17.05.2002

Alles, was rechts ist

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Alles, was rechts ist

DER Erfolg des Front National bei den französischen Präsidentschaftswahlen ist keine isolierte Erscheinung. In fast allen Ländern der Europäischen Union – und auch in Ländern des ehemaligen Ostblocks, wie etwa in Ungarn – haben rechtsextreme Parteien Rückenwind. Dabei haben die Nachfolger der Faschisten fast überall einen Modernisierungsschub durchgemacht. Sie haben gelernt, gleichzeitig wirtschaftlichen Ultraliberalismus zu predigen und soziale Maßnahmen anzukündigen, und sie halten sich formal an die Grundregeln der Demokratie. Aber wie ihre Vorgänger setzen sie beharrlich auf „nationale Werte“ wie auf die Autoritätshörigkeit verunsicherter Bürger – und schüren die Xenophobie.

Von JEAN-YVES CAMUS *

Der Erfolg von Jean-Marie Le Pen in der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen hat die Frage nach dem ideologischen Charakter der nationalpopulistischen Gruppierungen erneut aktuell gemacht. Die Organisationen der so genannten dritten Welle werden nicht nur von „antifaschistischen“ Aktionsgruppen, sondern auch von einschlägigen Experten den Bewegungen der traditionellen extremen Rechten und sogar den Faschisten zugerechnet.1 Zu Unrecht. Vielmehr ist das, was wir heute erleben, der Erfolg einer atypischen extremen Rechten, die sich vom Kult des starken Staats zugunsten ultraliberaler Auffassungen verabschiedet hat, vom Korporativismus zugunsten des freien Spiels der Marktkräfte und manchmal sogar vom Rahmen des Nationalstaates zugunsten regionaler oder rein lokaler Partikularinteressen. Zwar gibt es politische Gruppierungen, die sich unverändert auf autoritäre, faschistische und sogar nationalsozialistische Ideologien berufen, doch sind diese nicht zufällig Randerscheinungen. Während umgekehrt gerade solche Parteien auf dem Vormarsch sind, die keinerlei Verbindung zum historisch-ideologischen Rechtsextremismus haben und in der Lage zu sein scheinen, Lösungen im Sinne eines geschlossenen politischen Programms anzubieten, das weitgehend konsensual und auf ein ultraliberales Wirtschaftsmodell ausgerichtet ist.

Die militante, nationalsozialistische Ultrarechte stellt nirgends, nicht einmal in Deutschland, eine echte Bedrohung dar2 – und zwar trotz der charismatischen Figur Horst Mahlers, des ehemaligens Anwalts und Mitglieds der RAF, der inzwischen einen geradezu zwanghaften Antisemitismus kultiviert und sich zu der Idee verstiegen hat, Deutschland müsse ein für alle Mal mit den Tabus und Schuldgefühlen brechen, die mit der Schoah und dem Nazismus zusammenhängen. Die DVU wiederum hat Revanchismus und Geschichtsrevisionismus auf ihre Fahnen geschrieben und gewinnt damit in den neuen Bundesländern eine Anhängerschaft. Dennoch geht es auch mit ihr bergab: Nachdem sie 1998 in Sachsen-Anhalt immerhin 12,9 Prozent erzielt hatte, trat sie bei den diesjährigen Landtagswahlen erst gar nicht mehr an. Dies erklärt sich fraglos durch die härtere Gangart der CDU und ihren Konfrontationskurs gegenüber der Regierung Schröder.

In Südeuropa hat das Erbe, das der spanische Falangismus, der portugiesische Salazarismus und die Diktatur der griechischen Obristen hinterlassen haben, zur Zersplitterung der Parteien geführt, die sich auf diese Traditionen berufen. In Spanien erhielten die fünf falangistischen oder radikalen Parteien, die sich an den Europawahlen vom Juni 1999 beteiligten, insgesamt nur 61 552 Stimmen – ein Anteil von unter 1 Prozent. Bei den Parlamentswahlen im Jahr 2000 war es nicht anders: Hier musste sich die dem französischen Front National nahe stehende Democracia Nacional mit 0,01 Prozent Stimmenanteil begnügen. Noch offenkundiger ist in Portugal das Scheitern des Neosalazarismus: Der Partido Nacional Renovador (PNR), Nachfolgeorganisation der Aliança Nacional, errang lediglich 3 962 Stimmen (0,07 Prozent), während der rechtskonservative Partido Popular mit seinem europafeindlichen Flügel ein Rekordergebnis von 8,75 Prozent erzielte.

In Italien hat die Herausbildung der Alleanza Nazionale den hartgesottenen Neofaschisten so gut wie keinen Platz gelassen. Innerhalb der Alleanza gibt es zurzeit drei Strömungen: erstens die Anhänger von Gianfranco Fini, angeführt von Ignazio La Russa und Maurizio Gasparri, der übrigens nach dem 21. April jeglichen Kontakt zu Le Pen ablehnte; zweitens eine gemäßigt „gaullistische“ Strömung, die sich für ein Präsidialsystem stark macht; und drittens die „Destra Sociale“ (soziale Rechte), angeführt von Gianni Alemanno und dem Präsidenten der Region Latium, Francesco Storace, der einer Ideologie des Sozialfaschismus noch am nächsten steht.

Bei den meisten gesellschaftspolitischen Themen wahrt die Alleanza Nazionale eine Balance zwischen diesen drei Strömungen, und da sie sich in religiösen Fragen relativ indifferent verhält, ist sie innerhalb des italienischen politischen Spektrums nicht einmal die reaktionärste Partei. Das ist vielmehr die katholische Partei Centro Cristiano Democratico (CCD) von Rocco Buttiglione, die auf Betreiben der rechtskatholischen Laienorganisation Comunione e Liberazione die Regierung Berlusconi dazu drängt, das Abtreibungsgesetz und das Gesetz über die Finanzierung der Konfessionsschulen zu revidieren. Unter diesen Bedingungen sank der Stimmenanteil des Movimento Sociale Fiamma Tricolore (MSFT) von Pino Rauti, dem historischen Führer des radikalen Flügels des Movimento Sociale Italiano (MSI) und ehemaligen Kombattanten der Republik von Salò, auf 0,3 Prozent.

Mit anderen Worten, in Europa sind vor allem solche Gruppierungen der radikalen Rechten auf dem Vormarsch, die zwar noch teilweise zum Erbe der autoritären Bewegungen stehen, aber sowohl ihren Diskurs als auch ihre Organisationsstrukturen modernisiert haben. Sie berufen sich auf eine Art ultraliberalen und doch protektionistischen Kapitalismus und sie akzeptieren formaliter die parlamentarische Demokratie und den Pluralismus, wobei sie eine Modernisierung des institutionellen Rahmens fordern.

„... und im Herzen ein Franzose“

FÜR all diese Gruppierungen steht die Frage der Identität im Mittelpunkt: Sie vertreten das Primat des Nationalen, das heißt, die politischen, ökonomischen und sozialen Rechte sollen ausschließlich für diejenigen gelten, die schon von ihrer Abstammung her Staatsbürger sind. Die multikulturelle Gesellschaft lehnen sie ab, weil sie in ihr die Quelle sämtlicher Funktionsstörungen des gesellschaftlichen Organismus sehen. Deshalb wollen sie die Einwanderung künftig begrenzen beziehungsweise durch die Ausweisung sämtlicher nichteuropäischer Einwohner rückgängig machen.

Der französische Front National (FN) ist die größte dieser „gemischten Gruppierungen“. Seine politische Konstante ist der „nationalistische Kompromiss“. Dies macht ihn zum einigenden Faktor der unterschiedlichen ideologischen Traditionen der extremen Rechten, wobei die zahlreichen Erklärungen Le Pens über Auschwitz als „Detail der Geschichte des Zweiten Weltkries“ oder über die „jüdische Internationale“ belegen, wie lebendig die Obsessionen aus den Dreißigerjahren heute noch sind. Dabei ist Le Pens Wirtschafts- und Sozialprogramm, das bislang auf die Wählerstimmen der Freiberufler und der kleinen und mittleren Unternehmer zielte, in seiner Essenz ultraliberal: Die Abschaffung der Einkommensteuer wie auch die ständigen Attacken gegen den „Fiskalismus“ und die Ablehnung der 35-Stunden-Woche bestätigen, dass Le Pen „wirtschaftlich ein Rechter“ ist, wie er am Abend des ersten Wahlgangs erklärte – und sofort hinzufügte, er sei „sozial ein Linker“ und „im Herzen ein Franzose“.

Die letzte Behauptung ist ein wichtiger Zusatz für eine Partei, die seit mittlerweile zehn Jahren ihre Wählerschaft mehrheitlich aus den unteren Schichten der Bevölkerung rekrutiert und genau vor diesem Hintergrund im Herbst 1995 auch die „soziale Wende“ der Partei verkündete. Worin besteht diese Wende? In der Rehabilitierung der Rolle, die der Staat als regulierende soziale und ökonomische Kraft – sprich: als Bollwerk gegen die liberale Globalisierung – zu übernehmen hat. Aus Sicht des FN geht es dabei allerdings nicht darum, die staatliche Umverteilungspolitik und staatliche Impulse für die Wirtschaft zu fördern: Die Schutzfunktion des Staats besteht darin, dass er das, was noch an Leistungen und sozialen Rechten übrig bleibt, nach dem Prinzip des nationalen Primats ausschließlich den eigenen Staatsbürgern zukommen lässt.

Um die Stiefkinder der ultraliberalen Globalisierung zu beruhigen, wird sich der Staat des FN als Ordnungsregime aufspielen und die Frage der Sicherheit wie den Kampf gegen die moralische Laxheit zum Kernpunkt seines Diskurses machen. Spektakuläre Forderungen wie der Austritt Frankreichs aus der EU oder die Rückkehr zum Franc dienen ihm als Alibi, um zu kaschieren, dass er die Postulate der liberalen Globalisierung – außer in der Rhetorik eines prinzipiellen Antiamerikanismus – tatsächlich nicht in Frage stellt.

Auch der Vlaams Blok (Flämischer Block, VB)3 lässt sich nicht eindeutig politisch verorten. Einerseits beruft er sich noch immer auf die Bewegung der deutschen Nationalsolidaristen unter Joris Van Severen und die Linkstheoretiker des flämischen Nationalismus, die mit der deutschen Besatzungsmacht kollaborierten, andererseits gibt es im VB auch eine liberale Strömung, deren Sprecherin, die Abgeordnete Alexandra Colen, in der Zeitschrift Peper en Zout Margaret Thatcher preist, weil diese „ihr Land von der Diktatur der Gewerkschaften befreit hat“.

Am erfolgreichsten sind die nach allgemeinem Sprachgebrauch „rechtsextremistischen“ Parteien in Skandinavien. In Dänemark erhielt bei den Parlamentswahlen im November 2001 die Dansk Folkeparti (Volkspartei) von Pia Kjærsgaard 12 Prozent der Stimmen; in Norwegen brachte es die Fremskridtspartiet (Fortschrittspartei) von Carl Ivar Hagen bei den Wahlen von 1997 sogar auf 15,3 Prozent. Diese Gruppierungen vertreten keinen krisenbedingten, sondern einen „Wohlstandspopulismus“, ihre Wähler sind Angehörige des Mittelstands, selbstständige Unternehmer und zunehmend auch Arbeiter. Gleichwohl plädiert die Fortschrittspartei für eine vollständige Deregulierung des Arbeitsmarkts, der sogar der gesetzlich garantierte Mindestlohn zum Opfer fallen würde.

Wie Tor Bjorklund und Jorgen Goul Andersen gezeigt haben4 , geht in diesen Ländern, in denen der Wohlfahrtsstaat unter bürgerlichen wie unter sozialdemokratischen Regierungen ausgebaut wurde, die traditionelle Sympathie der Arbeiterklasse für die Linke tendenziell zurück. Damit gewinnt aber die autoritäre Komponente der Arbeiterkultur die Oberhand, die nur in der „neuen Rechten“ ihren politischen Ausdruck findet. Dieser Autoritarismus äußert sich auch im Widerstand gegen jede Art von Multikulturalismus, der als Bedrohung für die ethnisch wie religiös traditionell sehr homogenen Gesellschaften empfunden wird. Besonders beunruhigend ist in dieser Hinsicht die Situation in Dänemark, da die im Parlament vertretene Volkspartei in der Lage ist, die von ihr gewünschte Gesetzgebung gegenüber der liberal-konservativen Koalition durchzusetzen: So besteht durchaus die Möglichkeit, dass demnächst eine gesetzliche Bestimmung verabschiedet wird, wonach zwei Ausländer derselben Nationalität nicht heiraten dürfen, wenn sie jünger als 24 Jahre sind.

Die fremdenfeindliche, rassistische und vor allem antiislamische Tendenz kennzeichnet das gesamte rechtsextremistische Spektrum in Europa. Eine große Rolle spielte sie auch beim vielfach analysierten Aufschwung der österreichischen FPÖ unter ihrem früheren Vorsitzenden Jörg Haider (26,9 Prozent bei den Parlamentswahlen von 1999) und der Schweizerischen Volkspartei (SVP) von Christoph Blocher (22,6 Prozent bei der Wahl von 1999).

In jüngster Zeit sind neue Gruppierungen auf der Bildfläche erschienen, die sich noch weniger einordnen lassen. So etwa in den Niederlanden die Liste von Pim Fortuyn und die Bewegung Leefbaar Nederland: Fortuyn errang im März 2002 bei den Kommunalwahlen in Rotterdam 35 Prozent der Stimmen und erhoffte sich von den Parlamentswahlen am 15. Mai ein ähnliches Resultat. Nach seiner Ermordung am 6. Mai ist die Zukunft der auf seine Person zugeschnittenen Liste offen. Die Leefbaar-Bewegung lag bei denselben Kommunalwahlen in Almere, Eindhoven und Hilversum an der Spitze, dürfte aber landesweit nur einen Stimmenanteil von etwa 3,1 Prozent erreichen.

Worin besteht die Gemeinsamkeit dieser Parteien? Zuallererst wohl in ihrer populistischen Protesthaltung. Zum anderen stimmen sie überein in ihrer Befürwortung von Law and Order und ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Einwanderung: Die niederländischen Gruppierungen betonen die Notwendigkeit, die in ihren Augen allzu liberale Gesetzgebung des Landes zu verschärfen, und verweisen in diesem Zusammenhang auf die Kriminalität der Nordafrikaner; die Schill-Partei vertritt als einzigen Programmpunkt die „Abschaffung“ der Kriminalität. Und schließlich zeichnen sich alle diese Gruppierungen dadurch aus, dass es sich um lokale Initiativen mit nationalen Ambitionen handelt: Leefbaar Nederland funktioniert als Sammlungsbewegung lokaler Listen, die Schill-Partei lässt eindeutig erkennen, dass sie im ganzen Land präsent sein will, auch wenn sie inzwischen beschlossen hat, bei den Bundestagswahlen im September 2002 nicht anzutreten.

Eine weitere Ähnlichkeit betrifft das persönliche Profil der Anführer: Einerseits geben sie sich volksnah und betonen immer wieder ihre bescheidene Herkunft (Le Pen, der „Hunger und Kälte erlebt hat“; Christoph Blocher als Sohn eines armen Pastors), andererseits sind sie häufig durchaus wohlhabend, wenn nicht sogar reich: Blocher ist Milliardär, der einen Chemiekonzern leitet; Ulrich Marseille, der Spitzenkandidat der Schill-Partei in Sachsen-Anhalt, hat mit Kurkliniken ein beträchtliches Vermögen gemacht. Geradezu beispielhaft ist der Fall des ehemaligen FPÖ-Chefs Jörg Haider. Der Erbe eines arisierten Familienvermögens umgab sich mit Leuten wie Karl-Heinz Grasser, einem jungen Topmanager aus der Privatwirtschaft, der österreichischer Finanzminister wurde, und dem milliardenschweren Papierindustriellen Thomas Prinzhorn. Zudem verfolgen die freiheitlichen Minister der Wiener Koalition in der Frage des „Nulldefizits“, der künftigen Ruhestandsregelung und der Familienpolitik einen Kurs, der den Interessen des arbeitenden FPÖ-Wahlvolks absolut zuwiderläuft. Was im Übrigen teilweise erklären dürfte, warum die Partei seit ihrem Eintritt in die Regierung im Februar 2000 bei Nachwahlen immer wieder Stimmenverluste hinnehmen musste.

Die neuen Spielarten des Rechtsextremismus sind vor allem eine Form des reaktionären Protests gegen die Positionen der traditionellen Rechten wie Linken, die sich im allgemeinen Konsens den Forderungen des ökonomischen und sozialen Ultraliberalismus sowie der Ideologie der Globalisierung angeschlossen haben. Das würde bedeuten, dass die Linke, die sich von den kleinen Leuten entfernt hat, sich selbst reproduzierende Regierungseliten erzeugt und sich hinter einem technokratischen Managementdiskurs verschanzt, am Entstehen dieser dritten Welle nicht ganz unschuldig ist. Diese Welle wird nur dann aufzuhalten sein, wenn es wieder eine echte Alternative zwischen rechts und links gibt und der Staat wieder als zentrale Instanz öffentlichen Handelns anerkannt wird.

dt. Matthias Wolf

* Politologe, Mitarbeiter am Centre de recherche et d‘action sur le racisme et l‘antisémitisme (Cera). Autor von „Les Extrémismes en Europe“, La Tour d‘Aigues (Editions de l‘Aube) 1998, und von „Front National: Eine Gefahr für die französische Demokratie?“, Bonn (Bouvier) 1998.

Fußnoten: 1 „Die Besonderheit dieses Populismus des FN besteht darin, dass er sich in einer Führung wiedererkennt, die sich auf ein faschistisches Erbe beruft. Und er ist derart in den Werten der extremen Rechten verankert, dass er sich der klassischen Rechten nicht anzuschließen vermag“ (Yves Mény in Libération vom 24. April 2002). 2 Siehe Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), „Jahrbuch Extremismus und Demokratie“, Bonn (Bouvier) 2001. 3 Zum VB siehe Marc Spruyt, „Wat het Vlaams Blok verwijgt“, Löwen (Van Halewyck) 2000. 4 Siehe ihr Beitrag „Radical Right-Wing Populism in Scandinavia“, in: Paul Hainsworth (Hrsg.), „The Politics of the Extreme Right. From the Margin to the Mainstream“, London und New York (Pinter) 2000.

Le Monde diplomatique vom 17.05.2002, von JEAN-YVES CAMUS