17.05.2002

Die Achse des Guten

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Die Achse des Guten

ARIEL Scharon war lange Zeit in den USA Persona non grata, und auch nach dem 11. September sahen die Amerikaner die israelische Regierung nicht automatisch als Verbündeten im Kampf gegen den Terror. Während Scharons Stern seit dem Ende des Afghanistankriegs steigt, ist der von Arafat längst gesunken, auch wenn Bush derzeit gegenüber Scharon auf Arafat als Verhandlungsperson besteht. Da Scharon mit seinem Einmarsch in die Autonomiegebiete die Nachbarstaaten auf den Plan brachte, haben die Amerikaner in den letzten Monaten ihr zurückhaltendes Wohlwollen zugunsten intensiver diplomatischer Bemühungen aufgeben müssen.

Von GEOFFREY ARONSON *

Wegen seiner Rolle bei den Massakern an Palästinensern in den Flüchtlingslagern von Sabra und Schatila musste Ariel Scharon im Februar 1983 vom Amt des israelischen Verteidigungsministers zurücktreten und war auf Jahre hinaus für die politischen Machtzentren in Washington Persona non grata. Eine besonders herzliche Feindschaft bestand zwischen Scharon und James Baker, dem Außenminister von Präsident George Bush (1989–1993). Zum wachsenden Entsetzen Bakers war es nämlich Scharon, der innerhalb der Likud-Regierung von Jitzhak Schamir, den Gedanken von Großisrael umsetzend, den Bau zusätzlicher Siedlungen im besetzten Westjordanland vorantrieb.

Die Rehabilitierung Scharons in Washington begann, als er zum Außenminister der Regierung Netanjahu ernannt wurde. Im November 1997 setzte er sich im Weißen Haus mit Bill Clintons Nationalem Sicherheitsberater Sandy Berger zusammen. Wie üblich mit vielen Landkarten bewaffnet, räumte Scharon ein, dass ein Palästinenserstaat unvermeidlich sei. Der Plan, für den er die Clinton-Regierung gewinnen wollte, sah etwa die Hälfte des Westjordanlandes und den größten Teil des Gaza-Streifens für einen solchen Staat vor. Die israelische Tageszeitung Ha‘aretz berichtete am 28. November 1997 unter Berufung auf einen höheren US-Regierungsvertreter, Berger sei „von dem Treffen beeindruckt gewesen, Scharon gab sich pragmatisch und moderat“.

Doch noch nie strahlte Scharons Stern in Washington so hell wie in diesem Frühjahr. Tony Blair und Scharon gehören zu den glühendsten Verfechtern von Bushs Antiterrorkrieg. Beide teilen entsprechend auch dessen Antipathie gegen die „Achse des Bösen“, die Bush in Bagdad, Teheran und Pjöngjang sieht. Dass Scharon den Amerikanern im Lauf der Jahre schon viele Probleme bereitet hat, ist dem persönlichen wie dem institutionellen Gedächtnis der Mächtigen in Washington und ihren Beratern entfallen. „Ich halte Ariel Scharon für einen Mann des Friedens“, äußerte George W. Bush am 18. April 2002, just zu einem Zeitpunkt, da über 75 000 israelische Soldaten ins Westjordanland einrückten, da die wichtigsten palästinensischen Städte zerstört wurden und da Israelis wie Palästinenser den Tod von unschuldigen Menschen beweinten.

Doch während Scharon als „Mann des Friedens“ gefeiert wird, hat Jassir Arafat das bisschen Wohlwollen, das ihm in der US-Hauptstadt je entgegengebracht wurde, verloren. „Arafat hat keines seiner Versprechen gehalten“, erklärte Bush am 6. April, „er verdient mein Vertrauen nicht.“ Dass der Palästinenserführer in Washington unwiderruflich in Ungnade gefallen ist, hat tiefergehende Gründe als sein schlichtes Versäumnis, sich den Wünschen Bushs zu fügen. Arafat wird mittlerweile mit einer Verachtung gestraft, wie sie nur politischen Parias zuteil wird. Der Friedensnobelpreisträger wird weder respektiert noch gefürchtet. Die Diskussionen kreisen um das wohlverdiente Ende seiner politischen Karriere, das ihm freilich nicht durch Wahlen zuteil wird (bei seinen eigenen Leuten ist er populärer als je zuvor), sondern durch ein Machtwort der Amerikaner und Israelis, weil er angeblich nichts mehr zum Friedensprozess beitragen kann.

Arafat muss dafür büßen, dass sein Name mit den Oslo-Verträgen verbunden ist, die die führenden Köpfe der Bush‘schen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ablehnen. Denn sie sind gegen einen Rückzug der Israelis aus den besetzten Gebieten. Und da Arafat zu Clintons Zeiten der häufigste ausländische Besucher im Weißen Haus war, ist er eine zusätzliche Belastung, denn er erinnert die Bush-Leute an das, was sie Clinton nachträglich als Fehler ankreiden: dass er die Machtmittel des Präsidentenamtes bei der illusionären Suche nach einem israelisch-arabischen Frieden vergeudet habe. Und obwohl die Bush-Leute den Oslo-Prozess stets als unfair gegenüber Israel heruntergemacht haben, gilt ihnen die Weigerung Arafats, auf das „großzügige Angebot“ von Scharons Vorgänger Barak in den Verhandlungen zwischen Juli 2000 und Januar 2001 einzugehen, als Indiz dafür, dass Verhandlungen mit ihm stets in einer diplomatischen Sackgasse enden.

Im weiteren Horizont des „Antiterrorkrieges“ und der Offensive gegen Saddam Hussein spielen die Palästinenser und die arabische Welt bestenfalls noch eine Chargenrolle. Für die maßgeblichen Vertreter der Bush-Administration sind Arafat und seine Polizeitruppen im Antiterrorkrieg keineswegs dem israelischen Gegenspieler gleichgestellte Partner. Für sie ist Arafat im besten Fall ein Faktor, der Palästina und die ganze Region potenziell destabilisieren kann und den es deshalb zu neutralisieren gilt. Im schlimmsten Fall könnte Washington (wie schon Scharon) zu dem Schluss kommen, dass Arafat und die von ihm repräsentierten Institutionen ein hoffnungsloser Fall und also entbehrlich sind.

Im Januar war die Bush-Regierung kurz davor, diesen Schluss zu ziehen. Die Israelis hatten gerade ein mit Waffen beladenes Schiff abgefangen, das eine Verbindung zwischen der palästinensischen Führung und Teheran offenbarte. Die Nahostreise von Außenminister Colin Powell wurde von Henry Kissinger – aber auch von mehreren jüngeren Arafat-Beratern – als Versuch der USA gewertet, „Arafat eine letzte Chance zu geben“, also der Forderung des US-Präsidenten zu entsprechen und seiner Verurteilung des Terrorismus Taten folgen zu lassen. Mit Kissingers Worten: „So wie der Präsident die Sache sieht, haben wir es nicht mit einem Friedensprozess zu tun, solange die terroristischen Aktivitäten andauern, ohne dass die beteiligten Parteien etwas dagegen tun.“1

Mit der Formel vom Antiterrorkrieg hat George W. Bush einen aufrüttelnden Schlachtruf erfunden, der inzwischen das Markenzeichen seiner Präsidentschaft ist. Bush ist ganz begeistert von seiner Rolle in dem Moralstück, das als Antwort auf die Al-Qaida-Attentate inszeniert wird, und sonnt sich im selbstgerechten Glanz seines Feldzuges gegen den Terror. Die Reaktion der USA auf den 11. September hat ihm eine politische Raison d‘être verschafft und sich zugleich als wirksames Mittel erwiesen, um die Zustimmung der breiten Öffentlichkeit für ein diplomatisches, militärisches und strategisches Programm zu mobilisieren, das bereits aus der Zeit vor der Tragödie datiert. Kernstück dieses Programms ist die Entwicklung sowohl einer neuen Generation von offensiven Nuklearwaffen als auch eines neuen Raketenabwehrsystems.

In seiner State-of-the-Union-Rede vom 29. Januar 2002 hat Bush herausgestrichen, dass er den Einsatz der US-Militärmacht gegen al-Qaida und Taliban als Beitrag zu einem umfassenderen Kreuzzug gegen die „Achse des Bösen“ sieht. Damit instrumentalisierte er die moralische Selbstgewissheit des Antiterrorkriegs zur Begründung der nicht ganz so noblen Projekte eines Raketenabwehrsystems und der Weiterentwicklung und Produktion nichtkonventioneller Waffen. In diesem Sinne erklärte Verteidigungsminister Donald Rumsfeld am 31. Januar 2002: „Die entscheidende Frage, die uns jetzt beschäftigt, ist die Verbindung zwischen den terroristischen Netzwerken und den terroristischen Staaten, die über Massenvernichtungswaffen verfügen. Machen wir uns nichts vor: Es gibt diese Verbindung, und deshalb müssen alle Menschen in aller Welt endlich begreifen, dass wir es mit etwas zu tun haben, das sich völlig von allem unterscheidet, was in früheren Zeiten existierte. Dieses Neue ist eine tödliche Bedrohung nicht nur für tausende, sondern für hunderttausende von Menschen. Man stelle sich nur die Gewalt und die tödliche Wirkung dieser Waffen vor!“

Gegen Bagdad und Teheran

FÜR diese neue strategische Orientierung ist Israel aus der Sicht von Bush ein maßgeblicher Bundesgenosse. Die Israelis verfügen nach eigener Aussage über das weltweit erste – und einzige funktionierende – Raketenabwehrsystem, und sie haben eine Schlüsselrolle bei dem von den USA befürworteten Bemühen, diese militärische Errungenschaft an die Türkei und Indien zu verkaufen. Die strategische Allianz zwischen Jerusalem und Washington basiert auf der Zusammenarbeit in technologischen Bereichen, die für die Raketenabwehrstrategie der USA entscheidend sind. Demgegenüber ist der Streit Israels mit den Palästinensern aus der Sicht Washingtons von relativ geringer strategischer Bedeutung.

Seit über zwanzig Jahren versucht die israelische Führung die US-Regierung von ihrer Wahrnehmung zu überzeugen, dass der Iran und der Irak durch ihre nichtkonventionellen (also ABC-)Waffen eine Bedrohung darstellen. Die von Washington nach dem Golfkrieg favorisierte Idee, Israel könne gemeinsam mit den arabischen Staaten eine Koalition gegen Bagdad und Teheran bilden, haben Scharon und seine Gesinnungsgenossen im Pentagon stets abgelehnt.

Anders Clintons Sicherheitsberater Sandy Berger, der in seiner Rede am 20. Oktober 1999 die Verbindung erläutert: „Wenn wir die offenen Probleme des Friedensprozesses nicht lösen können, wird dies zentrifugale Kräfte in einer Region freisetzen, in der immer mehr Staaten über immer mehr nichtkonventionelle Waffen verfügen. Die Gefahr eines Konfliktes, bei dem Massenvernichtungswaffen zum Einsatz kommen, ist beträchtlich. Deshalb glaube ich, dass es im vitalen Interesse der Vereinigten Staaten liegt, dem Friedensprozess zum Erfolg zu verhelfen.“

Nachdem der Friedensprozess gescheitert ist, gilt für die Bush-Regierung ein arabisch-israelisches Bündnis nicht mehr als aussichtsreichster Eröffnungszug für eine Konfrontation mit dem Irak und dem Iran. Diese Schlussfolgerung wird noch bestärkt durch die unilateralistische Philosophie von Verteidigungsminister Rumsfeld wie von Vizepräsident Richard Cheney und deren Beratern, die unbedingt das von Bush senior begonnene Geschäft zu Ende bringen und Saddam Hussein stürzen wollen. Diesen engsten Bush-Mitarbeitern erscheint es nicht besonders vorteilhaft, einen wie auch immer gearteten Preis für eine – in ihren Augen – nicht gerade substanzielle Hilfsbereitschaft der arabischen Staaten zu zahlen, die ihnen im Übrigen ohnehin sicher ist, sobald sich ein Sieg der USA abzeichnet.

Wenn sich die Bush-Strategen eine Karte Vorderasiens ansehen, sind ihre Augen vor allem auf die Golfregion gerichtet. Wenn sie – widerwillig – ihren Blick dennoch auf Palästina und der verwirrenden Zahl von Kriegsparteien ruhen lassen, dann nicht etwa weil sie doch noch vage auf eine Annäherung zwischen Scharon und Arafat hoffen, sondern weil sie fürchten, die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Israel und den Palästinensern könnte auf die israelische Ostfront übergreifen und Irak und Jordanien wie auch Syrien und den Libanon in den Konflikt hineinziehen.

Für die Strategen der Bush-Regierung ist der Dauerkonflikt zwischen Israel und den Palästinensern wie ein schwarzes Loch von enttäuschten Erwartungen, in das man sich nur ja nicht hineinziehen lassen will. Tatsächlich ist er für viele in der Regierung Bush ein strategischer Nebenschauplatz, der nur von der Hauptfrage ablenkt, an der sich die Zukunft der Region entscheiden wird – dem Sturz von Saddam Hussein. Diese Leute sind heilfroh, eine so zeitraubende, erschöpfende und undankbare Mission dem zögerlichen Außenminister Colin Powell zuschieben zu können, der sich in Sachen Afghanistan und Irak relativ moderat geäußert hat. Sie selbst können sich umso besser darauf konzentieren, die Militärmacht der USA in allen Ecken der Welt zur Geltung zu bringen.

Colin Powell scheint zu begreifen, worum es in dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern tatsächlich geht. So erklärte er vor seiner Abreise aus Jerusalem am 17. April: „Ich verlasse dieses Land, aber ich lasse zugleich grundsätzliche Fragen zurück, die sich an die Menschen und die führenden Politiker der Region, aber auch an die internationale Gemeinschaft insgesamt richten. Die Frage an die Menschen und die Führung in Israel lautet, ob es für einen starken und vitalen Staat Israel nicht an der Zeit ist, die destruktive Siedlungs- und Besetzungspolitik zu beenden, im Einklang mit der klaren Position, die Präsident Bush in seiner Rede am 4. April bezogen hat. Israel sollte den Blick nach vorn richten, auf das Versprechen eines umfassenden und dauerhaften Friedens, das die Region und die Welt in Aussicht gestellt haben. Die Menschen und die Führung der Palästinensischen Autonomiebehörde müssen sich fragen, ob sie nicht für immer auf Gewalt und Terrorismus verzichten und verbindlich auf die Formel Frieden durch Verhandlungen setzen sollen. Terroristen und Gewalttäter dürfen den palästinensischen Traum von der Unabhängigkeit nicht in Geiselhaft nehmen und damit die Entstehung eines palästinensischen Staates verhindern.“ Der Außenminister hat die Bush-Regierung immerhin zu der Einsicht gedrängt, dass ein unabhängiger Palästinenserstaat seine Vorzüge hat – zehn Jahre nachdem die Regierung von George Bush senior in einem „Garantiebrief“ der Regierung Jitzhak Schamir versichert hatte, dass sie gegen die Gründung eines solchen Staates sei.2

Aber Powell hat es nicht nur mit zwei betagten politischen Führern zu tun, die sich gegenseitig verachten, die ihre Ziele mit gnadenloser Konsequenz verfolgen und die beide entschlossen sind, ihrem Gegenspieler noch den kleinsten möglichen Vorteil abzutrotzen. In Washington werden Powells Bemühungen doppelt behindert: zum einen durch den Respekt, den Scharon in den USA genießt, zum anderen durch das Festhalten an einem diplomatischen Konzept, das kaum noch etwas mit der von Scharon geschaffenen veränderten Lage zu tun hat. Zumal diese Veränderungen deutlich die israelische Auffassung demonstrieren, dass die mit Arafat in Oslo besiegelte Partnerschaft am Ende ist. Powell sieht sich zudem im eigenen Land einem Oberbefehlshaber und einer politischen Kultur gegenüber, die tief in ihrem Innersten den Krieg Scharons gegen Arafat in Ordnung findet.

Auf dieser gefühlsmäßigen Basis hat die Bush-Regierung während ihrer ersten Monate im Amt ihre Sichtweise herausgebildet. Ihre grundsätzliche Intention, keine führende Rolle zu übernehmen, hat freilich nicht dazu geführt, dass die USA sich zurückgehalten und dem Problem nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Vielmehr hat die anhaltende Intifada, kulminierend in Israels jüngstem militärischem Angriff auf Gebiete im Westjordanland, die nominell der palästinensischen Autonomiebehörde unterstehen, die maßgeblichen außenpolitischen Instanzen in Washington, und vor allem Powell und CIA-Direkter George Tenet, dazu gezwungen, sich widerstrebend mit der Krise zu befassen.

Doch ihr Engagement zeichnet sich eher durch ein ineffektives, tendenziell geheimniskrämerisches Krisenmanagement aus als durch eine irgendwie zielgerichtete politische Strategie. Im aktuellen Verhalten der USA sind nur zwei Elemente einer klaren Strategie erkennbar: Zum einen wird die palästinensische Autonomiebehörde immer vernehmlicher zur Beendigung der Rebellion aufgefordert, egal ob diese von Kräften unter der Kontrolle der Autonomiebehörde oder von oppositionellen Gruppen getragen wird. Zum anderen wird Scharon immer wieder auf sein Versprechen festgenagelt, die militärischen Initiativen Israels mit dem Weißen Haus abzustimmen.

Das Wohlwollen Washingtons gegenüber der Regierung Sharon ist – selbst im historischen Rahmen einer engen Zusammenarbeit und Freundschaft zwischen den USA und Israel – höchst ungewöhnlich. Über ein Jahr lang hat die Bush-Regierung ziemlich unbeteiligt zugesehen, wie Scharon die Basis der Oslo-Verträge zerstörte, die auch die USA unterzeichnet haben und von denen sie maßgeblich profitieren. Als Bush sich Anfang Dezember 2001 in Washington mit Scharon zusammensetzte, gab er sich mit der Forderung zufrieden, dass Arafat nicht getötet werden solle. In den darauffolgenden Wochen erklärte das israelische Kabinett die Person Arafat für irrelevant und die palästinensische Autonomiebehörde zu einer illegalen Organisation, die den Terror unterstütze.

Unter Berufung auf diese Einschätzungen startete Israel im März und April 2002 eine eskalierende Serie militärischer Vorstöße ins Westjordanland und versetzte den Sicherheitsorganen der Palästinenser den Gnadenstoß. Dabei waren diese Organe eines der zentralen Ergebnisse des Kompromisses, den Israel und die PLO vor zehn Jahren abgeschlossen hatten und der die Oslo-Abkommen erst möglich gemacht hatte. Obwohl die CIA Arafats Polizei- und Sicherheitsapparat lange auf politischer und technischer Ebene unterstützt hatte, sahen die USA seelenruhig zu, wie dieser Apparat von Scharon kastriert wurde. Wobei Washington während der Angriffe im April lediglich intervenierte, um einige der Kapitulationsbedingungen für die palästinensische Polizei abzumildern, und danach irritiert zusah, wie die Israelis das Hauptquartier der Sicherheitsorgane in Ramallah in Schutt und Asche legten.

Was im April den plötzlichen Aufbruch Powells zu seiner Nahostreise auslöste, war die Gefahr, dass Scharons Attacke eine negative Entwicklung in der ganzen Region auslösen könnte. „Innerhalb von zwei oder drei Tagen nach dem [israelischen] Einmarsch“, erläuterte Powell am 9. April, „begannen die [US]-Botschaften uns auf den Einfluss hinzuweisen, den dies auf die Stimmung bei den einfachen Menschen wie auch auf die Position der staatlichen Führungen in der Region hatte. Wir sahen Dinge, mit denen wir nie gerechnet hatten: In Bahrain wurden Autos in Brand gesteckt, in Marokko ging eine halbe Million Menschen auf der Straße, in Ägypten wurde demonstriert. Auch heute gab es wieder Demonstrationen. Solche Dinge machen uns Sorgen, weil es nicht mehr um einen Konflikt zwischen zwei Parteien in den besetzten Gebieten geht, sondern um etwas, was weit über diesen Hexenkessel hinaus um sich greift und nicht nur Interessen der USA berührt, sondern auch die Interessen Israels, und zwar ziemlich dauerhaft und langfristig.“

Powells Reisestationen lassen erkennen, dass er den Krisenherd auf die Region Israel/Palästina eingrenzen wollte. Bei seinen vorab festgelegten Besuchen in Marokko, Ägypten und Spanien unterschrieb Powell eine gemeinsame Erklärung mit der UN, der EU und der russischen Führung, die aggressiver formuliert war als alles, was das Weiße Haus verlautbart hatte, und die deshalb auch in Washington und von der US-amerikanischen Presse nicht zur Kenntnis genommen wurde. Bei seinen Treffen, die er noch schnell in Beirut und Damaskus arrangierte, plädierte Powell für einen Abbau der Spannungen mit der Hisbollah an der israelischen Nordfront. Worauf der Präsident in Washington die Erklärung nachschob, dass sich auch Syrien und der Iran heraushalten sollten. Diese Bush-Erklärung war ein weiterer Beleg für die Prioritäten Washingtons, denn damit konnte Israel seine militärische Offensive ungestört fortsetzen.

Die Politik der USA gegenüber Palästina und dem Irak bereitet den wichtigsten arabischen Verbündeten Washingtons in der Region – Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien – schweres Kopfzerbrechen. Um das durch die Wahl von Bush und Scharon entstandene diplomatische Vakuum zu füllen, hat Saudi-Arabien als gemeinsame arabische Strategie einen Plan vorgelegt, der die Anerkennung Israels und den Frieden anbietet. Dieser Plan wurde von Washington zunächst heruntergespielt und in der Folge als arabisches Angebot fehlinterpretiert, Arafat und der PLO die Zuständigkeit für das Palästina-Problem zu entziehen und sie an die arabischen Staaten zurückzugeben, die sie schon von 1948 bis 1974 wahrgenommen hatten. Dass es Washington versäumte, Scharon die Aufhebung von Arafats faktischem Hausarrest abzutrotzen, damit dieser zum arabischen Gipfel in Beirut fahren konnte, lässt darauf schließen, dass das Weiße Haus trotz der Bush-Rede vom 4. April bereit ist, wie die Regierung Scharon das Kapitel Arafat abzuschließen.

Ein Kernsatz der Bush-Rede vom 4. April lautete: „Ich habe folgende Botschaft verkündet: Jeder muss sich entscheiden, entweder ist man auf Seiten der zivilisierten Welt oder auf Seiten der Terroristen. Auch im Nahen Osten muss sich jeder entscheiden und sich entschlossen in Wort und Tat gegen terroristische Aktionen wenden. Der Vorsitzende der palästinensischen Autonomiebehörde ist den Terroristen nicht konsequent entgegengetreten. Die Situation, in der Arafat sich heute befindet, hat er weitgehend selbst herbeigeführt. Er hat seine Chancen verpasst und damit die Hoffnungen der Menschen verraten, die er eigentlich führen soll. Angesichts seines Versagens fühlt sich die israelische Regierung gezwungen, die terroristischen Netzwerke zu zerschlagen, die ihre Bürger töten. […] In dem Maße, in dem sich Israel zurückzieht, müssen die verantwortlichen palästinensischen Führer und Israels arabische Nachbarn sich hervorwagen und demonstrieren, dass sie tatsächlich auf der Seite des Friedens sind.“

Die Entscheidung des ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak und des jordanischen Königs Abdallah, nicht nach Beirut zu reisen, wie auch die Entscheidung Abdullahs, am Ende von Powells Nahostreise sich nicht mit diesem zu treffen, zeigten in aller Klarheit, wie verzweifelt beide über die Haltung Washingtons sind: über die mangelnde Bereitschaft der USA, ihre Bemühungen um eine Beschwichtigung der arabischen Empörung zu unterstützen, wie über das Ausbleiben konkreter Schritte, die der auch von Washington befürchteten Verschlimmerung der regionalen Gesamtsituation Einhalt gebieten könnten.

Als Powell seine Nahostmission am 17. April beendet hatte, war die Region ein gefährlicherer Ort als zu Beginn seiner Reise. Ariel Scharon kann sich in seiner Einschätzung bestätigt fühlen, dass die Bush-Regierung bereit ist, seine politischen und militärischen Pläne weitestgehend mitzutragen. Jassir Arafat dagegen kann nur noch sprachlos zur Kenntnis nehmen, dass Washington keinerlei Interesse mehr an seiner Rehabilitierung hat. Und auf beiden Seiten bereiten sich die Unschuldigen darauf vor, in die nächsten Schlachten zu ziehen.

aus dem Engl. von Niels Kadritzke

* Vorsitzender der Foundation for Middle East Peace in Washington.

Fußnoten: 1 CNN-Interview mit Henry Kissinger am 10. April 2002. 2 Siehe Paul-Marie de La Gorce „Was Washington will“, Le Monde diplomatique, November 2001.

Le Monde diplomatique vom 17.05.2002, von GEOFFREY ARONSON