17.05.2002

Unter den Ruinen von Dschenin

zurück

Unter den Ruinen von Dschenin

DIE UN-Untersuchungskommission zu den Vorgängen bei der Besetzung des Flüchtlingslagers Dschenin durch israelische Truppen kam nicht zustande, weil die Regierung Scharon unhaltbare Bedingungen stellte. Es sollten nur Soldaten interviewt werden, denen Israel die Aussage genehmigt. Die Aussagen sollten für ein internationales Gericht nicht verwendbar sein. Und die Kommission sollte aus ihren Ermittlungen keine Schlüsse ziehen. Die Torpedierung der UN-Untersuchung stärkt den Verdacht, dass sich unter den Ruinen von Dschenin etwas verbirgt, was dem Ansehen Israels schaden könnte. Umso wichtiger sind Berichte, die sich auf israelische und palästinensische Augenzeugen stützen.

Von AMNON KAPELIOUK *

Der Anblick spottet jeder Beschreibung. Ein Bild des Grauens – wie nach einem Hurrikan. Ganz oder halb zerstörte Häuser, Bruchstücke von Beton und Eisen, durchwirkt von einem Gewirr elektrischer Leitungen. Von Panzern oder Raketen zerfetzte Autos verleihen dem furchtbaren Anblick zusätzlich eine barbarische Dimension. Beißender Verwesungsgeruch liegt über den Trümmern. Von der Infrastruktur ist nichts geblieben.

Im Zentrum des Lagers, ein wüstes rechteckiges Areal. Hier stand das Viertel Haouachine mit rund 150 Häusern (von insgesamt 1 100 in Dschenin). Riesige Bulldozer haben es vollständig niedergerissen und platt gewalzt. Frauen, Alte, Kinder und Männer irren über das Trümmerfeld, auf der Suche nach ihren Nächsten, die hier begraben sind.

Ein Dreißigjähriger gräbt mit einer Schaufel den Boden auf, sein Sohn arbeitet neben ihm mit bloßen Händen. Sie hoffen, die verschütteten Mitglieder ihrer Familie zu finden. Ein paar Meter weiter ziehen drei Männer den verstümmelten Leichnam ihres Vaters aus den Trümmern dessen, was einmal ihr Haus gewesen ist. Andere versuchen, die letzten Habseligkeiten aus den unkenntlichen Überresten ihrer Wohnungen zu bergen. Das Flüchtlingslager Dschenin gehört zu den ärmsten im Westjordanland.

In der Ecke eines zur Hälfte eingestürzten Hauses weint und schreit eine Frau von etwa vierzig Jahren: „Gott! Räche uns und lass Scharon sterben.“ Sie ist überzeugt, dass Angehörige unter den Trümmern liegen. Einige Kinder sehen mit großen Augen in die Runde, das Entsetzen hat jedes Lächeln von ihren Gesichtern vertrieben. „Durch seine verbrecherische Wahnsinnsoperation hat Scharon all diese Kinder zu künftigen Selbstmordbombern gemacht. Er selbst, dieses Ungeheuer, wird dafür sorgen, dass uns jedes Mittel recht ist, um seine Armee und seine Besetzer von unserem Boden zu verjagen“, sagt eine junge Frau, deren Familie am ersten Tag des Angriffs auf Dschenin ins Nachbardorf Roumaneh geflohen ist, um sich in Sicherheit zu bringen.

„Die schrecklichen Verwüstungen sind nach einem minutiösen Plan erfolgt. Scharon wollte uns terrorisieren“, sagt der Zahnarzt Muhammad Abu al-Hija. Die Familie des Zweiunddreißigjährigen war wie viele andere Bewohner 1948 aus der Gegend von Haifa vertrieben worden. Zwischen 80 und 90 Prozent aller Häuser sind unbewohnbar. Im östlichen Teil und im Zentrum von Dschenin steht kein Stein mehr auf dem anderen. Der Generalbeauftragte der UN-Hilfsorganisation für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA), Peter Hansen, hat sein Entsetzen geäußert und das Lager zum Katastrophengebiet erklärt.

Die israelische Armee war am 3. April – am fünften Tag des Sturms auf die Palästinenserstädte im Westjordanland – nach Dschenin eingerückt. Heftiger Artilleriebeschuss, einschlagende Panzergranaten und von Kampfhubschraubern abgeschossene Raketen hatten den Beginn des Angriffs angezeigt. Eine Ausgangssperre wurde verhängt, und die erschreckten Bewohner suchten Zuflucht in ihren Wohnungen. Da die Panzer zu breit für die schmalen Gassen waren, wurden Riesenbulldozer vorausgeschickt, die auf beiden Straßenseiten die Häuser niederrissen. Eine zweite Welle der Zerstörung begann vier Tage später, als die ein- bis dreistöckigen Häuser des Zentrums systematisch dem Erdboden gleichgemacht wurden. Dorthin hatten sich palästinensische Kämpfer mit Kalaschnikows und Sprengsätzen zurückgezogen, um sich einer der modernsten Armeen der Welt entgegenzustellen. Es war ein sehr harter und ungleicher Kampf. Die Palästinenser erlitten schwere Verluste, die verletzten Kämpfer, vor allem aber Zivilisten, blieben unversorgt am Ort des Geschehens liegen, weil die Armee die Ambulanzen des palästinensischen Rettungsdienstes Roter Halbmond nicht in das Flüchtlingslager hineinließ.

Am 9. April wurden 13 israelische Soldaten aus einem Hinterhalt der Palästinenser getötet. Daraufhin erhielten die Truppen Anweisung, um jeden Preis weitere Verluste zu vermeiden. Die Folge war, dass sie fortan auf alles schossen, was sich in ihrer unmittelbaren Nähe bewegte. Hatte man den Soldaten nicht gesagt, Dschenin sei ein Nest von Hamas-Terroristen und Dschihad-Kämpfern? Reichte das nicht aus, um in ihren Augen eine Kollektivstrafe für ganz Dschenin zu rechtfertigen? Also wurde das Werk der Zerstörung mit erhöhter Intensität fortgesetzt. Wie überall in den besetzten Städten blieb auch hier keine Institution, kein Büro der palästinensischen Autonomiebehörde verschont. Die Armee ging systematisch vor: Es ging darum, alle Symbole, die gesamte Infrastruktur zu vernichten.

Jede Wohnung wurde durchsucht, immer nach dem gleichen Muster: Nachdem die Familie in einem Raum zusammengetrieben war, zerschlugen die Soldaten das Inventar, stürzten Möbel um, rissen Schränke auf, warfen alles zu Boden und richteten eine unbeschreibliche Verwüstung an. Sie nahmen mit, was ihnen in die Hände fiel, Geld, Schmuck und sogar Zigaretten – „Souvenirs“, wie es in der Soldatensprache heißt. Um die Haustüren zu öffnen, wurden menschliche Schutzschilde benutzt: Ein Lagerbewohner musste den Militärs vorausgehen – eine Praxis, die als „Kriegsverbrechen“ gilt. Wenn keine Antwort kam, wurde die Tür mit Dynamit gesprengt. Ein „Zwischenfall“ unter vielen: Der als Schutzschild dienende Mann sagt, er habe Geräusche im Innern des Hauses gehört, aber der Soldat lässt den Sprengsatz dennoch explodieren. Eine Frau wird schwer verletzt. „Tut mir Leid“, sagt der Soldat und geht zur nächsten Tür.

Die Ruinen von Dschenin zeugen von maßloser Zerstörungswut. Aber was ist mit den Opfern, wie hoch ist ihre Zahl? Das Lager hatte 14 500 Bewohner. Mehrere tausend waren unmittelbar vor dem israelischen Angriff in die Nachbardörfer geflohen. Am zweiten Tag nachdem die Panzer eingerückt waren, wurden die Palästinenser über Megafone aufgefordert, das Lager zu verlassen. Die zu Beginn der Operation erlassene Ausgangssperre wurde aufgehoben, um den Abzug zu erleichtern. Am selben Tag und im Lauf der folgenden Tage haben sich tausende zu Fuß auf den Weg in sieben Dörfer der Region gemacht. 4 000 sind unter katastrophalen Bedingungen in ihren Unterkünften geblieben: Ohne Wasser, ohne Nahrung, ohne Elektrizität und ohne Zugang zu einem Krankenhaus haben sie die Hölle durchgemacht, Tag und Nacht im ohrenbetäubenden Lärm der Geschützfeuer, Bombardements und Explosionen.

Die Kampfhubschrauber belegten das Lager gnadenlos mit „Bombenteppichen“. Hier wurden nur Cobras eingesetzt, die seit der Zeit des Vietnamkriegs gefürchteten „Ungeheuer“. Ein Pilot der Cobra-Staffel, Oberstleutnant S., berichtet: „Unsere Staffel hat an jedem Kampftag massenhaft Raketen auf das Flüchtlingslager abgeschossen. Hunderte von Raketen. Die ganze Staffel wurde für diese Operationen mobilisiert, einschließlich der Reservisten. […] Während der Gefechte waren immer zwei Cobras im Luftraum über Dschenin, um auf Anweisung des Kontaktmanns am Boden bestimmte Häuser unter Raketenbeschuss zu nehmen. […] Bei solchen Kampfeinsätzen können die Flieger nicht beschwören, dass sie mit ihren Raketen keine Zivilisten getroffen haben.“

Frage: Ist das nicht wie in einem manipulierten Videospiel? Die da oben schießen ihre Raketen ab, die da unten sind nur mit Kalaschnikows bewaffnet. „Ja, wir kämpfen nicht mit gleichen Waffen, und das ist gut so. […] Ich habe nie eine Rakete auf Frauen und Kinder abgeschossen. Aber habe ich am Ende nicht doch Menschenleben ausgelöscht? Mit Sicherheit. Ich kann nichts dafür.“1

Der Cobra-Einsatz war in hunderten Stunden Vorbereitungszeit geplant worden. Das Lager wurde über Satellit fotografiert und jedes Haus mit einer vierstelligen Nummer versehen. Die Piloten der Kampfhubschrauber hatten Karten, so dass sie, wenn ihnen eine Nummer durchgegeben wurde, sofort reagieren und auf das fragliche Haus eine Rakete abschießen konnten. Wie viele Menschen wurden dabei getroffen? Wie viele Tote gab es unter den bewaffneten Kämpfern? Und wie viele unter der unschuldigen Zivilbevölkerung? Niemand kennt die Zahlen.

„Nach dem, was wir da hineingefeuert haben, kann man sich leicht vorstellen, was in den Häusern los war“, sagt ein Reservist, der anonym bleiben möchte. „Nach dem Tod unseres Truppenkommandanten in den ersten Minuten des Kampfes erhielten wir einen ganz eindeutigen Befehl: Jedes Fenster und jedes Gebäude beschießen, ganz gleich, ob von dort geschossen wird oder nicht. Man hat uns klar gesagt: ‚Macht sie fertig!‘ Von da an haben wir aus vollen Rohren Munition gespuckt, mit allen Waffen, die der Armee zur Verfügung stehen, außer der Artillerie. Dutzendweise haben wir Raketen in die Häuser geschossen, gegen jedes Fenster schwere Maschinenpistolen eingesetzt. Wir haben sogar ein Pferd erledigt, weil es zufällig über die Straße lief.“

Derselbe Soldat schildert auch die besondere nächtliche Taktik: „Laut Befehl musste das Lager jede Nacht ‚geweckt‘ werden. Das Ziel war, die Kämpfer mit Schüssen aus der Reserve zu locken und dann auf die Stelle zu halten, aus der das Feuer kam. Doch in Wirklichkeit haben wir massenhaft Munition in alle Richtungen verschossen. […] Während der Ausgangssperre gab es so genannte Gewaltpatrouillen. Ein Panzer ratterte durch die verlassenen Straßen, überrollte alles, was sich auf dem Weg befand, und eröffnete das Feuer auf jeden, der die Ausgangssperre verletzte.“

Frage: Haben Sie Opfer gesehen? „Ich persönlich nicht. Sie befanden sich in den Häusern. Die meisten Leute, die in den letzten Tagen herauskamen, waren Alte, Frauen und Kinder, die unseren Beschuss überlebt hatten. Wir haben ihnen keine Chance gegeben, das Lager zu verlassen. Es handelt sich um eine große Anzahl von Personen. Einmal hatte ich Nachtwache in einer Wohnung, in der wir uns eingerichtet hatten. Die ganze Nacht hörte ich ein kleines Mädchen weinen. Was sich da zugetragen hat, war ein Prozess der Entmenschlichung. Gewiss, wir wurden schwer unter Beschuss genommen, aber dafür haben wir eine Stadt ausradiert.“2

Der gemeinsame Nenner Ariel Scharon

AM 11. April gaben die letzten bewaffneten Palästinenser den Widerstand auf. Die hohe Zahl der palästinensischen Opfer hat in Israel all die Menschen schockiert, die sich über die Gewaltpolitik der Regierung Ariel Scharon entsetzen. Sie war aber auch ein Schock für alle, die um das Ansehen des jüdischen Staates fürchten. Die Pazifisten riefen in den großen Städten des Landes zu Demonstrationen auf, ja sie haben sogar versucht, der Bevölkerung von Dschenin humanitäre Hilfe zukommen zu lassen. Wie die Tageszeitung Ha‘aretz berichtete, warnte selbst Außenminister Schimon Peres vor den „feindseligen internationalen Reaktionen, sobald das Ausmaß der Kämpfe im Flüchtlingslager Dschenin, bei denen über 100 Palästinenser getötet worden sind, bekannt werde. Hinter verschlossenen Türen bezeichnete Peres die Operation als ein ‚Massaker‘.“3

Als er von dem wütenden Scharon für die „unverantwortlichen Äußerungen“ zur Rechenschaft gezogen wurde, behauptete Peres, er sei falsch zitiert worden. Aber die Fakten sprechen für sich, und die Zahl der palästinensischen Opfer stieg immer weiter an. Zeev Schiff, Spezialist für Verteidigungsfragen mit bekannt guten Beziehungen zum Militärestablishment, schrieb in der Zeitung Ha‘aretz: „Bei den ersten Durchsuchungen nach dem Ende der Gefechte wurden 80 Leichen gefunden. Es wird geschätzt, dass sich die Zahl der Opfer, die bei den Kämpfen starben, auf etwa 200 Palästinenser beläuft, einschließlich der Zivilisten, die zum Teil unter den Trümmern der eingestürzten Häuser begraben sind.“4 Auch der israelische Armeesprecher Ron Kitri nannte die Zahl 200.5 Die Lagerbewohner sind überzeugt, dass es weit mehr Tote gegeben hat. Dennoch versucht Verteidigungsminister, Benjamin Ben-Elieser von der Arbeitspartei, die „wahre Zahl“ auf einige Dutzend nach unten zu korrigieren. Ein israelischer Leitartikler fragt: „Wie kann es sein, dass bei so harten Kämpfen wie denen von Dschenin, die auf Seiten der israelischen Soldaten 23 Tote und 60 Verwundete gefordert haben, bei denen unter Einsatz von Kampfhubschraubern, Panzern und schweren Bulldozern ein unerhörtes Ausmaß an Zerstörung angerichtet wurde, die Zahl der (palästinensischen) Toten so gering ausfällt? An dieser Rechnung stimmt etwas nicht.“6

Das Geheimnis der genauen Zahlen, die jedenfalls sehr hoch anzusetzen sind, liegt unter den Trümmern der zerstörten Häuser im Zentrum von Dschenin und anderswo, in den behelfsmäßigen Gräbern der Palästinenser und den Massengräbern der Armee. Noch während der Gefechte wurden fünfzehn Opfer von den Einwohnern begraben, darunter acht vor dem Krankenhaus. An der Ostseite des Lagers gibt es ein unbebautes Gelände, wo israelische Soldaten, wie mehrere Zeugen berichten, die Erde mit einem Bulldozer aufgeschoben und „mit Sicherheit Leichen verscharrt haben“. Auch neben dem Friedhof wurde eine Anzahl von Opfern bestattet, wie viele es waren, weiß man nicht. Auch in den lokalen Ambulanzen waren dutzende von Leichen aufbewahrt, von denen 48 bestattet wurden.

Das größte Rätsel aber stellen die verschwundenen Leichen dar, die im Lager geborgen und zunächst nach Norden in den Wald von Saadeh gebracht wurden. Von dort hat man sie, unter Aufsicht des Militärrabbinats in schwarze Plastiksäcke gehüllt, mit großen Kühlwagen zu einem Friedhof befördert, den die israelische Armee nahe der Damiah-Brücke im Jordantal für palästinensische Aktivisten angelegt hat („Terroristenfriedhof“, wie die Israelis sagen, während die Palästinenser ihn wegen der namenlosen nummerierten Gräber „Nummernfriedhof“ nennen). Israelische Menschenrechtsorganisationen haben sich an den Obersten Gerichtshof Israels gewandt, um diesen Abtransporten ein Ende zu setzen, aber da war die „gröbste Arbeit“ bereits erledigt. Wie viele palästinensische Leichen wurden entfernt? Wird man es je erfahren?

Die Palästinenser haben dringend schweres Gerät angefordert, um Bergungsarbeiten vorzunehmen und nach Überlebenden suchen zu können. Israel, das solches Gerät natürlich hat, will es nicht zur Verfügung stellen. Die lange Absperrung des verwüsteten Lagers unter striktem Ausschluss der nationalen und internationalen Presse – für das Land ein ungewöhnlicher Vorgang – hat große Zweifel an den offiziellen Darstellungen der Armee und der israelischen Regierung geweckt. Was gibt es zu verbergen? Die israelische Presse war den Ereignissen nicht gewachsen, mit Ausnahme einiger Journalisten, die sich weigerten, die Devise „Maul halten! Es wird geschossen!“ zu befolgen.

Das palästinensische Flüchtlingslager Dschenin reiht sich in die lange Liste der Verbrechen ein, die den israelisch-palästinensischen Konflikt begleiten, vom Massaker in Qibya (1953) bis zu dem von Sabra und Schatila (1982). Der gemeinsame Nenner dieser Verbrechen heißt Ariel Scharon.

dt. Grete Osterwald

* Journalist, Jerusalem. Autor von „Sabra et Chatila, Enquête sur un massacre“, Paris (Seuil) 1982.

Fußnoten: 1 Jedioth Aharonoth, Tel Aviv, 9. April 2002. 2 Ebenda. 3 Ha‘aretz, Tel Aviv, 9. April 2002. 4 Ebenda, 12. April 2002. 5 Ebenda, 15. April 2002. 6 Jedioth Aharonoth, 19. April 2002.

Le Monde diplomatique vom 17.05.2002, von AMNON KAPELIOUK