17.05.2002

Die Vorsicht hat das Nachsehen

zurück

Die Vorsicht hat das Nachsehen

OB gentechnisch veränderte Organismen (GVO) unschädlich sind oder nicht, vermag derzeit kein Wissenschaftler mit Sicherheit zu sagen. Und doch verlangt die US-Regierung von der Europäischen Union, dass sie das seit 1998 wirksame Handelsmoratorium lockert und die Einfuhr von „Genfood“ erlaubt. Die Europäische Kommission wird sich dem Druck, den die Nahrungsmittelindustrie und Washington gemeinsam ausüben, nicht mehr lange widersetzen können – auch weil der zuständige EU-Kommissar Pascal Lamy nicht bereit zu sein scheint, das so genannte Vorsichtsprinzip zur Leitlinie seiner Politik zu machen.

Von SUSAN GEORGE *

Der „uneingeschränkte“ Antiterrorkrieg der Vereinigten Staaten ist nicht die einzige Konsequenz der Anschläge vom 11. September 2001. Der Terrorismus lieferte George W. Bush auch einen willkommenen Vorwand, um den amerikanischen Kongress im Namen des Patriotismus aufzufordern, ihm die so genannte Trade Promotion Authority zu bewilligen. Dieser Blankovollmacht für Verhandlungen über internationale Handelsabkommen hat das Repräsentantenhaus mit denkbar knapper Mehrheit bereits zugestimmt. Sollte der Senat ebenfalls grünes Licht geben, kann der Kongress das Verhandlungsergebnis nur noch en bloc annehmen oder ablehnen, was nicht sehr wahrscheinlich ist. Ohne Trade Promotion Authority fehlt es den Unterhändlern der USA in den Augen ihrer Handelspartner an Glaubwürdigkeit, denn Letztere befürchten, die erzielten Verhandlungsergebnisse könnten durch nachträgliche Änderungen im Kongress wieder zunichte gemacht werden.

Noch vor der endgültigen Entscheidung des Kongresses mussten die Globalisierungsgegner eine schwere Niederlage hinnehmen, denn die als „Entwicklungsrunde“ bezeichnete WTO-Ministerkonferenz im November 2001 in Doha war für das Big Business ein unbestreitbarer Erfolg. Auf der Verhandlungsliste steht damit auch eines der für die unmittelbare Zukunft heikelsten Themen: die Umweltproblematik. Dass diese in der Abschlusserklärung von Doha überhaupt Erwähnung fand, war vor allem der Europäischen Union zu verdanken, die dabei von Japan, Norwegen und der Schweiz unterstützt wurde. Die Ablehnungsfront wurde angeführt von Indien, dessen Haltung sich mehr oder weniger entschieden die meisten Entwicklungsländer anschlossen, aber auch von den USA. Doch die Berücksichtigung der Umweltproblematik hatte einen hohen Preis. Überdies sind die künftigen Verhandlungsergebnisse über die Vereinbarkeit der WTO-Regeln mit dem multilateralen Umweltabkommen (MEA) nur für die MEA-Signatarstaaten verbindlich. Das gibt einen klaren Anreiz, dem unseligen Beispiel der USA zu folgen und das Abkommen erst gar nicht zu unterzeichnen. Zum anderen besteht nun die Gefahr, dass die WTO auch in Umweltfragen das letzte Wort behält. Dies hoffen zumindest die Wirtschaft und allen voran die im Bereich der Biotechnologie tätigen Unternehmen.

EU-Handelskommissar Pascal Lamy scheint diese Vision zu teilen. Vor der Unterzeichnung der Doha-Erklärung beruhigte er seinen Freund, den US-Handelsbeauftragten Robert Zoellick, in einem Brief: „Sie haben mich wissen lassen, dass Ihre Regierung bezüglich des Handels mit Biotechprodukten und der Umsetzung der handelsbezogenen Aspekte der geltenden und künftigen multilateralen Abkommen zur Biosicherheit in tiefer Sorge sei, und haben dabei auch die Befürchtung geäußert, Europa könnte die in Doha beschlossenen Ergebnisse nutzen, um illegitime Handelsbarrieren zu rechtfertigen. Dazu wird es nicht kommen. Des Weiteren möchte ich Ihnen versichern, dass ich die Verhandlungsergebnisse nicht dazu nutzen werde, die hinsichtlich des Vorsichtsprinzips in der WTO geltende Balance von Rechten und Pflichten zu modifizieren.“1

Der letzte Satz lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Der zuständige Kommissar teilt mit, dass für die EU eine Stärkung des Vorsichtsprinzips oder gar eine Umkehrung der Beweislast in puncto Biosicherheit nicht zur Debatte steht. Länder oder Ländergruppen, die ein bestimmtes Produkt nicht einführen wollen – im Fall der EU zum Beispiel hormonbehandeltes Rindfleisch –, werden auch künftig den Beweis erbringen müssen, dass das betreffende Produkt gefährlich ist. Das Ausfuhrland hingegen wird der Pflicht, einen Unbedenklichkeitsbeweis zu liefern, weiterhin enthoben sein.

Europäische Regeln unter Beschuss

DIE konziliante Haltung der EU in der sensiblen Frage gentechnisch veränderter Organismen und Lebensmittel (GVO) könnte demnächst schwerwiegende Konsequenzen haben. Kaum einen Monat nach der Konferenz von Doha verstärkte Robert Zoellick den Druck, als er zu verstehen gab, dass die Bush-Regierung der „Verschleppung“ der Einfuhrgenehmigung für GVO-Erzeugnisse durch die Europäer nicht länger tatenlos zusehen und die EU-Richtlinien zur Rückverfolgbarkeit und Etikettierung von GVO-Produkten unter Beschuss nehmen werde.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass in der Union seit 1998 ein Importmoratorium für neue GVO-Produkte gilt. Doch im Juli vorigen Jahres unterbreitete die EU-Kommission dem Rat und dem Europäischen Parlament ein – noch nicht beschlossenes – Maßnahmenpaket zur Rückverfolgbarkeit und Etikettierung von GVO-Erzeugnissen. Diese Maßnahmen sollen letztlich dazu dienen, den Weg für GVO-Importe frei zu machen und die bittere Pille ein wenig zu versüßen, frei nach der Devise, der Verbraucher habe ja die „Wahl“ zwischen GVO-haltigen und GVO-freien Produkten.2

Bei den regelmäßigen EU-Umweltministertreffen stoßen die Vorschläge der Kommission nach wie vor auf den Widerstand einer Sperrminorität aus Frankreich, Dänemark, Griechenland, Österreich, Italien und Luxemburg – wobei Dänemark unter seiner neuen Mitte-rechts-Regierung ein unberechenbarer Wackelkandidat ist. Überhaupt steht die Minderheit auf schwachen Beinen und hat es mit einer Front von starken Gegenspielern zu tun. Kurz nach Doha, am 6. November 2001, wandten sich 64 amerikanische Agrarmultis und Landwirtschaftsverbände an ihre Minister für Handel und Landwirtschaft sowie an den US-Handelsbeauftragten Zoellick und beklagten sich über das europäische Vorsichtsprinzip und die „illegitimen Maßnahmen und technischen Handelshemmnisse“ der Union. Sie forderten die amerikanische Regierung auf, nicht länger hinzunehmen, dass die EU die WTO-Abkommen über sanitäre und phytosanitäre Maßnahmen sowie über technische Handelshemmnisse missachtet. Die mächtige US-Lobby macht in ihrer Eingabe geltend, dass das EU-Moratorium allein bei Mais Gewinneinbußen von 300 Millionen Dollar verursache. Die Öffnung des europäischen Markts liegt den US-Agrarmultis so besonders am Herzen, weil sie sich bei GVO-Erzeugnissen gute Chancen auf ein Marktmonopol ausrechnen.

In der Tat haben die großen Biotechunternehmen Europas die Landwirtschaft wegen des starken Widerstands der Öffentlichkeit abgeschrieben und konzentrieren sich inzwischen auf den Gesundheitssektor.3 Im Januar 2002 meinte die US-Landwirtschaftsministerin Ann Veneman in einer Rede in Oxford, die USA würden sich ja noch auf Grundsätze der sound science (der „fundierten Naturwissenschaft“) stützen, während in Europa inzwischen leider ein konkurrierender Grundsatz namens Vorsichtsprinzip den Ton angebe, der auf der Annahme eines rein theoretischen Risikos zu beruhen scheine. „Dieses Konzept“, so die Ministerin, „könnte einige der vielversprechendsten Agrarprodukte, insbesondere aus dem Bereich der Biotechnologien, blockieren.“ Acht Tage später setzte der Unterstaatssekretär im Wirtschafts- und Landwirtschaftsministerium, Alan Larson, noch eins drauf und erklärte in Brüssel: „Die Geduld der USA ist erschöpft.“

Der Druck, die Angelegenheit vor die WTO zu bringen, nimmt ständig zu. Larson hat der EU-Kommission nahe gelegt, die Länder der Sperrminorität, allen voran Frankreich, beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zu verklagen. Schließlich habe der Gerichtshof schon einmal gegen Frankreich entschieden, als sich das Land wegen der BSE-Krise weigerte, britisches Rindfleisch einzuführen. Larson drohte: „Wir halten uns alle Optionen offen, aber die Staatschefs, Ministerpräsidenten und Außenminister Europas müssen auf die eine oder andere Weise begreifen, dass diese Frage für uns von äußerster Wichtigkeit ist. Wenn sich Europa unangemessen und rechtswidrig verhält, bleibt als einziger Ausweg die Konfrontation.“4

Der UN-Handelsbeauftrage Zoellick wiederum versorgte im Januar 2002 die Botschafter der USA mit einem 14-seitigen Argumentationspapier, um nötigenfalls widerspenstige WTO-Mitglieder, vor allem unter den EU-Staaten, auf Linie zu bringen. In diesem Papier argumentiert er, die von der EU ins Auge gefassten Maßnahmen zur Rückverfolgbarkeit und Etikettierung von GVO-haltigen Lebens- und Futtermitteln seien „weder anwendbar noch überprüfbar“, ihre Umsetzung sei „sehr kostspielig“ und sie würden „ihren Zweck nicht erreichen und dem Handel schaden“. In jedem Fall zielten sie „auf Produkte, deren Gebrauch bereits genehmigt ist“ – natürlich nur durch US-Behörden. Am Schluss seines Papiers stellt Zoellick die Frage, „wie die EU sicherstellen will, dass eine Genehmigung auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und nicht aus politischen Erwägungen erteilt wird“5 . Derart erschreckend demokratische Verhältnisse ließen sich aber vielleicht doch noch abwenden, wenn sich die USA an die Spielregeln halten würden.

Im Oktober 2001 erklärte David Byrne, der EU-Kommissar für Gesundheit und Verbraucherschutz, bei einem Besuch in Washington, er gehe davon aus, dass die EU das Importmoratorium bereits auf dem Ratsgipfel in Barcelona im März 2002 aufheben werde. Etwas realistischer äußerte sich drei Monate später Kommissar Lamy, ebenfalls bei einem Besuch in Washington. Die Frage der Importgenehmigung für GVO-Produkte, so seine Einschätzung, könne noch nicht so schnell geregelt werden, und zwar wegen des „politischen Klimas“ in Europa. Eine „günstigere Gelegenheit“ hierfür würde sich „später im Jahr“ bieten. Vielleicht nach den Wahlen in Frankreich und Deutschland?

Auch der EU-Vertreter in Washington und Berater des Ministers für Landwirtschaft, Fischerei und Verbraucherschutz, Tony Van der Haegen, tut sich mit guten Ratschlägen ausgerechnet an die Amerikaner hervor und teilt ihnen in drei wichtigen Punkten mit, was er von seinem Arbeitgeber hält: Erstens sei der Entscheidungsmodus der EU in der GVO-Frage schlicht und ergreifend „unhaltbar“. Zweitens erklärt er: Wenn die USA die EU bei der WTO verklagen würden, „würden wir verlieren“. Nachdem er so die Schwachstellen der Position aufgezeigt hat, die er von Amts wegen vertreten müsste, rät er drittens den USA ab, die EU in Sachen Rückverfolgbarkeit und Etikettierung vor das WTO-Streitbeilegungsorgan zu zitieren. Und zwar mit der Begründung, wenn Washington den Streit wider Erwarten verlieren sollte, würde dies „das Vertrauen des Kongresses und der amerikanischen Öffentlichkeit in die WTO zusätzlich erschüttern“. Und wenn die USA gewinnen würden? In diesem Fall, meint Van der Haegen, „könnte sich die EU aus politischen Gründen niemals dazu bereit finden, sich dem Schiedsspruch zu beugen“. Der anschließende Konflikt wäre „viel schlimmer als der Streit über das hormonbehandelte Rindfleisch“6 .

Durch derlei besorgte Ratschläge ins Bild gesetzt, feilt die US-Administration an ihrer GVO-Strategie und zeigt sich gewillt, die Wahlen in Frankreich und Deutschland abzuwarten, auf „dass ein politisch explosiver WTO-Streit nicht zum Wahlkampfthema wird und der biotechfeindlichen Kampagne der grünen Parteien Munition liefert“7 . Die US-Regierung verliert ihr Ziel jedenfalls nicht aus dem Auge.

dt. Bodo Schulze

* Vizepräsidentin von Attac Frankreich, Autorin von „Remettre l‘OMC à sa place“, Paris (Mille et Une Nuits) 2001.

Fußnoten: 1 Brief von EU-Kommissar Pascal Lamy an den Handelsbeauftragten Robert Zoellick, Doha, 14. 11. 2001, Inside U.S. Trade 19 (4), Washington, November 2001. 2 Als gentechnisch veränderte Agarerzeugnisse gelten unter anderem Mais, Soja, Tomaten, Sojaöle, Raps, Maissirup und -stärke, Nahrungszusatzstoffe und Futtermittel, nicht aber die Produkte von Tieren, die GVO-haltiges Futter bekommen haben. 3 Dazu Le Monde, 20./21. Januar 2002. 4 International Trade Reporter 19 (2), Washington, 10. 1. 2002. 5 Siehe Website von Inside U.S. Trade. [Der Zugang ist passwortgeschützt.] 6 Siehe N. Chris Rugaber, „US to analyze EU Biotech Rules, Plans WTO Submission“, International Environment Reporter 24 (25), Washington, 5. 12. 2001. 7 Inside U.S. Trade 19 (51), Washington, 21. 12. 2001.

Le Monde diplomatique vom 17.05.2002, von SUSAN GEORGE