte, bestellte das Informationsministerium am 19. März die Chefredakteure aller Medien des Landes ein. Deren Berichte über die Zusammenkunft fielen insgesamt freundlich aus, nur Daud al-Scheryan machte das Spiel nicht mit und berichtete am 21. März in Al Hayat, worum es wirklich gegangen war – den Journalisten die Verbreitung bestimmter Nachrichten zu verbieten. Die staatliche Sanktion erfolgte prompt: Al Hayat muss seine Artikel jetzt einer Vorzensur unterziehen.

Ebenfalls am 21. März erklärte Innenminister Prinz Nayef, einer der mächtigsten Männer des Landes: „Die Art, wie unsere Zeitungen und unsere Schriftsteller die Angelegenheit behandelt haben, entspricht nicht unseren Erwartungen. Sie haben die Sachverhalte völlig übertrieben dargestellt und Urteile gefällt, ohne die Fakten zu kennen.“ Der Innenminister verbat sich Anschuldigungen gegen das Amt für das Schulwesen der Mädchen.5

Damit stellt sich die Frage, wieso drei Tage später von höchster Stelle der Beschluss erging, die Behörde aufzulösen. Über diese Frage konnten wir uns mit einem Mann unterhalten, der eine für Saudi-Arabien ungewöhnliche Biografie hat: Prinz Talal ist einer der 25 noch lebenden Söhne von Abdel-Aziz Ibn Saud, dem Gründer des Königreichs. König Fahd und Kronprinz Abdallah sind seine Halbbrüder. In den 1960er-Jahren gehörte Prinz Talal – wie sein Bruder Nawaf, der im August 2001 zum Chef des saudischen Geheimdienstes wurde – zu den „freien Emiren“, die mit der Revolution Nassers in Ägypten sympathisierten und im eigenen Land für eine Verfassungsreform eintraten. Der heute Siebzigjährige ist nach wie vor ein hellwacher Beobachter, der sich nicht scheut, Stellung zu beziehen.6

Die Entscheidung des Kronprinzen hält Prinz Talal für „weise“, nur findet er befremdlich, dass sie unmittelbar vor einer Zusammenkunft des Ministerrats getroffen wurde. „Wozu dann noch solche Beratungen?“ „Seit drei Jahren hat der madschlis al-schura (der nationale Konsultativrat)7 vergeblich die Auflösung der Behörde für die Mädchenschulen vorgeschlagen“ erklärt er. „Es waren die Attacken gegen das hay‘a, die das Regime in Zugzwang brachten. Es ist ein wichtiger Schritt, dass für die Schulbildung der Mädchen jetzt das Bildungsministerium zuständig ist und der neue stellvertretende Minister nicht aus den Reihen der Korangelehrten kommt. Aber die Rolle des hay‘a ist bewusst verschleiert worden.“

Das hat allerdings nicht ganz perfekt funktioniert. In der Presse, die sich inzwischen traut, „gut informierte“ Quellen zu zitieren und vertrauliche Dokumente zu veröffentlichen, wurde der Bericht der Untersuchungskommission vollständig abgedruckt, und dort findet sich die etwas rätselhafte Bemerkung: „Die Untersuchung einiger kleinerer Zusammenstöße zwischen Mitgliedern des hay‘a und des Zivilschutzes ist noch nicht abgeschlossen.“

Prinz Talal begrüßt jeden Fortschritt auf dem Weg zur Demokratie, doch was den Spielraum der Medien angeht, bleibt er skeptisch. Er erinnert an die Verhaftung eines Schriftstellers, dessen Gedicht „Die Bestechlichen auf dieser Welt“ – den Richtern gewidmet – am 26. Dezember 2001 in der Zeitschrift Al Medina erschienen war. Der Chefredakteur des Blattes musste gehen, und es gab Gerüchte, der Autor, Abdel Mohsen Halit Muslim, sei verhaftet worden. Zu der Angelegenheit befragt, erklärte ein ranghoher Vertreter des Innenministeriums lakonisch, er habe „dieses Gerücht auch schon gehört“. Alles Heuchelei, hieß es dazu in einem empörten Kommentar in El Watan.8 Die Information stamme natürlich aus dem Internet, und dass sie nicht publiziert werde, mache deutlich, „dass unsere Medien immer noch Opfer ihrer Furcht sind“. Immerhin seien jetzt wenigstens die Zeiten vorbei, als „nicht einmal über Verbrechen und Unfälle berichtet werden durfte, weil das angeblich Panik und Angst auslöste und der Gesellschaft schaden konnte“.

Noch vor einigen Jahren erinnerte die Informationspolitik in Saudi-Arabien an die düstersten Zeiten der Sowjetunion – alles galt als „Staatsgeheimnis“. Inzwischen wagt sich die Presse auch an heikle gesellschaftliche Themen, wie Drogenkonsum, häusliche Gewalt, Aids, Kindesmissbrauch, Selbstmord. Im Juni soll sogar ein Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) publiziert werden. Damit erhielte die Öffentlichkeit zum ersten Mal Zugang zu statistischen Angaben, die stets unter Verschluss gehalten worden waren. Offenbar ist die saudische Gesellschaft heute so weit, dass sie sich den Spiegel vorhalten kann, um sich zu sehen, wie sie ist: mit ihren Mängeln und Vorzügen, ihrer umfassenden Solidarität und ihrer Engstirnigkeit.

Doch ist mit diesem Prozess für das Regime auch ein Risiko verbunden: die Entstehung einer öffentlichen Meinung. Und diese öffentliche Meinung hat bereits ihren ersten Sieg errungen. Um noch einmal Prinz Talal zu zitieren: Das königliche Dekret zur Abschaffung des Amts für Mädchenschulen bedeutet „einen kleinen Erfolg im Kampf für die Rechte der Frauen“. Schon seit einigen Jahren war es, neben den Wirtschaftsreformen9 , vor allem die Stärkung der Frauenrechte, um die sich Kronprinz Abdallah besonders bemühte. Im Jahr 2000 ratifizierte Saudi-Arabien die UN-Konvention zur Beseitigung jeglicher Form von Diskriminierung der Frau. Erstmals durften Frauen in der madschlis al-schura ihre Probleme vortragen – es ging vor allem um Probleme der Ehelosigkeit und der Mitgift. In der Delegation, die zum Wirtschaftsgipfel von Davos reiste, waren einige Geschäftsfrauen vertreten. Und: Frauen erhielten zum ersten Mal eigene Personalausweise. „Jetzt können wir selbst einkaufen gehen oder unseren Schmuck verkaufen, wenn wir es wollen“, erklärt Amal, eine Kinderärztin, die eine eigene Klinik betreibt. „Wir dürfen jetzt im Hotel übernachten oder ein Auto kaufen.“ Aber sie meint auch: „Wir sind nicht Opfer, wir selbst waren es, die den Männern die Hauptrollen überlassen haben.“

Maha ist in der Werbebranche tätig und arbeitet zu Hause – diese Form der Berufstätigkeit wird geduldet. Sie hat im Ausland studiert, war verheiratet, ist geschieden. Wie bei vielen Saudis war es das Heimweh, das sie zur Rückkehr bewegte. Nun muss sie feststellen, dass „hier die Infrastruktur dem Denken der Menschen hundert Jahre voraus ist. Wir wollen uns von den mutawwa‘ nicht vorschreiben lassen, wie wir zu leben haben. Aber in der Geschäftswelt sind wir viel stärker vertreten als früher. 40 Prozent der Bankguthaben in diesem Land gehören Frauen, das bedeutet Kaufkraft; deshalb finden wir Anerkennung, und die Männer sind eher bereit, uns zuzuhören. Weil sie ernsthafter an die Aufgaben herangehen, haben Frauen mit einem Universitätsabschluss auf dem Arbeitsmarkt heute bessere Chancen als ihre männlichen Mitbewerber.“

In manchen Teilen der saudischen Gesellschaft fragt man sich allerdings längst, ob solche neuen Ansprüche nicht eine Bedrohung der Grundwerte des Gemeinwesens bedeuten. Auf Anzeichen des Wandels reagieren einige Bevölkerungsgruppen ängstlich und abwehrend, etwa auf die Verstädterung, auf den Traditionsverlust, auf den Einfluss der westlichen und arabischen Fernsehsender. „Im Unterschied zum Alkoholverbot gibt es keine Religionsvorschrift, die den Frauen das Autofahren untersagt“, meint ein Journalist. „Aber wir fragen uns, was hinter diesen Ansprüchen steht, was weiter geschehen wird, wenn man ihnen das erlaubt. Wir leben hier in der ‚letzten Heimat des Islam‘, und viele sind überzeugt, dass es sich bei alledem um ein Komplott der Amerikaner gegen das Königreich und den Islam handelt und dass sie es auf unsere Bodenschätze abgesehen haben.“ Eine seiner Interviewpartnerinnen erklärt dagegen: „Natürlich sind wir dem Islam und unseren Traditionen verbunden. Wir wehren uns nur gegen die enge Auslegung des Korans. Es geht ja eigentlich auch nicht vordringlich ums Autofahren.“ Lachend fügt sie hinzu: „In fünfzehn Jahren werden wir die Forderung durchgesetzt haben, dann können wir uns aber kein Auto mehr leisten.“

Tatsächlich ist die Wirtschaftslage angespannt, der Kronprinz hat bereits dazu ermahnt, „den Gürtel enger zu schnallen“. Für die Frauen sind andere Probleme wichtiger: Sie suchen Arbeit, sie fordern die rechtliche Gleichstellung.10 Die Anschläge vom 11. September haben ihnen, wie der Mehrheit der Saudis, einen dicken Strich durch alle Rechnungen gemacht.

Der Mann, der über zwanzig Jahre lang zu den Mächtigsten im Königreich gehörte, residiert heute im gewaltigen Gebäudekomplex der König-Faisal-Stiftung, im Zentrum von Riad. Bis August 2001 stand Prinz Talal Ben Faisal an der Spitze des Geheimdienstes und war damit auch für die Afghanistanpolitik zuständig, nicht zuletzt für den Kontakt zu Ussama Bin Laden. War das vielleicht der Grund für seinen „Rücktritt“? Man wird es nicht erfahren, solche Fragen werden nicht öffentlich diskutiert. Talal Ben Faisal versteht Französisch und ist ein äußerst höflicher Gesprächspartner: „Der 11. September war ein Schock. Zunächst gab es eine Phase, in der wir alles leugneten: Es konnte einfach nicht sein, dass Saudis an Taten beteiligt waren, die unseren Grundüberzeugungen widersprechen. Dann mussten wir uns selbst fragen: Wer sind wir? Wie konnte so etwas geschehen, nach all den Jahren der Entwicklung, der Beziehungen zur ganzen Welt?“ Die Umwälzungen innerhalb der saudischen Gesellschaft spielen dabei nach Auffassung des Prinzen eine wichtige Rolle: „Ich erinnere mich noch an die Zeiten, als hier tausende an Pocken starben, als man selbst auf der besten Straße des Landes von Riad nach Mekka drei Tage unterwegs war. Auch in der Politik hat sich vieles verändert. Trotz allem sind die Grundlagen unserer Gesellschaft intakt – sie stützt sich auf das Solidaritätsprinzip und die Religion.“

Zur Zeit des Kampfes gegen den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan habe man im Bündnis mit den Mudschaheddin Solidarität unter Muslimen demonstrieren wollen – und zwar mit dem Segen der USA. Doch diese Politik habe auch unerwünschte Folgen gezeitigt: „In Afghanistan sammelten sich extremistische Organisationen, manche der Freiwilligen schlossen sich Bin Laden an. Darunter hatte auch Saudi-Arabien zu leiden. Auf das Konto dieser Gruppierungen geht der Anschlag von 1995 in Riad.“ Der Afghanistankrieg und der Golfkrieg von 1990/1991 hätten den extremistischen Glaubensrichtungen innerhalb des Islam Auftrieb gegeben.

In Saudi-Arabien geht es bei der Diskussion über den Islam stets um zwei Fragen: Wie ist das Verhältnis zwischen dem politischen und dem religiösen Machtapparat? Und wie könnte ein Kompromiss zwischen der strenggläubigen wahhabitischen Auffassung des Islam und den Herausforderungen der Moderne aussehen? Man darf nicht vergessen, dass die Anfänge des Königreichs auf einen Pakt zurückgehen, der 1744 zwischen dem Wanderprediger Mohammed Ibn Abdel Wahhab und Mohammed Ibn Saud, einem Stammesfürsten im Nedsch, geschlossen wurde. Das Bündnis hat die Zeiten überdauert.

Bis heute hat die Herrscherfamilie die politische Macht inne. Ihre religiöse Legitimität bezieht sie von den Ulemas, vor allem vom Rat der obersten Religionsgelehrten. Im Laufe der Geschichte waren die religiösen Autoritäten immer wieder bereit, die Entscheidungen des Königs abzusegnen. Manchmal, wie in der Frage der Schulbildung für Mädchen, ging es nicht ohne Reibereien ab, doch König Fahd erhielt sogar das Plazet der Ulemas, als er 1990, nach der Besetzung Kuwaits durch den Irak, US-Truppen zu Hilfe rief. Allerdings nahm die Zahl der religiösen Bildungseinrichtungen ständig zu, und unter den vielen jungen Imamen, die gerade erst einen Abschluss an einer dieser Institutionen erworben hatten, bildeten sich konservative, wenn nicht extremistische Zirkel.

Im Rahmen der Beratungen mit den höchsten Instanzen des Staates, die er nach dem 11. September aufgenommen hatte, empfing Kronprinz Abdallah im November 2001 auch eine Abordnung der religiösen Würdenträger. Er warnte vor „übertriebenen Haltungen in Glaubensfragen“ (ghulu fil din). Der Meinungsaustausch nahm eine plötzliche Wendung, als Scheich Abdallah Bin Abdel Mohsen al-Turki, Generalsekretär der Islamischen Weltliga und ehemaliger Minister für religiöse Angelegenheiten, sich wie folgt zu Wort meldete: „Verantwortungsträger der Macht (wala‘ al amr) sind sowohl die Führer wie die Ulemas“ – womit er die Religionsgelehrten auf eine Stufe mit der Herrscherfamilie stellte. Dieser Auffassung widerspricht Prinz Turki al-Faisal: „Ich bin kein Experte in Fragen der Religion, aber die Äußerung kam mir sehr eigenartig vor – eine solche Auffassung ist bei uns noch nie vertreten worden. Sie erinnert an die umstrittenen Vorstellungen über die schiitische welayat-e faqih, die der Imam Chomeini formuliert hat.11 Die weltliche Macht ist Sache der Herrscher, sie werden dabei von den Ulemas beraten. Ich habe auch einen Artikel geschrieben, in dem ich diese Vorstellungen zurückweise.“12

Die Anmaßung der Religiongelehrten macht deutlich, wie fragil das Verhältnis von politischer Macht und religiöser Autorität beschaffen ist. Gerade jetzt, wo Saudi-Arabien und der Islam heftigen Angriffen aus dem Westen ausgesetzt sind, kann die Herscherfamilie auf den Rückhalt durch die Ulemas nicht verzichten. Viele Saudis sind der Meinung, dass sich das Land anpassen muss, dass Reformen gerade im Bildungssektor dringend geboten sind. Doch die Angriffe von außen, vor allem durch die US-Medien, haben eine Art Trotzreaktion ausgelöst, die fast einem nationalen Schulterschluss gleicht. Man stelle sich nur vor, wie es auf Saudis wirkt, wenn der Chefredakteur einer US-amerikanischen Zeitung mit der knappen Formel „Nuke Mekka!“ den Einsatz von Atomwaffen gegen Mekka ins Gespräch bringt.13

Amal war außer sich: „Wieso glaubt ihr eigentlich, dass ihr das Recht habt, uns Lehren zu erteilen? Ich habe wirklich an die westlichen Werte geglaubt – aber ihr begeht tagtäglich Verrat an ihnen, vor allem in Palästina. Und seht euch doch die Gesichter der Gefangenen in Guantánamo an [unter ihnen sind etwa fünfzig Saudis], die wie Tiere behandelt werden. Ihr habt uns nie akzeptiert, so wie wir sind, ihr wolltet immer nur, dass wir so werden wir ihr. Unser Leben gründet sich auf den Islam, und so soll es auch bleiben – wir haben ja nichts anderes mehr.“

Wirtschaftsreformen sind unvermeidlich, Anpassung an die globalisierte Welt ist geboten, zugleich aber soll eine Identität geschützt werden, die als die einzig wahre gilt – es sind viele Klippen, die Kronprinz Abdallah umschiffen muss. Fahd al-Mubaraka, ein saudischer Geschäftsmann, Mitglied der madschlis, hat es so formuliert: „Wir wissen inzwischen, wo unsere Probleme liegen, aber um sie zu lösen, reicht es nicht aus, ein reformwilliges Staatsoberhaupt zu haben – wir brauchen eine ganze Armee von Reformern.“

dt. Edgar Peinelt

Fußnoten: 1 Ein staatliches Schulsystem für die Jungen gab es erst seit 1953, in diesem Jahr richtete Saudi-Arabien ein Bildungsministerium ein. Zur Geschichte der Bildungseinrichtungen für Mädchen siehe Mona Al Munajjed, „Women in Saudi Arabia Today“, London (Macmillan Press) 1997. 2 Arab News (Dschiddah), 15. März 2002. 3 Al Watan (Abha), 6. Februar 2002. 4 Okaz (Riad), 19. März 2002. 5 Siehe dazu Arab News, 22. März 2002. 6 In einem der besten Bücher über die königliche Familie und die Probleme der Thronfolge wird auch sein Lebensweg geschildert. Siehe Alexander Bligh, „From Prince to King“, New York (New York University Press) 1984. 7 Die Bildung eines solchen Konsultativrats war 1992 angekündigt worden; das Gremium besteht offiziell seit 1993. Seine Mitglieder, vom König ernannt, haben ausschließlich beratende Aufgaben. Dennoch hat sich der Rat durch die Ernsthaftigkeit seiner Debatten einen gewissen Einfluss verschafft. 8 24. März 2002. 9 Siehe Alain Gresh, „Luftspiegelung über dem Wüstenstaat“, Le Monde diplomatique, April 2000. 10 Die Situation von Frauen in der Ehe schildern zwei sehr bewegende Erzählungen der saudischen Autorin Badriyah al-Bishr: „Le Mercredi soir“ und „Femmes de Riyad“, beide Paris (L‘Harmattan) 2001. 11 Nur ein Teil der führenden schiitischen Gelehrten vertritt die Doktrin von der „Stellvertreterherrschaft der Religionsgelehrten“ (pers. welajat-e faqih). Ajatollah Chomeini war allerdings der Auffassung, dass bis zur Wiederkehr des „verborgenen Imams“ am Ende der Zeiten die schiitische Geistlichkeit an seiner Stelle den Willen Gottes zu vertreten und die Gemeinschaft der Gläubigen zu führen habe. 12 Al Chark Al Awsat (London), 20. Januar 2002. Siehe dazu auch den Artikel von Daud al-Cheryan, in Al Hayat (London), 6. Februar 2002. 13 Rich Lowry, National Review on line (www. nationalreview.com). Die Zeitschrift publizierte später eine Entschuldigung.

Le Monde diplomatique vom 17.05.2002, von ALAIN GRESH