Null Toleranz für die Mär von der Sicherheit
Der Überraschungserfolg von Jean-Marie Le Pen bei der französischen Präsidentschaftswahl hat seine Ursache zum Teil in sozialen Missständen und in einer weit verbreiteten Angst vor „Unsicherheit“. Dabei beschränkten sich die französischen Medien ebenso wie die Vertreter der großen Parteien darauf, die Straßenkriminalität zu beschwören, während die Unsicherheit am Arbeitsplatz und die Angst der Menschen vor dem sozialen Absturz kaum erörtert wurden. In fast allen Ländern Europas wird in puncto Sicherheit auf die angeblichen Erfolge in Amerika, insbesondere in New York, verwiesen. Aber: Sind Straßen und Plätze in den großen Städten wirklich so unsicher geworden? Was sagt die Kriminalitätsstatistik? Und vor allem: Was taugen die amerikanischen Erfolgsmeldungen?
Von LOÏC WACQUANT *
ANGST und Empörung greifen um sich in Europa. Denn die „Gewalt in den Städten“ und die „Jugendkriminalität“ gefährden, so heißt es, den Zusammenhalt der entwickelten Gesellschaften und erfordern zu ihrer Bekämpfung härtere Strafen. Längst ist das „Verbrechen“ auf die Straßenkriminalität reduziert, sprich auf die Schandtaten der niederen Klassen. Auf diese Weise bemühen sich in Frankreich amtierende wie kandidierende Politiker, die in sozialen wie wirtschaftlichen Belangen immerzu die staatliche Ohnmacht beschwören, in puncto „Sicherheit“ eine letzte Bastion der Handlungsfähigkeit des Staates aufrechtzuerhalten.1 Sie kanonisieren das „Recht auf Sicherheit“, während das „Recht auf Arbeit“ zuschanden wird. Denn Letzteres steht zwar in der Verfassung, wird aber angesichts anhaltender Massenarbeitslosigkeit und der Ausweitung der wilden Lohnarbeit zum reinen Hohn. So verlieren immer mehr Menschen ihre Sicherheit.
Längst sind die französischen Abendnachrichten zu vermischten Meldungen über Straftatbestände geworden. Missetaten drohen immer und überall. Hier ein pädophiler Lehrer, dort ein getötetes Kind, dann ein städtischer Bus, der mit Steinen beworfen wurde. Zur abendlichen Hauptsendezeit häufen sich die Sondersendungen nach dem Muster von „Ça peut vous arriver“ („Das kann jedem passieren“) vom 13. Februar im ersten französischen Fernsehen: Unter dem Titel „Gewalt in den Schulen“ wurde in dieser Sendung die Geschichte eines Grundschülers aufgerollt, der nach einer Erpressung durch Mitschüler Selbstmord beging – ein außergewöhnlicher Fall, der im Namen der Quote als Paradebeispiel herhalten musste.
Auch Zeitschriften und Magazine sind voll von Reportagen, in denen „die echten Zahlen“, „verborgenen Fakten“ und andere „explosive Neuigkeiten“ zum Thema Kriminalität geboten werden. Dabei wetteifert die Sensationsgier mit der moralisierenden Empörung; es werden Schrecken erregende Karten über „gefährliche Gegenden“ angefertigt, verbunden mit „praktischen Ratschlägen“, wie man den vorgeblich allgegenwärtigen verschiedenartigen Gefahren trotzen kann.2
Überall hört man Klagen über die Untätigkeit der Behörden und die Unfähigkeit der Justiz; ständig wird die angstbesetzte oder übertriebene Entrüstung der anständigen Leute beschworen. Demonstrativ ergreift die französische Regierung Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung, doch selbst den abgestumpftesten unter ihren Mitgliedern müsste klar sein, dass dies für die Probleme, die sie lösen sollen, rein gar nichts bewirkt. Ein Beispiel: Für jeden französischen Polizisten ist eine kugelsichere Weste angeschafft – und teuer bezahlt – worden, obwohl 97 Prozent während ihrer Laufbahn niemals in eine bewaffnete Auseinandersetzung geraten und obwohl die Zahl der im Dienst getöteten Polizisten in den letzten zehn Jahren um die Hälfte zurückgegangen ist.
Die rechte Opposition verspricht unermüdlich, dass sie in allen Bereichen dasselbe machen wird wie die regierende Linke – nur schneller, stärker und härter. Mit Ausnahme der Kandidaten der extremen Linken und der Grünen haben alle Politiker im französischen Wahlkampf das Thema Sicherheit zur höchsten Priorität staatlichen Handelns erhoben. Eifrig fordern alle dieselben einfältigen Maßnahmen: verstärkte Präsenz der Polizei; Konzentration auf die „Jugend“ (im Klartext: aus Arbeiter- und Einwanderermilieus), auf die „Rückfälligen“ und den „harten Kern“ der Kriminellen in den „Vorstadtsiedlungen“ (womit angenehmerweise Schreibtischtäter der Wirtschaft und kriminelle Politiker ausgenommen sind); Beschleunigung der Gerichtsverfahren; härtere Strafen; stärkerer Rückgriff auf Gefängnisstrafen, und zwar auch für Minderjährige, obwohl ausreichend belegt ist, dass junge Menschen im Gefängnis erst zu wirklichen Kriminellen werden. Um all dies zu ermöglichen, verlangen die Kandidaten eine maßlose Erhöhung der Summen, mit deren Hilfe die soziale Ordnung gewaltsam aufrechterhalten werden soll. Auch der französische Präsident, ein mehrfacher Wiederholungstäter, hat offenbar jedes Schamgefühl verloren und fordert selbst für harmlose Gesetzesübertretungen in benachteiligten Stadtvierteln „null Toleranz“ (zero tolerance).
Die „Sicherheit“ ist eine neue Figur im politischen Diskurs der großen Länder Europas. Sie versöhnt die reaktionärste Rechte mit der regierenden Linken und ist auch deshalb so unwiderstehlich, weil sie sich auf zwei der größten symbolischen Mächte der Gegenwart beruft: auf die Wissenschaft und auf Amerika. Um so besser, wenn sich beide vereinen: zu einer amerikanischen Wissenschaft, die sich obendrein in der amerikanischen Wirklichkeit bewährt hat.
Ebenso wie sich die neoliberale Vision der Wirtschaft auf dynamische Gleichgewichtsmodelle stützt, die von orthodoxen Ökonomen in den USA entwickelt wurden (das Land hat gleichsam ein Monopol auf die Nobelpreise in dieser Disziplin), so präsentiert sich auch die neue „Sicherheit“ in einer wissenschaftlich-rationalen Form. Sie gibt vor, eine hoch entwickelte kriminologische Theorie in den Dienst einer entschlossenen Politik zu stellen – einer Politik, die schon deshalb vernünftig, ideologisch neutral und unanfechtbar ist, weil sie sich nur vom Streben nach maximaler Effizienz leiten lässt. Wie die Politik der Unterwerfung unter den Markt kommen auch die schlichten Glaubenssätze in puncto Sicherheit aus einem Land, das heute eine Vorreiterrolle einnimmt und als bisher einziges in der Geschichte über die materiellen und symbolischen Mittel verfügt, um seine historische Besonderheit zu einem transhistorischen Ideal zu verklären. Die Vereinigten Staaten sind dabei, überall die Wirklichkeit nach ihrem Idealbild umzugestalten.3
Nicht zufällig sind in den letzten Jahren französische, britische, italienische, spanische und deutsche Politiker linker wie rechter Couleur nach New York gepilgert. Sie konnten dadurch ihre neue Entschlossenheit zum Kampf gegen die Straßenkriminalität demonstrieren und sie ließen sich von den amerikanischen Behörden in deren Konzepten und Maßnahmen unterweisen.4 Seither stützt sich das Einheitsdenken in Sicherheitsfragen auf die Wissenschaft und Politik der amerikanischen crime control. Dieses Denken besteht aus einer Kombination wissenschaftlicher Märchen, deren vier Kernaussagen durchleuchtet werden müssen.
Erstes Märchen: Das von Kriminalität gebeutelte Amerika ist inzwischen weitgehend befriedet und steht mit seiner Kriminalitätsstatistik besser da als Frankreich und andere europäische Länder. Diesem Märchen zufolge hatten die Vereinigten Staaten bis vor kurzem eine verheerend hohe Kriminalität zu verzeichnen. Erst durch die Innovationen im Polizei- und Strafwesen nach New Yorker Vorbild sei „das Problem der Kriminalität gelöst worden“. Zur gleichen Zeit seien die Länder des alten Europa mangels entschlossener Politik von einer Spirale der Gewalt in den Städten erfasst worden.
Diese Erkenntnis wurde und wird von den etablierten Medien verbreitet. Sie beweist, dass man in Fragen der bedrohten Sicherheit einfach alles behaupten kann und ernst genommen wird, solange man die Katastrophenstimmung bestärkt und in das Repressionsgerede einstimmt. Denn tatsächlich steht seit über zehn Jahren dank des International Crime Victimization Survey (ICVS)5 fest, dass die USA durchschnittliche Verbrechensraten aufweisen, wenn man die Häufigkeit der „Viktimisierung“ einbezieht und nicht nur die von den Behörden veröffentlichten Statistiken zur Kriminalität zugrunde legt. Wie Experten wissen, sagen Letztere nämlich mehr über die Aktivitäten der Polizei aus als über jene der Gesetzesbrecher. Mit der bemerkenswerten und erklärbaren Ausnahme der Morde sind Amerikas Verbrechensraten seit langem mit denen vieler anderer moderner Gesellschaften vergleichbar, ja sie liegen im Allgemeinen eher darunter. So lagen 1995 die Vereinigten Staaten bei Autodiebstählen und Körperverletzungen an zweiter Stelle hinter Großbritannien, bei den Einbrüchen weit hinter Kanada an dritter Stelle, bei sexuellen Übergriffen an siebenter Stelle und bei den einfachen Diebstählen mit nur halb so vielen Fällen wie die Niederlande sogar an letzter Stelle.
Dennoch ist ihre Mordrate mit jährlich 10 Toten auf 100 000 Einwohner zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts und mit 6 Toten auf 100 000 Einwohner heute immer noch sechsmal so hoch wie die in Frankreich, Deutschland oder Großbritannien. Die Vereinigten Staaten haben also ein besonderes Problem mit tödlicher Gewalt durch Feuerwaffen, die sich sehr stark auf die Gettos in den Städten konzentriert. Diese Gewalt hat zum einen mit dem freien Verkauf von über 200 Millionen Gewehren und Pistolen zu tun (4 Millionen Amerikaner tragen jeden Tag eine Waffe mit sich), zum anderen mit der tiefen Verwurzelung des Schwarzmarkts in den benachteiligten Vierteln der Großstädte.
Das „amerikanische Modell“, das keines ist
DIE Entwicklung der Gewaltverbrechen in Frankreich (und in ganz Europa) lässt keine Annäherung an jenes „amerikanische Modell“ erkennen, das so auffällig von Gewalt mit tödlichem Ausgang geprägt ist. Die Mordraten in Frankreich sind in den letzten zehn Jahren um ein Fünftel gesunken, und zwar von 4,5 Opfern pro 100 000 Einwohner im Jahr 1990 auf 3,6 Opfer pro 100 000 Einwohner im Jahr 2000. Obwohl tätliche Auseinandersetzungen und vorsätzliche Körperverletzungen merklich zugenommen haben, bedroht diese Gewalt keineswegs „alle überall“, sondern konzentriert sich auf Jugendliche aus Arbeitermilieus und ist im Allgemeinen harmlos: In der Hälfte aller Fälle waren die Übergriffe, von denen die Behörden Kenntnis erhielten, ausschließlich verbaler Natur. Nur einer von 20 Fällen hatte eine krankenhausreife Verletzung oder einen Arbeitsausfall zur Folge.6
Wenn also behauptet wird, dass Amerika „extrem kriminell“ war und es heute dank der Null-Toleranz-Politik nicht mehr ist, während Frankreich heute extrem kriminell wird, weil es verabsäumt hat, diese Politik rasch zu importieren, beruht das nicht auf einer kriminologischen These, sondern ist ideologisches Geschwätz.
Zweites Märchen: In New York und anderswo hat die Polizei die Kriminalität besiegt. Vor kurzem hat das Manhattan Institute – ein ultrakonservativer US-Think-Tank und Zentrum der weltweiten Kampagne zur Kriminalisierung des Elends – in einem Bericht dieses zweite Märchen nachhaltig bestätigt: Dem zufolge beruht der kontinuierliche Rückgang der Verbrechensraten in den Vereinigten Staaten darauf, dass man die Ordnungskräfte nach New Yorker Vorbild von ideologischen Tabus und juristischen Zwängen befreit hat.7 Doch auch hier sprechen die Tatsachen eine eindeutige Sprache: Sämtliche wissenschaftlichen Untersuchungen haben ergeben, dass die Polizei nicht jene ausschlaggebende Rolle gespielt hat, die ihr die Verfechter einer Kriminalisierung von Armut und sozialer Unsicherheit gern zuschreiben. Im Gegenteil.
Ein Beleg dafür ist, dass der Rückgang der Gewaltverbrechen in New York bereits 1990 begann – also drei Jahre bevor Rudolph W. Giuliani Bürgermeister wurde. Dieser Trend hat sich nach Giulianis Amtseinführung Ende 1993 unverändert fortgesetzt. Besonders klar wird das anhand der Zahl der Morde ohne Feuerwaffen, die seit 1979 kontinuierlich fällt. Die Morde durch Gewehr- und Pistolenkugeln, deren Zahl von 1985 bis 1990 wegen der Ausbreitung des Crackhandels sprunghaft anstieg, haben seit 1990 ebenfalls wieder abgenommen. Keine der diesbezüglichen Kurven zeigt irgendwelche Auswirkungen der Politik Giulianis.8
Überdies ist der Rückgang der Gewaltverbrechen in Städten, die die so genannte Null-Toleranz-Politik nicht übernommen haben, ebenso markant. Darunter sind auch solche, die stattdessen konstruktive und kontinuierliche Beziehungen zu den Bewohnern aufgebaut haben, um Übergriffen vorzubeugen, anstatt mit übertriebener Strafverfolgung darauf zu reagieren. In San Francisco ist man straffälligen Jugendlichen mit Ausbildungsprogrammen, Beratung, medizinischer und therapeutischer Behandlung entgegengekommen. Das hat von 1995 bis 1999 nicht nur die Zahl der Gefängnisaufenthalte halbiert, sondern auch die Gewaltverbrechen um 33 Prozenz reduziert (gegenüber 26 Prozent in New York, wo aber gleichzeitig die Zahl der Neuzugänge in den Gefängnissen um ein Drittel anstieg).
Wie falsch das genannte Märchen ist, belegt drittens die Tatsache, dass New York schon von 1984 bis 1987 eine repressive Ordnungspolitik durchsetzte. Ihr Ergebnis war eine merkliche Zunahme der Gewaltverbrechen … Die polizeiliche Strategie, die New York in den 90er-Jahren angewendet hat, vermag also den Rückgang des Verbrechens in dieser Stadt nicht überzeugend zu erklären.
Es sind insgesamt sechs Faktoren, die im Zusammenwirken – und unabhängig von der Arbeit der Polizei und der Justiz –dafür gesorgt haben, dass die Gewaltverbrechen in amerikanischen Großstädten zurückgegangen sind. Erstens hat ein Wirtschaftswachstum, das in seinem Ausmaß und seiner Dauer bisher einmalig ist, Millionen Jugendlichen Arbeit gegeben. Sie wären ansonsten dem Nichtstun oder dem kriminellen „Business“ verfallen. Selbst in den Gettos und Barrios hat die Arbeitslosigkeit deutlich abgenommen, wenngleich die meisten dieser Arbeitsplätze unsicher und schlecht bezahlt sind. Zweitens hat die Zahl der Jugendlichen zwischen 18 und 24 Jahren insgesamt abgenommen. Diese Altersgruppe neigt am ehesten zu Gewaltverbrechen, und ihr Schrumpfen hat quasi automatisch einen Rückgang der Straßenkriminalität bewirkt. Drittens hat sich der massenhafte Handel mit Crack in den benachteiligten Vierteln strukturiert und stabilisiert. Die Konsumenten haben sich anderen Drogen zugewendet, darunter Marihuana, Heroin und Methamphetaminen, deren Handel weniger Opfer fordert, weil er innerhalb von Netzen gegenseitiger Bekanntschaft stattfindet und nicht im anonymen Tausch an öffentlichen Orten.9
Abgesehen von diesen drei ökonomischen und demografischen Faktoren hat es auch einen Lerneffekt gegeben: Unter den Jugendlichen, die nach 1975 geboren sind, verweigern sich immer mehr den harten Drogen und dem dazugehörigen Lebensstil. Sie wollen nicht dem düsteren Schicksal verfallen, das ihre großen Brüder, Verwandten und Freunde ereilt hat: unkontrollierbare Sucht, Gefängnisaufenthalte, gewaltsamer und frühzeitiger Tod. Außerdem haben Kirchen, Schulen, die verschiedensten Vereinigungen, Kiezklubs und Initiativen der Mütter von Opfern der tödlichen Straßenkämpfe ihre Fähigkeiten zur informellen sozialen Kontrolle aktiviert. Wo das noch möglich war, haben sie mit ihren Kampagnen zur Sensibilisierung und Vorbeugung den Rückzug der Jugendlichen aus der Raubwirtschaft der Straßen begleitet und unterstützt. Dieser Aspekt wird im herrschenden Diskurs über den Rückgang der Kriminalität in den Vereinigten Staaten völlig ausgeblendet. Und schließlich war das Aufkommen der in den Vereinigten Staaten verzeichneten Gewaltverbrechen zu Beginn der 90er-Jahre außergewöhnlich hoch. Es war höchst wahrscheinlich, dass sie wieder zurückgehen würden, zumal die Faktoren, die ihren Anstieg ermöglicht hatten (wie der anfängliche Höhenflug des Crackhandels) nicht von Dauer sein konnten.
Diese sechs Faktoren zusammen erklären, wie der zu verzeichnende Rückgang der Gewaltverbrechen in den Vereinigten Staaten zustande kam. Aber langwierige und Zeit raubende wissenschaftliche Analysen sind nicht Sache kurzatmiger, hektischer Politik und Medienberichterstattung. Die Propagandamaschine Giulianis hat von der naturgemäß langsamen Arbeitsweise der kriminologischen Forschung profitiert. Sie hat den Erklärungsbedarf mit vorgefertigten Behauptungen über die Wirksamkeit polizeilicher Repression erfüllt – eine verführerische Methode, weil sie auf die „Verantwortung“ abhebt, mit der sie dem Individualismus und Utilitarismus der derzeit vorherrschenden neoliberalen Ideologie entgegentritt. Einmal angenommen, die Polizei hätte tatsächlich einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Verbrechensraten in New York gehabt: Mit welchen Mitteln will sie dieses Ergebnis erreicht haben?
Drittes Märchen: Das Gerede von „null Toleranz“ verschleiert die tatsächliche Reform der Sicherheitsorgane. Glaubt man den Märchen, die die neoliberalen Think-Tanks und ihre publizistischen und politischen Ableger verbreiten, hat die New Yorker Polizei die Hydra des Verbrechens mit einer speziellen Taktik namens zero tolerance besiegt. Diese besteht darin, die banalsten Vergehen im öffentlichen Raum gnadenlos zu verfolgen. So wird seit 1993 jeder, der in der U-Bahn bettelt oder auf der Straße herumstreunt, der sein Autoradio zu laut stellt, Hausmauern bekritzelt oder den Bürgersteig verschmutzt, verhaftet und hinter Gitter gebracht. „Schluss mit den einfachen Kontrollen auf dem Kommissariat. Wer auf der Straße uriniert, wandert hinter Gitter. Wir sind entschlossen, jede ‚eingeschlagene Fensterscheibe‘ zu reparieren (d. h. die geringsten äußersten Anzeichen der Unordnung) und jeden daran zu hindern, sie von neuem einzuschlagen.“ Diese Strategie, behauptet Polizeichef William Bratton, „funktioniert in Amerika“ und würde auch „in jeder anderen Stadt der Welt funktionieren“10 .
Verschleierte Reformen
DIE lautstarke polizeiliche Devise der zero tolerance ist um die Welt gegangen. Dabei verschleiert sie vier zum Teil gleichzeitige, aber unterschiedliche Reformen bei den öffentlichen Sicherheitsorganen. Zunächst hat die New Yorker Polizei ihre Bürokratie völlig umgekrempelt. Ihre Dienste wurden dezentralisiert, Hierarchien abgebaut, jüngere Führungskräfte eingesetzt, Bezahlung und Beförderung der Bezirkskommissare von den Zahlen abhängig gemacht, die sie vorweisen konnten. Zweitens bekam die Polizei mehr Geld – und zwar das Zehnfache. Die Zahl der Mitarbeiter stieg von 27 000 im Jahr 1993 auf 41 000 knapp zehn Jahre später. Während das Budget der Polizei gewaltig anwuchs, wurde bei den sozialen Leistungen gekürzt. Drittens hat sich die Polizei die neuesten Informationstechnologien zunutze gemacht. Das EDV-System Compstat erlaubt es etwa, die Entwicklung der Delikte und Verbrechen in Echtzeit zu verfolgen, sodass die Ordnungskräfte just in time, also ohne Leerzeiten und Überbesetzungen, in die entsprechenden Sektoren verlegt werden können. Schließlich hat man sämtliche Abläufe einer betriebswirtschaftlichen Reform unterzogen und ist gezielt gegen unerlaubten Waffenbesitz, Drogenhandel, häusliche Gewalt und Verkehrsvergehen vorgegangen.
Ein bürokratischer Apparat, der im Ruf stand, träge und korrupt zu sein, und der gewöhnlich wartete, bis die Opfer eines Verbrechens Anzeige erstatteten, um dieses dann zu registrieren und danach nichts weiter zu tun, hat sich in eine echte „Sicherheitsfirma“ verwandelt. Sie ist mit immensen menschlichen und materiellen Ressourcen ausgestattet und strotzt vor Tatendrang. Selbst wenn die Reformen der Polizei eine merkliche Auswirkung auf die Verbrechensraten gehabt haben sollten – was bisher niemand belegen konnte –, in jedem Fall ist ein Erfolg der Null-Toleranz-Politik nicht nachweisbar.
Viertes Märchen: Die tatnahe, beinharte Verfolgung geringfügiger Sraftaten verhindert das Aufkommen schwer wiegender Verbrechen. Das letzte Sicherheitsmärchen aus Amerika ist die Vorstellung, dass die angeblich für die Erfolge der Polizei verantwortliche Null-Toleranz-Politik auf einer wissenschaftlich abgesicherten kriminologischen Theorie gründet – auf der berühmten „Theorie der eingeschlagenen Fensterscheiben“. Sie unterstellt, dass die tatnahe und beinharte Verfolgung der geringsten Vergehen im öffentlichen Raum das Aufkommen schwerwiegender Verbrechen im Keim erstickt, indem sie ein gesundes Klima der Ordnung herstellt. Wenn man den kleinen Dieb verhaftet, so heißt es, verhindert man damit das Heranreifen möglicher Kapitalverbrecher. Nun ist diese so genannte Theorie alles andere als wissenschaftlich fundiert. Sie wurde vor zwanzig Jahren von dem ultrakonservativen Politologen James Q. Wilson und seinem Kollegen George Kelling veröffentlicht – allerdings nicht in einer Zeitschrift für Kriminologie, wo sie der Kritik kompetenter Experten ausgesetzt gewesen wäre, sondern in einer auflagenstarken Wochenzeitung. Empirisch belegt worden ist diese Theorie nie, auch nicht im Ansatz.
Ihre Verfechter berufen sich auf das 1990 erschienene Buch des Politologen Wesley Skogan „Disorder and Decline“. Der Autor untersucht die Ursachen sozialer Entwurzelung in vierzig Stadtvierteln von sechs amerikanischen Großstädten und fragt nach den Möglichkeiten, Abhilfe zu schaffen. Dabei zeigt dieses Buch im Grunde, dass nicht ein Klima „anarchischer Zustände“, sondern Armut und Rassentrennung zu den wichtigsten Determinanten der Kriminalität in den Städten gehören. Im Übrigen ist die statistische Beweisführung des Buchs wegen mehrfacher Messfehler und mangelnder Daten widerlegt. Nicht zuletzt hat der Autor selbst die berühmten „eingeschlagenen Fensterscheiben“ als „eine bloße Metapher“ bezeichnet.11
Selbst diejenigen, die das Rezept ständiger Schikanen der Armen durch die New Yorker Polizei erfunden haben, geben zu, dass da keinerlei kriminologische Theorie im Hintergrund steht. Die „eingeschlagenen Fensterscheiben“ haben Polizeivertreter erst im Nachhinein entdeckt und ins Spiel gebracht. Ursprünglich ging es vielmehr darum, bestimmte Maßnahmen als „vernünftig“ erscheinen zu lassen, die bei den mehrheitlich weißen, bürgerlichen Wählern gut ankamen, obwohl sie im Grundsatz und in ihrer Anwendung diskriminierend waren.
So konnte man als Innovation verkaufen, was in Wahrheit nur der Rückgriff auf eine alte Polizeitaktik war. Jack Maple, den Rudolph W. Giuliani als „Genie der Verbrechensbekämpfung“ bezeichnete, hat diese Taktik zuerst in der U-Bahn eingeführt und dann auf die Straße ausgeweitet. Klar und deutlich schreibt er in seiner 1999 erschienenen Autobiografie „Crime Fighter“: „Die Theorie der ‚eingeschlagenen Fensterscheiben‘ ist nur eine Ausweitung dessen, was wir in der Vergangenheit die ‚Tritt sie in die Eier‘-Theorie‘ nannten.“ Das ist eine alte Binsenweisheit der Polizei. Sie besagt, dass, wenn die Polizei einen notorischen Verbrecher wegen verschiedenster Lappalien mit entsprechendem Nachdruck verfolgt, dieser irgendwann – des Kämpfens müde – das Viertel verlässt, um sein Geschäft anderswo zu treiben.
Der Meister der Giuliani‘schen Polizeipolitik macht sich ganz offen über all jene lustig, die an eine „mystische Verbindung zwischen kleineren Vergehen gegen die öffentliche Ordnung und schwerwiegenden kriminellen Handlungen“ glauben. Die Vorstellung, dass die Polizei Gewaltverbrechen unterbinden könnte, indem sie entschlossen gegen Bagatelldelikte vorgeht, scheint ihm selbst „lächerlich“. Und das untermauert er mit einer Fülle von Gegenbeispielen aus seiner Berufserfahrung. Er vergleicht einen Bürgermeister, der eine solche Polizeitaktik anwendet, mit einem Arzt, der „einen Krebskranken liftet“ oder einem Jagdfischer, der „statt Haien Delfine fängt“.
Jack Maple wäre bestimmt erstaunt, wenn er das „Blatt Nr. 31“ lesen könnte, das französische „Experten“ des Institut des Hautes Études de la Sécurité Intérieure (Ihesi) verfasst haben. Das Ihesi ist eine so genannte Forschungsinstitution des französischen Innenministeriums. Seine Broschüre richtet sich an Frankreichs Bürgermeister und gibt ihnen für die Schaffung „lokaler Sicherheitspakte“ folgende Anleitung: „Amerikanische Forschungen haben gezeigt, dass die Häufung von Bagatellvergehen nur ein frühes Anzeichen für die allgemeine Zunahme von Gesetzeswidrigkeiten ist. Die ersten abweichenden Verhaltensweisen – und seien sie noch so geringfügig oder untypisch – drücken einem Viertel ihren Stempel auf. Sie ziehen andere Formen des Fehlverhaltens nach sich und kündigen das Ende des sozialen Friedens im täglichen Leben an. Es beginnt eine Spirale des Niedergangs, Gewalt macht sich breit und mit ihr alle anderen Formen des Verbrechens: gewaltsame Übergriffe, Einbrüche, Drogenhandel usw. Der Präsident der New Yorker Polizei hat sich auf diese Forschungen gestützt und eine Strategie der Verbrechensbekämpfung namens ‚null Toleranz‘ im Umgang mit allen durchgesetzt, die sich Bagatellvergehen zuschulden kommen lassen. Offenbar war diese Strategie ein wichtiger Faktor für den Rückgang der Verbrechensraten in dieser Stadt.“12 Es ist schwer, angesichts einer derartigen Welle transatlantischen Unsinns nicht in ungläubiges Staunen zu verfallen. Dass die New Yorker Polizei die Armen und sozial Schwachen so schikaniert, beruht doch auf nichts anderem als Binsenweisheiten und einer daraus abgeleiteten pompösen Doktrin. Der dahinter stehende „gesunde Menschenverstand“ der Polizisten freilich kann im konkreten Fall deutlich danebenliegen.
Bei einer kritischen Prüfung aller wissenschaftlichen Arbeiten, die die Effizienz der Polizei bei der Verbrechensbekämpfung untersuchen, kamen die zwei besten amerikanischen Experten auf dem Gebiet zu folgendem Ergebnis: Weder die Zahl der eingesetzten Polizisten noch die internen Reformen der Betriebsabläufe und der Mentalität bei der Polizei (etwa die Einführung der community police) noch die Fokussierung auf Gruppen und Gegenden mit starkem Hang zur Kriminalität (mit der „möglichen und teilweisen“ Ausnahme von Programmen, die den Drogenhandel auf der Straße gezielt ins Visier nehmen) haben als solche die Entwicklung der Verbrechensrate beeinflusst.
Eine ironische Pointe: Die Autoren der Studie bezeichnen das EDV-System Compstat und die Null-Toleranz-Politik als „die am wenigsten plausiblen Kandidaten, wenn es darum geht, den Rückgang der Gewaltverbrechen in Amerika zu erklären“.13
Wie bei einer Matroschka-Puppe umhüllt eins der vier Wissenschaftsmärchen von jenseits des Atlantiks das andere. Sie ergänzen sich zu einer scheinlogischen Argumentationskette und rechtfertigen eine abgrundtief diskriminierende Politik der „Klassensäuberung“. Diese Politik beruht auf der Gleichsetzung von „nicht normgerechtem Verhalten“ mit „Verbrechen“. Sie zielt auf Stadtviertel und Bevölkerungsgruppen, die von vornherein verdächtigt oder sogar für schuldig gehalten werden.
Wenn wahr wäre, dass die Gesellschaft der Vereinigten Staaten durch das Vorgehen der Polizei befriedet wurde, während andere Länder von einer „Welle“ der Kriminalität heimgesucht wurden; wenn es stimmen würde, dass der Erfolg der Amerikaner auf der Null-Toleranz-Politik und diese selbst auf einer fundierten kriminologischen Theorie (der eingeschlagenen Fensterscheiben) gründet – dann wäre es auch logisch, ihre Konzepte und die aus ihnen abgeleiteten Maßnahmen zu übernehmen. Doch in Wahrheit fehlt den vier Kernthesen der neuen Sicherheits-Vulgata jede wissenschaftliche Grundlage. Ihre praktische Effizienz gründet auf einem kollektiven Glauben ohne Bezug zur Wirklichkeit. Diese Thesen sind ein Trugbild. Sie verleihen dem entfesselten Tatendrang der Ordnungskräfte eine pseudowissenschaftliche Legitimation und unterstützen die Tendenz, dass der Staat auf soziale Unsicherheit mit strafrechtlichen und polizeilichen Mitteln reagiert – aber schließlich hat er sich ja schon längst aus seiner wirtschaftlichen und sozialen Verantwortung gestohlen.
dt. Herwig Engelmann
* Soziologe an der University of California, Berkeley, und am Centre de Sociologie Européenne in Paris. Autor von „Corps et âme. Carnets ethnographiques d‘un apprenti boxeur“, Marseille (Agone Verlag) 2000, sowie von „Punir les pauvres“, das bei demselben Verlag in Vorbereitung ist.