17.05.2002

Ich, der Allmächtige

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Ich, der Allmächtige

Über fast zwei Jahrhunderte erstreckt sich die Geschichte der blutigen Diktaturen Lateinamerikas. Die gehasste, bewunderte und mythologisierte Gestalt des despotischen Patriarchen hat ein eigenes literarisches Genre hervorgebracht – den Diktatorenroman. Dabei entstanden Meisterwerke der Weltliteratur.

Von RAMÓN CHAO *

DIE großen lateinamerikanischen Schriftsteller absolvieren traditionsgemäß ein bestimmtes Ritual, entstanden aus dem Wunsch, die Dämonen der Geschichte ihres Kontinents zu bannen: das Verfassen eines Diktatorenromans. Im Jahr 1830, wenige Monate vor seinem Tod, prophezeite ein kranker, desillusionierter Simón Bolívar, Amerika werde „kleinen, kaum erkennbaren Tyrannen aller Couleurs und Rassen“ in die Hände fallen. Was der „Befreier“ gewiss nicht voraussehen konnte, war, dass daraus ein neues literarisches Genre entstehen würde.

Der Despotismus ist das gemeinsame Kennzeichen von größenwahnsinnigen Satrapen so unterschiedlicher Art wie Juan Manuel Rosas in Argentinien, Guzmán Blanco in Venezuela oder Porfirio Díaz in Mexiko. Er hat seine Wurzeln in den Unabhängigkeitskriegen, den Krisen der postkolonialen Staaten, in denen archaische Verhältnisse fortbestehen: Großgrundbesitz, Armut, Rassismus, Kazikentum. Es war vor allem ein romantischer Patriotismus, der die Schriftsteller dazu trieb, den Machtmissbrauch der neuen Herrschenden anzuprangern.1

Die ersten Diktatoren Lateinamerikas tauchten bereits im frühen 19. Jahrhundert auf und sind eine Ausdrucksform des Militarismus. Argentinien machte sehr früh Bekanntschaft mit der Diktatur in Gestalt von Juan Manuel Rosas – verdorbene Frucht der Spaltung von Unitariern und Föderalisten. Der argentinische Schriftsteller Estéban Echeverría war der Erste, der in seiner Erzählung „El matadero“ aus krudem Realismus und überbordender Fantasie eine Literaturform mischte, in der die absurde Logik absoluter Macht bei Rosas letztlich Terror, Folter und Verbrechen rechtfertigt.2

Andere Autoren folgten der von Echeverría vorgegebenen Linie: 1851 schilderte der Argentinier José Mármol mit „Amalia“ die Irrationalität und Grausamkeit des Tyrannen Rosas. 1892 behandelte die Peruanerin Mercedes Cabello in „El Conspirador“ den Aufstieg des Diktators Leguía; 1923 beschrieb Rufino Blanco-Fombona den miserablen Zustand Venezuelas unter der Diktatur von Juan Vicente Gómez.

Diese Texte erschienen allesamt vor dem ersten Meisterwerk dieses Genres: „Tyrann Banderas“ des Spaniers Ramón del Valle-Inclán.3 Der im Anschluss an eine Mexikoreise des Autors entstandene Roman ist in einer imaginären Welt angesiedelt, die mit Pampa, Flussdelta, Sümpfen und Regenwald einen Querschnitt durch die gesamte lateinamerikanische Geografie bietet. Valle-Inclán kombiniert außerdem linguistische Besonderheiten, Informationen und Persönlichkeiten verschiedener Länder.

Dennoch hat das Buch vor allem mexikanische Quellen: Es spielt in Tierra Caliente, das beschriebene Gefängnis ist die Festung San Juan de Ulúa, und der spanische Botschafter und dessen böser Geist Roque de Cepeda sind Karikaturen von realen, in Mexiko residierenden Diplomaten. Der ebenfalls als Charakterquerschnitt konzipierte Tyrann Santos Banderas, der blutrünstige und schweigsame Indio, der nach eigenem Bekunden „nicht an die Vorzüge und Fähigkeiten seiner Rasse glaubt“, besitzt einige Merkmale, die an den spanischen Diktator Primo de Rivera (1923–1930) erinnern. Nach Valle-Inclán sind auch die lateinamerikanischen Despoten ein Erbe der Konquistadoren.

Bei seiner Veröffentlichung 1926 in Madrid stieß „Tyrann Banderas“ auf enorme Resonanz. Xavier Bóveda, gemeinsam mit Jorge Luis Borges Begründer der Zeitschrift Síntesis, rät „allen Lateinamerikanern, in allen Buchhandlungen des Kontinents den „Tyrann Banderas“ zu kaufen“.4 1929 erschien der Roman auf Englisch, 1931 auf Russisch; laut New York Times Book Review wurde „Tyrann Banderas“ nur deshalb so spät ins Englische übersetzt, weil das Interesse der USA an Lateinamerika „mehr wirtschaftlicher als literarischer Art war“.5

Das von Valle-Inclán entwickelte Stilprinzip des „Esperpento“ (eine zwischen Expressionismus und Surrealismus anzusiedelnde Methode grotesker Verfremdung) machte für das neue Genre in der Folgezeit Schule. 1929 übernahm der Mexikaner Martín Luis Guzmán in „La sombra del caudillo“ (Der Schatten des Caudillo) bestimmte Techniken Valle-Incláns, konzentriert sich jedoch weniger auf die Gestalt des Diktators als auf den Versuch, die moralische Verworfenheit der sich in seiner Umgebung tummelnden neuen „Revolutionäre“ zu beschreiben.

In „Der Herr Präsident“6 , dem 1946 erschienenen Roman des Guatemalteken Miguel Angel Asturias, begegnen wir den deutlichsten Ähnlichkeiten mit „Tyrann Banderas“. Valle-Inclán hatte gewisse Erzählstrukturen entwickelt, die Asturias aufgreift und verfeinert, wobei er sein Vorbild in etlichen Punkten noch übertrifft. Das Buch speist sich aus frühen Erinnerungen des Autors. Während seiner Studentenzeit hatte sich Asturias am gewaltlosen Kampf gegen den Despoten Estrada Cabrera (1857–1924) beteiligt. Zeitliche und räumliche Distanz führten dazu, dass Asturias sich auf der Suche nach den Ursprüngen der Diktatur vom dokumentarischen Stil entfernte, vom Realismus abwandte, ihn verfremdete und überzeichnete, um die von ihm so genannte biologische Dimension der Sprache zu erreichen. Zudem entwickelte er eine originelle Wahrnehmung der Welt, durchdrungen vom indianischen Empfinden und der Maya-Kosmogonie. Von da an wurden die überbordende Fantasie und die rituelle Einbeziehung indianischer Mythen Bestandteil der lateinamerikanischen Literatur und brachten den so genannten magischen Realismus hervor.

José Gaspar Tomás Rodríguez de Francia, Protagonist des Romans „Ich, der Allmächtige“ von Augusto Roa Bastos7 , ist eine Art paraguayischer Robespierre. Sein Leitbild war die Französische Revolution, seine Religion die Gedankenfreiheit und sein Lieblingsautor Jean-Jacques Rousseau. Er gelangte 1812 an die Macht und rief sich 1814 zum „Höchsten Diktator“ aus. Bis 1840 versuchte er seine Fortschrittsideen mit Terrormethoden durchzusetzen. Dabei verteidigte er die Unabhängigkeit Paraguays gegen die miteinander verbündeten begehrlichen Nachbarn – Uruguay mit seinem Gründer Artigas, das gefräßige Brasilien, das von England ermutigte Argentinien – und gab seinem Volk ein nationales Bewusstein. Für viele Paraguayer gilt er bis heute als weltlicher Heiliger. Die paraguayische Oberschicht verzieh es Francia nie, dass er die Armeeführung ausschaltete und den Großgrundbesitz abschaffte, um stattdessen die estancias de la Patria aufzubauen, genossenschaftlich organisierte Farmen, mit denen es ihm gelang, die gesamte Bevölkerung zu ernähren und sogar einen Teil der Produktion zu exportieren. Heute wird von allen Paraguayern anerkannt, dass der „Höchste Diktator“ das öffentliche Leben mit seiner „franziskanischen Moral“ verändert hat, ein gerechtes Steuersystem einführte, überall Schulen einrichtete und damit den Analphabetismus beseitigte.

Rao Bastos Erzählung setzt kurz vor dem Verschwinden des Diktators ein, der von sich in der ersten Person erzählt: „Ich, der Allmächtige Diktator der Republik, ordne an, dass mein Leichnam bei meinem Tod enthauptet und mein Kopf, aufgespießt auf einer Lanze, drei Tage lang auf dem Platz der Republik zur Schau gestellt wird, wohin das Volk unter dem Geläut aller Glocken einzuberufen ist.“8 Beim genaueren Lesen drängt sich die Frage auf: Kann ein Mensch mit absoluter Macht regieren, ohne der Korruption zu erliegen, die diese Macht mit sich bringt?

Diese Frage stellte Gabriel García Márquez in „Der Herbst des Patriarchen“ (1975)9 , und in beiden Fällen erfolgt die Antwort in metaphorischer Form – im physischen Verfall des Patriarchen wie auch des Allmächtigen, der den Niedergang ihrer Macht begleitet: „Mein Körper wächst, schwillt an; er wogt im Wasser der Rasse, das meine Feinde durch Ketten imZaum zu halten dachten.“

García Márquez versucht den Mythos zu zerstören, der die Diktatoren umgibt, diese „unverwechselbaren, epischen, außergewöhnlichen“ Wesen. Sein Patriarch ist ein Amalgam aus Rosas, Franco und Pinochet; seine Grausamkeit wird von einer monströsen Rhetorik umschmeichelt, deren mäandernde Syntax dazu dient, die Wahrheit selbst noch der Erzählung zu verhüllen: Der Patriarch existiert nur in einem Labyrinth aus wiederholten und nie verifizierten Phrasen. Letzlich war der Patriarch allenfalls „eine ungewisse Vision, das Zittern stummer Lippen, das flüchtige Winken eines leeren Handschuhs eines schicksallosen Alten, der ein böser Scherz der Einbildung gewesen sein muss“.

In „Die Methode der Macht“ (1974)10 analysiert Alejo Carpentier den Diskurs des Alleinherrschers. Die ersten Seiten beschreiben die Unsicherheit des Despoten, der frühmorgens Traum und Wirklichkeit nicht unterscheiden kann, denn, so die Kernthese des Romans: Die Instabilität des Landes ist das Ergebnis der Illusionen, deren Urheber und zugleich Opfer der Diktator ist. Demnach sei diese Figur eine der Mythen Lateinamerikas, in der sich alle historischen, sozialen oder kulturellen Konflikte der Hemisphäre spiegeln, „eine Geschichte, die sich wiederholt, sich in den Schwanz beißt, sich selbst verschlingt und immer wieder erstarrt“.

dt. Christian Hansen

* Schriftsteller und Journalist.

Fußnoten: 1 Rudolf Grossmann, „Historia y problemas de la literatura latinoamericana“, in Revista de Occidente, Madrid 1972. 2 Der spanische Text der Erzählung „El matadero“ (Das Schlachthaus) ist im Internet frei verfügbar: www.e-libro.net/E-libro- viejo/gratis/matadero.pdf. 3 „Tirano Banderas“, Madrid 1926, dt. A. M. Rothbauer, Heidelberg (Goverts) 1961 (zuletzt Frankfurt am Main, BS, 1975), nicht mehr lieferbar. 4 „La vida literaria en España“, in Revista de Estudios Hispánicos, Nr. 1, New York 1928. 5 The New York Times Book Review, 22. Dez. 1929. 6 „El señor presidente“, Mexiko 1946, dt. J. Bachmann, Genf und Frankfurt am Main (H. Kossodo) 1957 (auch Rowohlt TB 1962), nicht mehr lieferbar. 7 „Yo el supremo“, Buenos Aires 1974, dt. Elke Wehr, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2000. 8 Ebenda, S. 7. 9 „El otoño del patriarca“, Barcelona, Buenos Aires 1975, dt. Curt Meyer-Clason, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 1978. 10 „Recurso del método“, 1974, dt. Elke Wehr, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1989, nicht mehr lieferbar.

Le Monde diplomatique vom 17.05.2002, von RAMÓN CHAO