17.05.2002

Der Herbst des Populisten Hugo Chávez

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Der Herbst des Populisten Hugo Chávez

In Miraflores, dem Präsidentenpalast von Caracas, sitzt Hugo Chávez wieder fest im Sattel, wiewohl die Opposition weiterhin gegen ihn mobil macht. Der Versuch, den linken Caudillo zu stürzen, ist an der breiten Unterstützung gescheitert, die der populäre Präsident in der Bevölkerung genießt. Hinter dem Umsturzversuch stecken die mächtigen Interessengruppen der Hochfinanz und der Mittelschicht. Aber auch Teile des Militärs, auf das sich Chávez fest verlassen zu können glaubte, zeigten sich mit seinem Regime unzufrieden. Eine undurchsichtige Rolle spielen offensichtlich die „Bolivarischen Zirkel“, die auf Stadtteilbasis organisierten Unterstützergruppen des Präsidenten.

Von unserem Korrespondenten MAURICE LEMOINE *

DIE Fernsehkameras sind auf den Moderator gerichtet, behalten aber auch die Stadt Caracas im Bild, die sich am Fuß des El Avila hinzieht, an dessen Abhängen das improvisierte Studio aufgebaut wurde. Soeben hat der Moderator das Publikum zum Lachen gebracht: „Lauter falsche Töne. Er singt wirklich miserabel!“, sagt er von Fidel Castro, den er in einer seiner Shows zum Singen hatte überreden können. Im nächsten Atemzug wird er poetisch, schwärmt von Guatemala und vom Befreier Simón Bolívar, summt leise vor sich hin, befragt seine Gäste – darunter eine Reihe von Ministern –, parliert schließlich per Bildschirm mit einer einfachen Zuschauerin, von der er sich mit einem zärtlichen „Ciao, meine Süße, ich schick dir ein Küsschen“ verabschiedet. Seine Gewandtheit ließe den größten Fernsehstar vor Neid erblassen. Und dabei ist er kein Profi. Er heißt Hugo Chávez und ist Präsident der Bolivarischen Republik Venezuela.

Bei dieser hundertsten Ausstrahlung seiner sonntäglichen Sendung „Aló Presidente!“, am 17. März 2002, übertrifft er sich selbst. Er plauscht über Satellit mit den Präsidenten von Guatemala, der Dominikanischen Republik und von Kuba: „Gut, Fidel, wenn wir uns die Tage nicht sehen, dann rufen wir mal durch … Hasta la victoria, siempre!“ Es folgen ein wenig Medienschelte und zum Ausklang noch eine Drohung: „Und denen, die mir ans Zeug wollen, kann ich nur sagen: Ich weiß, wie viele sie sind und welches Gewicht sie nach dem Essen auf die Waage bringen!“ Das begeisterte Publikum jubelt ihm zu: „Sie kommen nicht wieder! Viva el Comandante!“

Der Comandante hat es wieder mal übertrieben: Sechs Stunden und fünfunddreißig Minuten war er nonstop auf Sendung. Aber er glaubt, dass diese Art von Gottesdienst notwendig ist, um den Kontakt mit den Ausgegrenzten, den Armen und der Linken, sprich mit der Mehrheit, nicht zu verlieren.

Die escuálidos – „die Fleischlosen“, wie der Präsident seine Gegner bezeichnet – von La Castellana, Altamira, Palos Grandes und Las Mercedes – den schicken Vierteln von Caracas – sind außer sich. „Dieser Typ ist ein Demagoge, ein Populist, ein rasender Irrer!“ Bestenfalls räumt man ein, dass seine Vorgänger kaum besser waren. „Aber er ruiniert das Land.“ Um ihn schließlich pauschal zu verdammen: „Er gehört auf keinen Fall auf den Präsidentensessel. Ein Militär kann nur zwei Dinge: gehorchen oder befehlen!“ Die Oligarchie, die Finanzwelt und die Mittelschicht hasst diesen Eindringling. Mit seiner dunklen Hautfarbe und seinem losen Mundwerk hat er etwas von einem Taxifahrer oder Hotelportier, einem Landarbeiter oder einem buhonero, einem Schieber vom Schwarzmarkt. Und genau deswegen – weil er wie ein Mann von ganz unten wirkt – sitzt er im Präsidentenpalast Miraflores.

Dieser Fallschirmjäger-Oberst versuchte im Februar 1992 mit einem Putsch der dreißigjährigen Herrschaft der sozialdemokratischen Acción Democrática (AD) und der christdemokratischen COPEI ein Ende zu machen. In einem Land, das eine Menge Erdöl produziert, waren 80 Prozent der Bevölkerung unter die Armutsgrenze gerutscht. Nach dem gescheiterten Putsch wurde er zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, aber zwei Jahre später amnestiert. Im Dezember 1998 schaffte es Chávez dann, auf demokratischem Wege Präsident zu werden. Seiner Wiederwahl am 30. Juli 2000 ging eine weitreichende Verfassungsänderung voraus, die per Referendum abgesegnet wurde.1 Chávez war also Sieger geblieben, und Venezuela hatte einen friedlichen Machtwechsel erlebt.

Seither betreibt die Regierung eine Revolution eigener Art: „Weder sozialistisch noch kommunistisch, im Rahmen des Kapitalismus, und doch radikal, mit einschneidenden Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur“, erklärt der Präsidialminister Rafael Vargas. Und sie schlägt etwas vor, was in Washington besondere Unruhe auslöst, nämlich die Organisation Erdöl exportierender Staaten (Opec) wiederzubeleben und den Bruttopreis pro Barrel über dem Minimum von 22 Dollar zu halten. In Caracas mehren sich außerdem kritische Äußerungen über die neoliberale Globalisierung; man will dem Hegemonialanspruch der USA eine multipolare Welt entgegensetzen.

Von der Geburt eines neuen Landes zu reden ist eine Sache, die Veränderung praktisch durchzusetzen eine andere. „Es gibt keine Arbeit, keinen Fortschritt“, beklagt sich in Valencia einer der vielen, die unter jedem Regime zu den Verlierern gehören. Die Arbeitslosigkeit, sagt er, sei nicht geringer geworden. In einem der Elendsviertel, das nach der Präsidentengattin den Namen Marisabel de Chávez trägt, macht ein langer Kerl seinem Herzen Luft: „Klauen ist das Einzige, was ich kann, aber hier weiß ich beim besten Willen nicht, wem ich was klauen könnte.“

In einem anderen Stadtteil, dem Barrio Alicia Pietri de Caldera (benannt nach der Gattin des Vorgängers von Chávez) arbeiten die Privilegierten beim Wachschutz, dem einzigen expandierenden Wirtschaftszweig. Der Lohn für vierzehn Tage beträgt 84 000 Bolivar (84 Euro). Wie überall stagniert der monatliche Mindestlohn bei 158 400 Bolivar, um eine fünfköpfige Familie zu ernähren, braucht man 240 000 Bolivar.2 Und selbst die weitgehendsten Initiativen der Regierung kommen nicht voran. „Die bolivarische Schule funktioniert schon“, sagt eine Mutter, „und es gibt eine Schulkantine, wo die Kinder drei Mahlzeiten am Tag umsonst bekommen sollen. Nur wurde sie gerade geschlossen: Es ist kein Geld da, um die Lieferanten zu bezahlen.“

Des Öfteren steht er nackt da, der Kaiser Chávez in seinen neuen Kleidern. Sein Movimiento Quinta República (MVR; „Bewegung für die Fünfte Republik“) ist eine Partei, die in aller Eile für die Wahlen aufgebaut wurde und keine tragfähigen Strukturen entwickelt hat. Den Wahlsieg vor Augen, schlossen sich im MVR überzeugte „Chavisten“ und Revolutionäre zusammen, aber auch Mitglieder der alten politischen Parteien und Opportunisten, die sich Vorteile und Pfründen erhofften. Das tun auch die Parteien, die mit dem Präsidenten zusammenarbeiten: der Movimiento al Socialismo (MAS), die Causa R, der Movimiento Primero de Mayo und die Maoisten von Bandeja Roja, desgleichen der Generalsekretär der Patria Para Todos (PPT) Pablo Medina.3 Früher oder später präsentieren sie dem Präsidenten alle die Rechnung für ihre Unterstützung. Das erklärt die vielen Richtungswechsel, Brüche, Rücktritte, Entlassungen und Übertritte ins gegnerische Lager. Die Regierung vermittelt den Eindruck, ständig zu improvisieren.

Ein ähnliches Hindernisrennen muss sie durch den von vierzig Jahren Vetternwirtschaft geprägten Staats- und Verwaltungsapparat vollführen. Die Minister und vierzehn „chavistische“ Gouverneure können sich in ihren Institutionen nur auf einige wenige hohe Beamte stützen. „Wir wollten keine Hexenjagd, wir machen die Veränderung mit den Leuten, die schon da sind, und die sind mehrheitlich Anhänger von AD und COPEI.“ Dieses Heer mittlerer Beamter und Angestellter bremst die Programme, sabotiert Projekte, paralysiert den Transfer der Ressourcen in die Gemeinden und Bezirke. „Solche Strukturen lassen sich nur ganz allmählich aufbrechen, wir können nicht alle nach Hause schicken“, meint in der brüllend heißen Stadt Puerto Ayacucho (Amazonas) der Generalsekretär der Landesregierung, Diogenes Palau, der vor genau denselben Problemen steht. „Das Ganze kann nur Schritt für Schritt gelingen.“

Um trotz solcher blockierenden Strukturen handlungsfähig zu sein, muss sich Chávez auf zwei Pfeiler stützen: die Armee, der er entstammt, und die nicht organisierte Bevölkerung, die ihm zur Macht verholfen hat. Als er im April 2001 zur Bildung von „einer Million Bolivarischer Zirkel“ aufrief, die ihn und seine Politik unterstützen sollten, reagierten zehntausende von Venezolanern – in den Straßen, den Vierteln, den Slums – mit Begeisterung. In Gruppen von sieben bis fünfzehn Leuten diskutieren sie nun, was die Zukunft bringen, wie ihr Leben aussehen soll und welches die dringlichsten Bedürfnisse sind, die sie sogleich bei den zuständigen Behörden vorbringen. „So können wir erreichen, dass die Mittel an der richtigen Stelle ankommen“, heißt es bei der Koordinationsstelle für die Bolivarischen Zirkel in der Gemeinde Sucre im Osten von Caracas, „während zuvor eine Minderheit von Politikern nach eigenem Gutdünken das Schicksal der Gemeinde bestimmt hat.“

Legen diese Gruppen Projektentwürfe vor, so erhalten sie von der Regierung die nötigen Geldmittel über die entsprechenden Institutionen – Bank des Volkes, Bank der Frauen, Entwicklungsfonds für Kleinstunternehmen, Regierungsfonds für Dezentralisierung usw. Die Opposition bezeichnet diese Zirkel als „Stoßtrupps“ zur Durchsetzung eines totalitären Regimes, als „Taliban“-Nester, die zählebigen Gerüchten zufolge von der Regierung bis an die Zähne bewaffnet werden. Die Beteiligten können da nur die Achseln zucken: „Sehen Sie doch, hier gibt es nur friedliche Menschen, die zum Wohl der Gemeinschaft aktiv sind.“ Es gibt aber auch ein paar militante Radikale: „Wir wollen Tacheles reden. Die Männer und Frauen, die diesen Prozess unterstützen, werden ihn entschieden verteidigen. Mit friedlichen Mitteln. Aber wenn nötig auch anders.“

Endgültig verärgert zeigten sich die mit der Verfolgung ihrer eigenen Interessen beschäftigten escuálidos, als Chávez am 13. November 2001 die Revolution radikalisieren wollte und drei neue Gesetze – zur Bodenreform, der Erdölförderung und zu den Fischfangrechten – unterzeichnete. Am 10. Dezember rief der Unternehmerverband Fedecámaras unter Führung seines Vorsitzenden Pedro Carmona aus Protest gegen die „Einschränkung der Marktfreiheit“ zum Generalstreik auf. Unterstützt wurde dieser Aufruf von den Medien und der Confederación de Trabajadores de Venezuela (CTV). Die Gewerkschaft gilt als ausgesprochen korrupt. Als verlängerter Arm der AD haben einige ihrer Bosse jahrelang Gelder dafür kassiert, dass sie Tarifverträge gegen die Interessen der eigenen Mitglieder wie der Arbeiterschaft insgesamt vereinbarten. Im vergangenen Jahr ließ die Regierung die Gewerkschaftsführungen neu wählen. Nach der gewalttätigen und von Unregelmäßigkeiten geprägten Abstimmung, die die Chavisten verloren, erklärte sich der bisherige CTV-Generalsekretär und Sozialdemokrat Carlos Ortega am 25. Oktober zum Wahlsieger. Doch die Regierung spricht ihm jede Legitimation ab.

Am 5. März 2002 reichte dieser Arbeiterführer dem Chef des Unternehmerverbands die Hand, und die beiden unterzeichneten, in Gegenwart von Vertretern der katholischen Kirche, einen Pakt: Ziel ist die „verfassungsmäßige und demokratische Ablösung“ des Präsidenten.

Die vier Interessengruppen dieses Pakts – Fedecámaras, CTV, Kirche und Mittelschichten –, zu denen noch die Medien als politischer Machtfaktor kommen, verfolgen kein Programm und keine konkreten Projekte. Aber sie haben mit einer zynischen Geste die Mehrheit, die noch immer den Staatschef unterstützt, beiseite gewischt und sich zur „Zivilgesellschaft“ ausgerufen. Tatsächlich versuchen sie, künstlich eine Situation der Unregierbarkeit herbeizuführen. Diese totalitäre Intoleranz bringt eine Bevölkerung in Rage, die „ihre“ Revolution verteidigen will: „Sie schließen uns aus und behaupten, sie allein würden die Zivilgesellschaft verkörpern. Na schön. Aber wir, wir sind das Volk! Und wenn aus irgendeinem Grund die verfassungsmäßige Legalität durch diese Destabilisierungskampagne in Frage gestellt wird, dann werden wir sie mit unserem Blut, mit unserem Leben verteidigen!“

Die wohl dosierte Abfolge von flammenden Aufrufen und Protestmärschen der Opposition – gefolgt von noch massiveren Gegendemonstrationen der Regierungsanhänger – und zuletzt das Auftreten von vier hohen Militärs, die sich öffentlich gegen den Präsidenten stellten4 , brachten die Regierung nicht in Gefahr. Aber als die wirtschaftliche Destabilisierung hinzukam, erreichten die Spannungen ihren Gipfel. 50 Prozent der Staatseinnahmen stammen aus dem Erdöl, das 70 Prozent der Exporte ausmacht. Die Attentate vom 11. September 2001 hatten die Preise einbrechen lassen. Daraufhin reiste Chávez nach Europa, Algerien, Libyen, Saudi-Arabien, Russland, in den Iran und sogar in den Irak: Seinem und dem Einsatz des venezolanischen Opec-Generalsekretärs Alí Rodríguez ist es zuzuschreiben, dass die Produktion weltweit zurückgefahren und damit der Ölpreis stabilisiert wurde.

Die Ölgesellschaft PDVSA, deren einziger Aktionär der Staat ist, wurde bis vor kurzem von einer Gruppe von vierzig Managern geleitet. Diese „Erdölgeneräle“ hatten die unumschränkte Macht, setzten ihre Politik durch, begünstigten ausländische Interessen und verstießen mit Produktionssteigerungen gegen die Opec-Vereinbarungen. Sie verkauften mit Verlust, schwächten das Unternehmen und betrieben aktiv dessen Privatisierung. Die Regierung versucht, um die PDVSA wieder zu einem gesellschaftlich nutzbringenden Unternehmen zu machen, die Kontrolle über diesen strategischen Sektor via Besteuerung zurückzugewinnen. Während vor etwa zwanzig Jahren noch 75 Prozent der Gewinne in die Staatskassen flossen (und 25 Prozent bei der Aktiengesellschaft verblieben), kamen zuletzt 70 Prozent der Firma und nur noch 30 Prozent dem Fiskus zugute. Chávez ernannte einen neuen Vorstand und berief Gastón Parra zum neuen Präsidenten. Daraufhin forderten die Technokraten im Namen der effektiven Unternehmensführung, der leistungsorientierten Aufstiegschancen, der Produktivität und der Rentabilität, das Prinzip der „Meritokratie“ durchzusetzen, in dessen Namen sie das neue Führungspersonal ablehnten und zum Widerstand gegen die von der Regierung aufgezwungene „Politisierung“ aufriefen.

Überall auf der Welt ernennt der staatliche Aktionär die Führungsspitze der Staatsbetriebe und macht ihr seine Vorgaben – und so haben es auch alle venezolanischen Vorgängerregierungen gehalten. Im Übrigen konnten die aufsässigen Manager schon deshalb nicht zum Streik aufrufen, weil sie als höhere Angestellte auf so genannten Vertrauenspositionen sitzen. Und so warf sich denn die so genannte Zivilgesellschaft für sie in die Bresche. Angeheizt von den Tiraden in Radio, Fernsehen und Printmedien, drängte sie darauf, das ökonomische Herzstück des Landes lahm zu legen. Was freilich nur partiell gelang, weil ein großer Teil der Arbeiterschaft bei dem Streik nicht mitmachte.

Im Hintergrund liefen derweil ständige Scharmützel zwischen Caracas und Washington, wo die Bush-Regierung ihre verbalen Nadelstiche gegen den „bolivarischen“ Präsidenten immer weiter verstärkte. Sein mangelndes Engagement im „Antiterrorkampf“, seine Unterstützung der kolumbianischen Guerilla, das Militärabkommen, das er mit China und Russland unterzeichnet hat, seinen Antiglobalisierungskurs und seine „Revolution“ – all das führte in Washington zu Zähneknirschen und Verbitterung. Am 6. Februar 2002 bezweifelte der US-Außenminister Colin Powell vor dem Senat, dass „Chávez wirklich an die Demokratie glaubt“, und kritisierte die Besuche des venezolanischen Staatschefs „bei US-feindlichen Machthabern, die wie Saddam Hussein und Muammar al-Gaddafi im Verdacht stehen, den Terrorismus zu unterstützen“.5

Washington bereitet die unruhige Lage in Venezuela, seinem drittgrößten Erdöllieferanten, einerseits erhebliche Sorge, doch andererseits fürchtet man, die Ausfuhr könne zum Erliegen kommen, wenn das Land unregierbar wird. Deshalb versucht man, wenigstens offiziell, die Situation nicht noch weiter anzuheizen. Dennoch machte Alfredo Peña, der erbitterte Chávez-Gegner und Bürgermeister von Caracas, am 25. März einen diskreten Besuch in Washington, wo er US-Regierungsvertreter traf und auch den höchst umstrittenen Otto Reich, Unterstaatssekretär für inneramerikanische Angelegenheiten, aufsuchte.6 Einige Zeit später fanden sich in Reichs Büro auch Fedecámaras-Präsident Pedro Carmona und Manuel Cova ein, der stellvertretende CTV-Generalsekretär, der außerdem das International Republican Institute besuchte (diese Gesprächspartner sind allesamt dafür berühmt, dass sie stets die Interessen der Arbeiter vertreten!).

Venezuela könnte das Schicksal von Chile blühen, gäbe es nicht einen wichtigen Unterschied zwischen beiden Ländern: die Armee, von der Präsident Chávez behauptet, er kenne sie wie seine Westentasche. Er kontrolliert sie mit Hilfe seiner Kameraden von der Militärakademie, die 1975 mit ihm den Abschluss („promoción Simón Bolívar II“) gemacht haben. Dennoch tauchen mitunter Zweifel auf. So hat der Oberbefehlshaber des US-Kommandos Süd (Southcom) vor kurzem erklärt: „Aus keinem Land studieren so viele Offiziere an unseren Akademien wie aus Venezuela, und deshalb können wir uns auf dieses Land verlassen.“

Francisco Ameliach, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses des Parlaments, sagte am 14. März über die vier Offiziere, die sich kurz zuvor gegen den Präsidenten gestellt haben: „Wenn ein Offizier mit seiner Meinung an die Öffentlichkeit geht, bedeutet dies, dass die Armee nicht hinter ihm steht. Wir haben konspiriert (Ameliach war am Putsch von Chávez beteiligt; Anm. d. Verf.) und wissen, dass ein Oberst, der in eine solche Operation verwickelt ist, das nicht öffentlich ausposaunt.“

Der landesweite Streik am 9. und 10. April, zu dem die Gewerkschaft CTV und der Unternehmerverband Fedecámaras zur Verteidigung von PDVSA aufrief, nachdem die Regierung sieben Manager entlassen und zwölf in den vorzeitigen Ruhestand versetzt hatte, war auf nationaler Ebene nur ein relativer Erfolg.

Nachdem sie die Flucht nach vorn angetreten hatte (oder aber einen vorgefassten Plan nicht mehr stoppen konnte), ging die Opposition noch einen Schritt weiter und rief für den 11. April zum unbegrenzten Generalstreik auf, unter dem Vorwand, die Regierung werde den Notstand ausrufen (was diese gar nicht vorhatte). Beunruhigenderweise traten auch die Militärdissidenten wieder in Erscheinung, und zwar in Gestalt des im Dezember 2001 entlassenen Generals Néstor González. Im Fernsehen beschuldigte er Präsident Chávez des Hochverrats und forderte das Eingreifen des Oberkommandos der Streitkräfte.

Der Morgen des 11. April begann mit einem Demonstrationszug von 300 000 Chávez-Gegnern, die friedlich zum Unternehmenssitz von PDVSA-Chuao zogen, der im Osten der Hauptstadt liegt. Um sich als „Zivilgesellschaft“ zu präsentieren, die sich der Diktatur entgegenstellt, wäre nichts geeigneter gewesen als ein paar „Märtyrer“. Um 13 Uhr erschien Präsidialminister Rafael Vargas kreidebleich im Büro seiner Mitarbeiter: „In den übrigen Landesteilen ist es friedlich, aber Carlos Ortega hat soeben über das Fernsehen zum Marsch auf den Miraflores-Palast aufgerufen. Dies ist eine Verschwörung.“

Um 13.40 Uhr griffen untergeordnete Beamte im Präsidentensitz unwissentlich den Ereignissen vor, als sie berichteten: „Sie bewegen sich über die Autobahn … Wir müssen sie demonstrieren lassen, aber wir müssen sie stoppen, bevor sie hierher kommen. Sonst greifen die Bolivarischen Zirkel ein, und dann kommt es zur Katastrophe.“

Männer in Uniform kennen sich eben aus mit machiavellistischen Techniken. Das Oberkommando der Nationalgarde ordnete keinerlei Maßnahmen an, um das Unvermeidliche zu verhindern. Die Opposition rückte bis auf hundert Meter an den Miraflores-Palast heran, desgleichen zehntausende von „Chavisten“, die, zum Teil mit Stöcken und Steinen bewaffnet, gekommen sind, um den Präsidenten mit ihren eigenen Leibern zu schützen. Um einen Zusammenstoß zu verhindern, schieben sich gerade einmal fünfzehn Nationalgardisten zwischen die beiden Gruppen. Der größte von ihnen wendet sich – eine surreale Szene – an die Pressefotografen und bittet mit verängstigter Stimme: „Würde mir jemand ein Mobiltelefon leihen, damit ich Verstärkung anfordern kann?“ Durch den Einsatz von Tränengas bekommen seine Männer die Situation in den Griff.

Später hat man für die 15 Toten und 350 Verletzten (darunter 157 durch Schusswaffen) dieses Tages die Bolivarischen Zirkel verantwortlich gemacht: Deren Mitglieder hätten kaltblütig auf friedliche Demonstranten geschossen. Das ist unwahr. In Wirklichkeit begann es damit, dass von den Dächern der über zehngeschossigen Häuser herab mysteriöse Heckenschützen die ersten vier Opfer aus den Reihen der Gegendemonstranten erschossen. Danach, als die Stimmung überkochte, zielten sie mit tödlicher Präzision auf die Oppositionellen.

Das Ergebnis war ein allgemeines Chaos ohne klare Fronten. Nahe der U-Bahn-Station El Silencio schoss ein Trupp der Nationalgarde mit Tränengas, aber auch mit scharfer Munition und gezielt auf Steinewerfer der „Zivilgesellschaft“. Manche Einheiten der Stadtpolizei des antichavistischen Bürgermeisters Alfredo Peña schossen auf ungefähr alles, was sich bewegte; andere hingegen verhielten sich korrekt.

Die Präsidentengarde soll nach Zeitungsberichten „drei Heckenschützen verhaftet haben, darunter zwei Polizisten aus Chacao [einem östlichen Stadtteil von Caracas; Anm. d. Verf.] und einen Beamten der städtischen Polizei“7 . Noch in der Hitze der Auseinandersetzungen berichtete ein junger Mann ganz benommen: „Wir haben zwei gesehen, sie trugen Uniform.“ Am nächsten Tag erklärte der aufständische Vizeadmiral Vicente Ramírez Pérez im Fernsehkanal Venevisión: „Wir haben alle Telefonanrufe des Präsidenten bei den Kommandeuren der Einheiten überwacht. Wir haben uns um 10 Uhr vormittags getroffen, um die Operation zu planen.“ Welche Operation? Um diese Uhrzeit hatte der Demonstrationszug offiziell den Weg zum Präsidentenpalais noch gar nicht eingeschlagen.

Doch man hatte das angestrebte Ziel erreicht. Um 18 Uhr gab General Efraín Vasquez Velasco „erschüttert von der Zahl der Opfer“ bekannt, dass die Armee dem Präsidenten Chávez nicht mehr gehorchen werde. Wenige Stunden zuvor hatte nahezu die gesamte Führung der Nationalgarde dieselbe Entscheidung getroffen. Um 3.15 Uhr am nächsten Morgen verlas General Lucas Rincón ein letztes Kommuniqué: „Angesichts der Ereignisse wurde der Präsident der Republik ersucht, seinen Rücktritt einzureichen. Er hat zugestimmt.“ Diese Nachricht wurde von da an 36 Stunden lang alle zwanzig Minuten über das Fernsehen verbreitet.

Am 12. April löste der neu ernannte Präsident, der Unternehmerverbandsvorsitzende Carmona, das Parlament und alle gewählten Gremien auf und entließ alle demokratisch gewählten Gouverneure und Bürgermeister. Der Sprecher des Weißen Hauses, Ari Fleisher, beglückwünschte die venezolanische Armee und Polizei zu „ihrer Weigerung, auf friedliche Demonstranten zu schießen“, und kam ohne weitere Untersuchung zu dem Schluss: „Sympathisanten von Chávez haben auf diese Leute geschossen, was rasch zu einer Situation führte, die ihn zum Rücktritt veranlasste.“ Während die Organisation Amerikanischer Staaten eine Resolution vorbereitete, die den Putsch verurteilte, schickten sich in Caracas die Botschafter der Vereinigten Staaten und Spaniens an, dem neuen und mit allen Vollmachten ausgestatteten De-facto-Präsidenten ihre Aufwartung zu machen.

Gleichzeitig lief im ganzen Land, das seit drei Jahren keinen politischen Mord, keine Verschwundenen und keine politischen Gefangenen mehr kannte,8 die Repressionsmaschinerie an. Sie richtete sich gegen Minister, Abgeordnete und politische Aktivisten; dutzende Büros und Wohnungen wurden durchsucht, 120 „Chavisten“ ins Gefängnis geworfen. Mit breitem Lächeln erläuterte Oberst Julio Rodríguez Salas sein politisches Eingreifen gegenüber der Journalistin Ibeyssa Pacheco von Venevisión: „Wir hatten eine starke Waffe – die Medien! Und weil sich gerade die Gelegenheit bietet, möchte ich Ihnen dazu gratulieren.“ Im Namen der Demokratie hatte die „Zivilgesellschaft“ eine Diktatur errichtet. Die Demokratie wiederherzustellen wurde damit zur Aufgabe des Volkes.

Die Fortsetzung ist bekannt. Chávez war nicht von seinem Amt zurückgetreten; aber er ließ sich widerstandslos verhaften, um ein Blutbad zu vermeiden. Am 13. April besetzten seine Anhänger zu hunderttausenden überall im Lande die Straßen und Plätze. Am Nachmittag eroberte die Präsidentengarde Miraflores zurück und half einigen Ministern, ihre Büros wieder zu beziehen. Nach dem Beispiel des Kommandeurs der 42. Fallschirmjägerbrigade von Maracay, General Raúl Baduel, übernahmen verfassungstreue Militärs die Kontrolle über sämtliche Garnisonen. Das zerstrittene Oberkommando hatte keine klare Linie. Es fürchtete unkontrollierbare Reaktionen der Bevölkerung und Auseinandersetzungen innerhalb des Militärs. In der Nacht kehrte der verfassungsmäßige Präsident der Bolivarischen Republik Venezuela zurück.

Die Opposition hat aus den tragischen Ereignissen offenbar keine Lehre gezogen; bereits einige Tage später begann sie erneut, Druck auf die Regierung auszuüben. Eine prochavistische Aktivistin zog nach den Umwälzungen der letzten drei Jahre folgende Bilanz: „Die sollen sich keine Illusionen machen. Ob mit oder ohne Chávez, Venezuela wird nie mehr sein wie zuvor.“

dt. Passet/Petschner

* In Kürze erscheint: „Amérique centrale. Les naufragés d‘Esquipulas“, Nantes (L‘Atalante), 26 Euro.

Fußnoten: 1 Siehe Ignacio Ramonet, „Chávez“, Le Monde diplomatique, Oktober 1999, und Pablo Aiquel, „Was meint Hugo Chávez mit Bolivarismus?“, Le Monde diplomatique, November 2000. 2 Datanálisis, in El Universal, Caracas, 14. März 2002. 3 Die PPT scherte aus der Koalition aus, ging aber keine Allianz mit der Opposition ein. Inzwischen hat sie sich Chávez wieder angeschlossen. Auch ein Teil des MAS hat ihm die Treue nicht aufgekündigt. 4 Oberst Pedro Soto, Konteradmiral Carlos Molina, Hauptmann Pedro Flores und Major Hugo Sanchéz. 5 Miami Herald, 7. Februar 2002. 6 Reich war in den Achtzigerjahren in die Iran-Contra-Affäre verwickelt und eng mit der amerikanischen Kubaner-Lobby liiert; seine Ernennung wurde lange Zeit vom Kongress blockiert. 7 El Nacional, Caracas, 13. April. 8 Der Jahresbericht von amnesty international 2001 über Venezuela spricht hingegen von zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, darunter Folter, Morde und verschwundene Personen. Siehe: www.web.amnesty.org/web/ar2001.nsf/webamrcountries/VENEZUELA.

Le Monde diplomatique vom 17.05.2002, von MAURICE LEMOINE