Brain-Drain auf dem Gesundheitsmarkt
IN allen Ländern der Welt findet die Ausbildung von Ärzten und medizinischem Personal in unkoordinierten Schüben statt, sodass es mal im einen, mal im anderen Land zu einem drastischen Fachkräftemangel kommt. Der Westen ist mit seinem Lebensstandard und der Ausstattung von Kliniken und Forschungseinrichtungen noch immer attraktiv genug, um seinen Bedarf an qualifizierten Ärzten und Pflegekräften zu decken, wenn nötig eben im fernen Ausland: Jeder fünfte praktische Arzt in Großbritannien stammt aus Asien, fast jeder vierte Mediziner in den USA hat seine Ausbildung im Ausland absolviert. Für das Gesundheitswesen in den Herkunftsländern hat das fatale Folgen.
Von DOMINIQUE FROMMEL *
Im Dezember 2001 stellte die britische Regierung fest, dass das staatliche Gesundheitswesen für sein weiteres Funktionieren bis zum Jahr 2004 auf 8 000 bis 10 000 zusätzliche praktische Ärzte angewiesen sein würde. Daraufhin begann eine Kampagne zur Anwerbung ausländischer Mediziner. Im Januar 2001 forderte Südafrika Kanada auf, nicht länger südafrikanische Allgemeinmediziner abzuwerben, weilin den ländlichen Gebieten Kanadas Ärzte fehlen. Südafrika hatte schließlich erst kurz zuvor 350 kubanische Ärzte eingestellt,1 um die Abwanderung der im Land ausgebildeten Fachkräfte auszugleichen. Im Oktober 2000 stellte Irland 55 Anästhesisten aus Indien und Pakistan ein. Selbst Schweden, das Musterland der sozialen Fürsorge, hat vor kurzem mit dem Wildern auf fremdem Territorium begonnen und unter anderem 30 polnische Ärzte eingestellt. 23 Prozent der Mediziner in den Vereinigten Staaten haben ihre Ausbildung im Ausland absolviert. Fast 20 Prozent der praktischen Ärzte in Großbritanien stammen aus Asien.
In Frankreich arbeiten ungefähr 8 000 Ärzte, die ihre Ausbildung im Ausland absolviert haben. 4 400 von ihnen haben außerhalb Europas studiert. Sie sind an öffentlichen Krankenhäusern beschäftigt und leisten einen wesentlichen Teil der Versorgung in den Bereichen Kinderheilkunde, Geburtshilfe und Radiologie. Was Status und Gehalt angeht, stehen sie freilich deutlich schlechter da als ihre französischen Kollegen. In den arabischen Golfstaaten arbeiten etwas mehr als 20 000 Ärzte, die meisten stammen vom indischen Subkontinent. Derartige Migrationen zwischen Ländern des Südens sind in der Regel jedoch zeitlich befristet.2
Für die betroffenen Länder ist die Abwanderung der Ärzte ein sehr schmerzhafter Aderlass. So hat Simbabwe in den Neunzigerjahren 1 200 Ärzte ausgebildet, von denen dann im Jahr 2000 nur noch 360 im Lande tätig waren. Die Hälfte aller in Äthiopien, Ghana und Sambia ausgebildeten Ärzte sind ausgewandert. Viele dieser Auswanderer üben ihren Beruf im Gastland mittlerweile gar nicht mehr aus. Mit den verfügbaren Statistiken jedenfalls lässt sich kein genaues Bild der Migration zeichnen, weil diese „freiwillige Auswanderer“ und „Flüchtlinge“, manchmal auch im Ausland geborene eigene Staatsbürger, unterschiedlich zuordnen.3
Noch größer ist der Mangel an Pflegepersonal. Im Jahr 2000 hat das britische Gesundheitsministerium mehr als 8 000 Krankenschwestern und Hebammen von außerhalb der Europäischen Union eingestellt – zusätzlich zu den 30 000 ausländischen Kolleginnen, die bereits an den öffentlichen und privaten Krankenhäusern Großbritanniens arbeiten. Schon heute lässt sich absehen, dass bis zum Jahr 2010 in den Vereinigten Staaten, sowie in Großbritannien und in Frankreich mehrere zehntausend qualifizierte Kräfte fehlen werden.
Der Arzt als Entdeckungsreisender
SEIT jeher hat sich die Wissenschaft nicht zuletzt dadurch weiterentwickelt, dass Menschen sich vom einen zum anderen Ort bewegen und ihr Wissen weitergeben. Die Medizin ist keine Ausnahme. Im Mittelalter gingen die Ärzte zum Studium an die berühmten Universitäten von Alexandria, Córdoba, Bologna oder Montpellier. Später fuhren sie auf den Schiffen der Entdecker mit. Seit Louis Pasteur mit seinen bakteriologischen Erkenntnissen in den 60er- und 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts die Medizin revolutioniert hat, haben Ärzte die Welt vom äußersten Norden bis zum tiefsten Süden bereist, und sie haben die Tropenmedizin gegründet.
Inzwischen gibt es weitaus weniger Pflegepersonal in den christlichen Missionen der Welt. Die westlichen Experten sind nicht an ihre Stelle getreten, sie haben andere Aufgaben zu erfüllen. Seit der Unabhängigkeit vieler ehemaliger Kolonien verläuft die Wanderungsbewegung der Mediziner in die andere Richtung. Dies liegt einerseits an der Nachfrage in den Industriestaaten und andererseits an der drastischen Verknappung der Gesundheitsbudgets, die den Entwicklungsländern zu Beginn der Achtzigerjahre von den Geldgebern internationaler Fonds im Namen von Strukturanpassungen aufgezwungen wurde.
Die Abwanderung von Ärzten und Ärztinnen hat nicht nur mit der Armut in ihren Herkunftsländern, mit Überlebensstrategien oder auch mit veränderten Verhaltensweisen zu tun. Ausschlaggebend ist für viele Migranten vor allem der Eindruck, dass die Länder des Nordens qualifizierten Ärzten eine Lebensweise und berufliche Chancen eröffnen, die ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten entsprechen. Hinzu kommen politisch instabile Verhältnisse im Heimatland, ethnische Diskriminierung, Frustration im Beruf (aufgrund schwerfälliger Bürokratien, verspäteter Gehaltszahlung, Elitenklüngel oder beruflicher Isolation), das Missverhältnis zwischen Studieninhalten und deren Umsetzung in die Praxis oder auch familiäre Probleme. All diese Faktoren tragen bei zur Entscheidung auszuwandern, insofern geht es in aller Regel um mehr als den bloßen materiellen Anreiz.4
Die Gründe, die dazu führen, dass praktizierende Ärzte die Lust verlieren, ihren Beruf im eigenen Land auszuüben, sind in der Tat vielschichtig. Einer davon wird oft verdrängt und betrifft den Norden ebenso wie den Süden: Er liegt in der anhaltenden Krise des medizinischen Denkens. Bewusst oder unbewusst begreifen Ärzte sich nach wie vor als diejenigen, die „den Triumph der Medizin“ verkörpern und somit ebenso selbstverständlich wie zuverlässig Heilungserfolge vorweisen können. In vielen Fällen hat diese Vorstellung die Berufswahl geprägt. Wenn es dann aber an den materiellen Voraussetzungen fehlt, um diesen Beruf auch angemessen ausüben zu können, wird das Ideal zur Illusion. Enttäuschung und Wut sind die Folge. Keine Diagnose stellen zu können, weil man keine Laboruntersuchungen vornehmen kann; ein geeignetes Medikament nicht verabreichen zu können oder den elementaren Regeln der Hygiene nicht entsprechen zu können – mit all dem muss sich ein Großteil der medizinischen Fachkräfte in Entwicklungsländern abfinden. Sobald einer von ihnen die Möglichkeit zur Emigration hat, steht er vor dem Dilemma, seinem Land treu zu bleiben oder seinem Beruf.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat für die Länder der südlichen Halbkugel einst hohe Ziele gesteckt. So sollte im Jahr 2000 jedes Land auch in ländlichen Regionen über mindestens einen Arzt auf 5 000 Einwohner und einen ausgebildeten Krankenpfleger auf 1 000 Einwohner verfügen. Doch die Gesetze des Arbeitsmarktes, der mangelnde Realitätssinn internationaler Geldgeber und die Gleichgültigkeit der Behörden in den betroffenen Ländern haben diese Ziele zu einer Farce gemacht. Im weltweiten Durchschnitt kommt heute ein Arzt auf 4 000 Menschen: einer auf 500 Menschen in den westlichen Ländern, einer auf 2 500 Menschen in Indien, und in den 25 ärmsten Ländern der Welt gibt es einen einzigen Arzt für 25 000 Menschen. Die Mobilität der Ärztinnen und Ärzte, Krankenpflegerinnen und medizinisch-technischen Fachkräfte hat für die Länder des Südens zu einer gesundheitspolitischen Apartheid geführt.
Angesichts solcher Gegensätze legen die internationalen Organisationen, die gesundheitspolitische Leitlinien ausgeben und gegen soziale Ungleichheit kämpfen sollen, ein bemerkenswertes Stillschweigen an den Tag. Seit 1979 hat nämlich weder die WHO noch das United Nations Devolopment Program (UNDP) irgendwelche Studien über die Folgen veröffentlicht, die der Transfer von Fachkräften für die Gesundheit der dadurch benachteiligten Menschen haben wird.5 Die Weltbank erstellt zwar jede Menge Untersuchungen über die Vorzüge der Marktöffnung, hat aber merkwürdigerweise noch nie die Geldflüsse bewertet, die durch den Austausch menschlichen Kapitals entstehen. Ohne Zweifel blendet sie auch die UN-Resolution 2417 „Über die Abwanderung von Führungskräften und technischem Personal aus Entwicklungsländern“ einfach aus. Diese verurteilt nämlich die „Wilderei“ nach Spezialisten aller Berufe.6 Aber schließlich trägt ja das Gesundheitswesen auch nicht direkt zum Bruttosozialprodukt bei …
Anfang 1995 sind die Leitlinien „Eine WHO für das 21. Jahrhundert gestalten“ verabschiedet worden. Sie befassen sich vor allem mit den Voraussetzungen für eine weltweite Gesundheitspolitik, übergehen jedoch die Frage, wie die Wanderungsbewegung von qualifizierten Fachkräften im Gesundheitswesen zu regeln sein könnte.7 Außerdem wird die Medizinerflucht von der WHO in ihrem „Index verlorener gesunder Lebensjahre“ nicht berücksichtigt. Dieser Faktor ist jedoch auch entscheidend für die Berechnung der verfrühten Todesfälle und Arbeitsunfähigkeiten in den jeweiligen Ländern. Ebenso wenig wird zudem die Abwanderung der Ärzte und Krankenpfleger bei der Erstellung des Human Development Index des UNDP berücksichtigt. Wohlgemerkt: Das Leid der Menschen, die von der Gesundheitsversorgung abgeschnitten sind, lässt sich natürlich nicht in Zahlen ausdrücken. Und doch machen diese Zahlen nur allzu deutlich, dass die Sterblichkeitsrate unter Müttern und Neugeborenen heute nicht mehr, wie noch vor einigen Jahren, abnimmt.
Als Antwort auf globalisierungskritische Stimmen hat der Generaldirektor der WHO einen Ausschuss namens „Makroökonomie und Gesundheit“ mit dem Entwurf eines neuen Investitionsplans beauftragt.8 Die Kommissionsmitglieder weisen in ihrem Bericht das alte Argument zurück, die Volksgesundheit verbessere sich automatisch mit dem Wachstum der Wirtschaft. Sie betonen vielmehr, dass umgekehrt eine bessere Gesundheit entscheidend für wirtschaftliche Erholung und sozialen Fortschritt in einkommensschwachen Ländern sei. Mit ihrem „Gesundheitspakt“ versuchen sie, für die Beziehungen zwischen Geber- und Empfängerländern eine neue Grundlage zu schaffen. Die Vorschläge bleiben jedoch erstaunlich vage, wo es um das medizinische Personal geht, das für diese neuen Ansätze nötig sein wird.
Um seine Ziele zu erreichen, wird der Weltfonds zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose allerdings medizinische Infrastrukturen aufbauen oder unterhalten müssen, denn nur so sind die geplanten Projekte auch effizient durchzuführen. Das gilt insbesondere für die Behandlung von HIV-Patienten mit antiretroviralen Medikamenten.
Wie der Süden den Norden subventioniert
DIE Kosten für die Ausbildung von Fachkräften sind schwer einzuschätzen – nicht zuletzt, weil sie von einer Region zur anderen erheblich variieren. Auch die jeweiligen Auswirkungen der Ausbildung auf das Gesundheitswesen und den Entwicklungsstand in den Ländern sind kaum zu ermitteln. Wenn man allerdings einmal annimmt, dass in einem Land des Südens die allgemeinmedizinische Ausbildung ungefähr 60 000 Dollar pro Person und die Ausbildung des sonstigen medizinischen Personals etwa 12 000 Dollar pro Person kostet, kommt man grob gerechnet zu dem Ergebnis, dass Nordamerika, Westeuropa und Australien von den Entwicklungsländern jährlich mit 500 Millionen Dollar „subventioniert“ werden.9 Die WTO, die aggressiv für die Vorrechte der multinationalen Pharmakonzerne eintritt, muss in dieser Hinsicht geradezu Scheuklappen tragen. Denn sie erkennt die Bedeutung der medizinischen Fachkräfte nicht, obwohl eben nur diese Rezepte verschreiben und Medikamente verteilen können. Oder sollte die WTO womöglich auf den gegenwärtigen Schwarzhandel setzen, um den Verkauf von Medikamenten anzukurbeln?10
Lässt es sich denn überhaupt verhindern, dass sich die reichen Länder die wissenschaftlich ausgebildeten Fachkräfte der einkommensschwachen Länder aneignen, wo überdies bereits klar ist, dass die internationalen Migrationsbewegungen von Wissenschaftlern weiter zunehmen werden11 ?
Verschiedene Lösungsansätze bieten sich an. Die erste Version ist nicht neu und wurde in letzter Zeit gelegentlich wieder aufgegriffen12 : Das Aufnahmeland des Migranten zahlt eine Entschädigung an den Staat, der für die Ausbildung gesorgt hat. Diese Möglichkeit wird bislang eher willkürlich angewendet, weil das internationale Recht keine diesbezüglichen Vorschriften kennt. Die Herkunftsländer können außerdem die Emigration erschweren oder verzögern, indem sie Abschlusszeugnisse erst nach einer Mindestzahl von Dienstjahren vergeben. Die Gastländer können helfen, indem sie ihre Anforderungen an die Ausbildung erhöhen. Gegen den Abbau des Gesundheitswesens in den betroffenen Ländern können derartige Maßnahmen allerdings nichts ausrichten. Verschiedentliche Versuche, die Migration staatlich zu regeln, haben sich als weitgehend wirkungslos erwiesen.
Die zweite Lösungmöglichkeit ist von größerer Tragweite, weil sie bei einer kulturellen und gesellschaftlichen Aufwertung der Heilberufe ansetzt. Der traditionell ausgebildete Arzt kann die Bedürfnisse der Menschen in den südlichen Ländern kaum erfüllen, weil er am universalistischen Modell einer heilenden und wissenschaftlichen Medizin geschult ist – und für sie galt die öffentliche Vorsorgemedizin als Nebensache. Ärzte brauchen neue gedankliche und praktische Werkzeuge, um sich mit dem Ziel des Fortschritts in ihrem eigenen Land identifizieren zu können, und hier erweist sich ein gleichsam ideologischer Bruch mit dem westlich geprägten Studienkanon als notwendig.13
In einer derartigen Reform muss der Erhalt der Gesundheit einen höheren Stellenwert bekommen als die Behandlung von Krankheiten. Sie muss die Aufmerksamkeit eher auf die Gemeinschaft als auf das Individuum lenken. Sie muss auf interdisziplinärer Arbeit bestehen, um die Ansätze von Heilung und Vorsorge einander anzunähern. Und schließlich darf das Krankenhaus – das nur einer Minderheit zugänglich ist – nicht länger der einzig mögliche Ort für eine hochwertige medizinische Versorgung sein. Eine solche Reform würde die staatlichen Behörden und das gesamte medizinische Personal dazu bringen, ihr Handeln öffentlich – und nicht mehr nur vor den internationalen Geldgebern – zu rechtfertigen.
Der Übergang von einer universalistischen zu einer akkulturierten Medizin wertet die Ressourcen der südlichen Länder auf und berücksichtigt deren regionale Besonderheiten. Freilich birgt er die Gefahr einer Zweiklassenmedizin. Gewiss würde die Emigration von Ärzten dadurch erschwert, dass ihre Ausbildung den Anforderungen im Westen nicht mehr entspräche. Aber könnte man so wirklich die Flucht der besten Experten verhindern – etwa der Absolventen des All India Institute of Medical Sciences, von denen 75 Prozent ihre Promotionsstudien im Westen fortsetzen?14 Und würden Ärzte, die im eigenen Land blieben, damit nicht riskieren, dass ihre westlichen Kollegen sie nicht mehr ernst nehmen und ihre wissenschaftlichen Arbeiten ignorieren?
Da die Länder des Südens kein homogenes Ganzes bilden, müssen die Strategien und Arbeitsweisen der Kooperation mit den Industrieländern deren unterschiedliche Bedingungen und kurz- oder längerfristigen Ziele berücksichtigen. Außerdem bilden manche Länder (etwa Kuba, Ägypten, Spanien, Italien, Israel und die Philippinen) mehr medizinisches Personal aus, als sie beschäftigen können. Andere, wie die Vereinigten Staaten, Kanada oder Großbritannien, können ohne Einwanderer die Versorgung ihrer Bevölkerung nicht auf dem angestrebten Niveau halten. Die Lösung des Problems der beruflichen Abwanderung kann also nicht darin bestehen, die Mobilität der Einzelnen zu beschränken.
Ein dritter Lösungsweg scheint in diesem Zusammenhang angebrachter: Medizinische Fachkräfte sollten ermutigt werden, im Heimtaland zu bleiben oder später dorthin zurückzukehren. Außerdem sollte der ungleiche Zugang zu medizinischer Versorgung abgebaut und Investitionen in Bildung und Gesundheit höher bewertet werden. Hierzu eröffnen die neuen Kommunikationstechniken mit dem Aufbau von Zentren für Fernstudien oder interaktiven Vernetzungen interessante Möglichkeiten.
Denkbar wäre ein virtueller Campus, der eine Universität des Südens mit einer Europas oder Nordamerikas vernetzt und die Aktualisierung der Studienprogramme und den Zugang zur Fachliteratur sicherstellt. Interaktive Netze verbinden die Auswanderer sowohl untereinander als auch mit ihren Kollegen im Heimatland. Dadurch entstehen neue Formen der intellektuellen und wissenschaftlichen Diaspora. Das Ziel ist eine engere Zusammenarbeit zwischen Nord und Süd, die Aufwertung der Arbeit von Kollegen im Süden auf internationaler Ebene und die Suche nach Möglichkeiten einer vorübergehenden, besser noch dauerhaften Rückkehr ins Heimatland.
Es gibt bereits mehr als 40 solcher Diasporanetze in über 30 Ländern. Manche zählen ein paar dutzend, andere mehrere hundert Mitglieder.15 Da die Auswanderer in Kontakt mit der Heimat bleiben, können sie zugleich im Ausland arbeiten und zum Fortschritt im eigenen Land beitragen. Diese Politik der Ermunterung zur Rückkehr ist das Ziel des Projektes „Tokten“ („Transfer of Knowledge through Expatriate Nationals“). Es wird vom UNDP und der Internationalen Gesellschaft für Migration finanziert. Allerdings sind die Ergebnisse im Bereich des Gesundheitswesens noch eher bescheiden.
Prognosen über den Bedarf an Ärzten und Gesundheitspersonal zu erstellen erweist sich als schwierig – nicht zuletzt, weil auch das zu erwartende Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum kaum zu bestimmen ist. Zudem ist die Abwanderung von hoch qualifizierten Menschen weder ein allgemeines Phänomen noch das Ergebnis einer einheitlichen Politik. Wer ihr beikommen will, muss die menschlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Besonderheiten der Auswanderungs- wie der Einwanderungsländer berücksichtigen. Fest steht auch, dass sich das Humankapital des Gesundheitswesens weder durch Direktiven der reichen Länder und der WTO noch durch Gesetze, die arme Länder in Eigenregie erlassen, in die eine oder andere Richtung lenken lässt.
Es ist höchste Zeit, dass sich die WHO ihrer Aufgabe besinnt und eine weltweite Regelung des Gesundheitswesens auf der Grundlage einer solidarischen Ethik entwirft. Sie müsste nicht zuletzt eine Debatte über die Zukunft des „Handels mit öffentlichen Dienstleistungen“ eröffnen, an der sich UNO, Welthandelsorganisationen und die internationalen Finanzinstitutionen ebenso zu beteiligen hätten wie Experten des internationalen Rechts. Ziel dieser Debatte wäre die Ausarbeitung einer Konvention zur internationalen Anwerbung von Fachkräften. Dieser Vertrag sollte die Bedingungen festlegen, unter denen Industrieländer medizinisches Personal aus Ländern einstellen dürfen, denen es selbst an Fachkräften mangelt.16 Er würde entsprechende internationale Abkommen zur Berufsausbildung ergänzen und das in der Charta der Menschenrechte festgelegte Recht auf Gesundheit konkreter definieren.
dt. Herwig Engelmann
* Arzt und ehemaliger Dozent an den Universitäten von Minnesota, Paris V, Addis Abeba und Kalkutta.