Johannes Paul II. als Restaurator der Weltkirche
IM Laufe seiner 96. Reise, die ihn nach Aserbaidschan und Bulgarien führte, ist deutlich geworden, wie sehr sich der Gesundheitszustand von Papst Johannes Paul II. verschlechtert hat. Zwei Kardinäle haben sich sogar für seinen Rücktritt ausgesprochen. Nach kanonischem Recht ist ein Papst auf Lebenszeit gewählt, hat aber das Recht abzudanken – eine Möglichkeit, die 1965 von Papst Paul VI. in Erwägung gezogen wurde. Es ist nun an der Zeit, eine erste Bilanz dieses Pontifikats zu ziehen, das bei aller Widersprüchlichkeit vor allem als Projekt einer restaurierten Glaubens- und Sittenlehre verstanden werden muss.
Von FRANÇOIS HOUTARD *
Das Bild eines alten, müden, kranken Mannes, der gleichwohl ein aufreibendes Amt bewältigt, weckt Respekt, Sympathie oder Mitleid. Die Zuneigung, die ihm die Massen in zahlreichen Ländern entgegenbringen, ist nach wie vor beeindruckend. Eine Persönlichkeit, die über ein breites Wissen verfügt, zahlreiche Sprachen beherrscht und in sich Sportsgeist, eisernen Willen, tiefe Spiritualität, große Überzeugungskraft und freundschaftliche Treue vereint, muss Bewunderung wecken. Eine Bilanz verlangt jedoch nach anderen Kriterien, einer anderen Art von Analyse.
Das Pontifikat von Papst Johannes Paul II. in seinen Grundzügen nachzuzeichnen ist kein leichtes Unterfangen nach fast fünfundzwanzig Jahren, mit fast hundert Auslandsreisen, einem Dutzend Enzykliken, unzähligen Reden und Treffen mit wichtigen Persönlichkeiten und einigen hundert Selig- und Heiligsprechungen. Und das alles in einer Epoche, in der zu erleben war, wie sich mit dem „Washington consensus“1 die Weltwirtschaft in Richtung Neoliberalismus orientierte, die Berliner Mauer fiel; ganz zu schweigen von dem Terroranschlag gegen die USA und den Kriegen, durch die der Einfluss des global dominierenden Systems noch verstärkt wurde.
Als Johannes Paul II. an die Spitze der katholischen Kirche gelangte, gab er sich einen doppelten Auftrag: Die Konsolidierung der durch das Zweite Vatikanische Konzil erschütterten Kirche einerseits und die Stärkung ihrer Stellung innerhalb der Gesellschaft andererseits, damit sie ihr Evangelisierungswerk erfüllen konnte.
Kardinal Karol Wojtyla hatte selbst aktiv am Zweiten Vatikanischen Konzil2 mitgewirkt und als Anhänger einer Modernisierung der katholischen Kirche die von der Bischofskonferenz verabschiedeten Reformen unterstützt. Dennoch beobachtete er von seiner Heimat Polen aus mit Sorge, wie sich die Kirche im Gefolge des Konzils von Grund auf reformierte und dabei interne Konflikte und Verletzungen erlebte. Er stand dem Opus Dei3 nahe, das ihn auf mehreren seiner Auslandsreisen beherbergt hatte, und manche modischen Übertreibungen – wie die Einbeziehung von profanen Gesängen in den Gottesdienst – wie auch zahlreiche konkrete Umsetzungen von Konzilsentscheidungen erregten seine Missbilligung. Die Zugehörigkeit zum polnischen Katholizismus mit seinen soliden, aber oft recht schlichten Überzeugungen, seiner durch den Marienkult geprägte Spiritualität, seiner rigider Moral, seiner kulturellen Hegemonialstellung innerhalb der polnischen Gesellschaft sowie seiner nationalen Integrationsfunktion und Vorreiterrolle im Widerstand gegen den Kommunismus bestärkten ihn darin. Der erste polnische Papst der Geschichte trat für eine Restauration von Institution, Lehre und Moraltheologie der katholischen Kirche ein.4
Im Bereich der katholischen Lehre sind nahezu alle Themen von ihm selbst oder den Organen des Heiligen Stuhls behandelt worden: der Glaube, die Machtbefugnis oder Autorität der kirchlichen Hierarchie in Fragen der Glaubenslehre, die kollegiale Einheit der Bischöfe für das Funktionieren der weltumspannenden Kirche, die Liturgie, das Priesteramt, die Rolle der Frauen in der Kirche, die katholische Soziallehre, die Ökumene (also das Verhältnis der christlichen Kirchen untereinander) sowie das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen … Dabei stehen interessante Klarstellungen neben Warnungen, doktrinären Hinweisen und sogar ausdrücklichen Verurteilungen. Statt den schwierigen Reformprozess seelsorgerisch zu begleiten und es der Kirche damit zu erleichtern, der Botschaft des Evangeliums in einer komplexen Welt Gehör zu verschaffen, hat er oft die Notbremse gezogen und zunehmend engstirnige Disziplinarmaßnahmen verhängt.
So wurden die in einigen asiatischen Landeskirchen unternommenen liturgischen Veränderungen zum Zweck einer besseren Akkulturation des christlichen Glaubens gestoppt. Das Dokument „Dominus Jesus“, das sich mit der Rolle Jesu als Welterlöser beschäftigt, setzte dem Versuch ein Ende, die Beziehung zu den anderen großen Religionen des Orients zu überdenken: Von Politikern und Religionsvertretern in Asien wurde sie als eine Rechtfertigung der Proselytenmacherei in Gesellschaften interpretiert, die noch um ihre kulturelle Identität ringen. Etliche Theologen wurden verurteilt, erhielten Veröffentlichungs- und Lehrverbote; einer von ihnen, Tissa Balasuriya aus Sri Lanka, wurde wegen eines allzu ambivalenten Buches über die Jungfräulichkeit Marias und die Erbsünde gar exkommuniziert.
Sicher gab es hinsichtlich des Verhältnisses zu den anderen christlichen Konfessionen und den übrigen Religionen einige beeindruckende Manifestationen – wie die Treffen von Assisi 1986 und 2002, das Fasten am letzten Tag des Ramadan 2001 etc. Aber die doktrinäre Unnachgiebigkeit und die Hürden für eine stärkere institutionelle Zusammenarbeit, vor allem mit dem ökumenischen Rat der Kirchen, setzten gewissen Vorstößen unüberwindliche Grenzen. Die Entschuldigungen für Verfehlungen von Mitgliedern der katholischen Kirche – zur Zeit der Kreuzzüge, im Rahmen der Inquisition oder auch für rassistisches oder antisemitisches Verhalten – ließen die Verantwortung der Institution Kirche unberührt.5
Die kollegiale Einheit der Bischöfe, eine der Errungenschaften des Zweiten Vatikanischen Konzils, wurde von Johannes Paul II. wieder der römischen Autorität untergeordnet. Die General- oder Kontinentalsynoden gerieten vielfach zu Anhörungen der päpstlichen Generallinie oder erfüllten nur eine folgenlose Ventilfunktion. Jede Abschlusserklärung musste vor ihrer Veröffentlichung vom Papst abgesegnet werden – und wurde in mehreren Fällen abgewandelt.6
Insbesondere die Befreiungstheologie geriet in die Schusslinie. Ihre Ursprünge liegen in Lateinamerika, doch fand sie bald auch Anhänger in Afrika (vor allem unter protestantischen Theologen), in Asien, in Indien, auf den Philippinen und in Südkorea. Sie ist wie jede Theologie eine Reflexion über Gott, setzte dabei jedoch an bei der Situation der Armen und Unterdrückten; so unterstrich sie ihren kontextuellen Charakter, was andere Strömungen grundsätzlich ablehnen.
Die im Geiste des Evangeliums geschaffene Befreiungstheologie forderte angesichts der heutigen Komplexität sozialer Gegebenheiten eine Gesellschaftsanalyse als soliden Ausgangspunkt. Der gefundene Ansatz aber ging über den Bereich der Sozialethik weit hinaus. Mit den Augen der Ausgebeuteten entdeckte sie die Bedeutung der Person Jesu neu, indem sie ihn in den historischen Kontext des damaligen Palästinas stellte. Ihre neuen spirituellen und liturgischen Ausdrucksformen trugen dem Leben der Armen Rechnung, und ihr kritischer Blick richtete sich dagegen, dass die Kirche allzu oft mit den Mächten der Unterdrückung unter einer Decke steckte. Sie sprach von Befreiung im Hier und Jetzt als Ausdruck der Liebe Gottes zu seinem Volk. Kurz, sie war gefährlich für die soziale wie für die kirchliche Ordnung.
Rom reagierte ausgesprochen harsch. Es fiel nicht schwer, diese theologische Richtung, die sich auf die Existenz von Klassenstrukturen gründete, des Marxismus zu bezichtigen. Eine solche Perspektive, sagte Kardinal Joseph Ratzinger, Präfekt der Kongregation für Glaubenslehre, führe auf direktem Weg zum Atheismus. Zahlreiche Theologen erhielten in der Folge Lehr- und Veröffentlichungsverbot. Die Ausbildungszentren bekamen Anweisung, das Thema Befreiungstheologie konsequent aus dem Lehrplan zu verbannen.
Ungezügelte Praktiken
DOCH an ökumenischen Forschungs- und Ausbildungszentren sowie an nicht konfessionell gebundenen Universitäten lebte sie fort. Johannes Paul II. persönlich erklärte auf seiner Nicaraguareise 1996, nach dem Ende des Marxismus habe auch die Befreiungstheologie keine Existenzberechtigung mehr.
Bekannt ist die kompromisslose Haltung des Papstes in moralischen Fragen: der Schutz des – auch ungeborenen – Lebens, die radikale Ablehnung von Abtreibung, Empfängnisverhütung, Scheidung, Euthanasie – und: der Todesstrafe. Zweifellos stellen der wissenschaftliche Positivismus, die wirtschaftlichen Mächte, die zum Genozid führen, und der Relativismus einer bestimmten Spielart postmodernen Denkens eine Gefahr für das Leben dar.
Doch die päpstliche Weigerung, die konkreten sozialen und psychologischen Bedingungen des menschlichen Daseins zur Kenntnis zu nehmen, sein Festhalten an einer durch moderne Erkenntnisse längst überholten Naturphilosophie sowie die dramatischen Folgen gewisser dogmatischer Positionen wie im Fall von Aids in Afrika – all das hat dazu geführt, dass die katholische Kirche erheblich an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat.
Zur katholischen Soziallehre hat Johannes Paul II. unzählige Schriften verfasst, in denen er in ausgesprochen scharfer Form unter Berufung auf das Evangelium die Auswüchse und Missstände des Kapitalismus angeprangert hat; auf seiner Kubareise wandte er sich strikt gegen den Neoliberalismus und dessen perverse Auswirkungen. Während er aber in der Enzyklika „Centesimus Annus“ den Sozialismus von Grund auf ablehnte, mit der Begründung, es handele sich um eine atheistische Doktrin, brandmarkte er in Sachen Kapitalismus lediglich dessen ungezügelte Praktiken, und nicht dessen innere Logik. In ihrer Bezugnahme auf eine „soziale Marktwirtschaft“ unterschlägt die Schrift jeden Hinweis darauf, dass die im Rahmen dieses Modells agierenden Wirtschaftsvertreter besagte „ungezügelten Praktiken“ ausgerechnet im Süden und in Osteuropa anwenden. Folgerichtig münden die häufigen und eindringlichen Appelle an eine „Globalisierung der Solidarität“ gerade nicht in eine Kritik der tieferen Ursachen von Armut und Ungleichheit. Eines der Instrumente zur Entwicklung und Verbreitung seiner Soziallehre ist übrigens die vom Zweiten Vatikanischen Konzil eingesetzte Kommission „Frieden und Gerechtigkeit“: Mit der Ernennung von Michel Camdessus, dem ehemaligen Chef des Weltwährungsfonds, zum Berater dieses Gremiums dürfte sich jede Hoffnung zerschlagen haben, dass die Kommission sich zum Anwalt der Armen und Unterdrückten machen könnte.
Für die Durchführung seines zentralen Projekts, der Restauration der Sitten- wie der Glaubenslehre, bedurfte Johannes Paul II. einer tragfähigen Institution. Auf dieses Ziel war seine Politik der Bischofsernennungen ausgerichtet. In etlichen Diözesen gingen die neuen Bischöfe auf Anregung des Heiligen Stuhls dazu über, Ausbildungseinrichtungen zu kontrollieren, die seelsorgerische Arbeit ihrer Vorgänger über den Haufen zu werfen und konservativen katholischen Organisationen oder Glaubenskongregationen Einfluss zu verschaffen. Der Rat der lateinamerikanischen Bischofskonferenz (Celam), 1968 noch Speerspitze der Reformen und Organisator der Konferenz von Medellín zur Umsetzung des Zweiten Vatikanischen Konzils auf dem Kontinent, verwandelte sich nach und nach in ein Werkzeug der Restauration. Neuernennungen dienten dazu, den Bischofskonferenzen eine andere Ausrichtung zu geben. Hunderte von Diözesen in der ganzen Welt erlebten schmerzliche Eingriffe in die Seelsorge, die für jene Menschen, die an eine visionäre Kirche und eine menschlichere Institution geglaubt hatten, vielfach in Tragödien endeten. Nur einige Diözesen, die über eine ältere kirchliche Tradition verfügten oder größere Autonomie besaßen, vermochten die Flut konservativer Ernennungen zu stoppen.7
1982, vier Jahre nach der Wahl von Johannes Paul II, erhielt das Opus Dei den Status einer – der bischöflichen Rechtsprechung übergeordneten – Personalprälatur. Sein Gründer (Josémaría Escrivá) wurde 2002, nur siebenundzwanzig Jahre nach seinem Tod, heilig gesprochen. Etliche seiner Mitglieder wurden zu Bischöfen geweiht, vor allem in wichtigen Diözesen, einige erlangten die Kardinalswürde. Vor allem in der Zentralverwaltung der katholischen Kirche, der Kurie, machte sich der Einfluss des Opus Dei bemerkbar. Seine Mitglieder besetzen in zahlreichen Bereichen wichtige Posten und genießen interne „Förderungen“. Bei der Entscheidung darüber, wer der Nachfolger von Johannes Paul II. wird, könnte das „Werk Gottes“ (so die wörtliche Übersetzung) eine maßgebliche Rolle spielen.
Auch die römische Kurie wurde vom Papst gestärkt. Der Betrieb eines solchen Apparates erfordert Mittel, die von den Beiträgen der Gläubigen nicht bestritten werden könnten. Der Heilige Stuhl verfügt jedoch – dank der Lateranverträge – über ein gewaltiges Erbe, mit dem das faschistische Italien 1929 den Vatikan für den Verlust des Kirchenstaates entschädigte. Dieses enorme Immobilien- und Finanzkapital wirft hohe Einkünfte ab. Doch gab es unter dem gegenwärtigen Pontifikat in den Geldinstituten des Vatikans eine Reihe spektakulärer Skandale, darunter den um die Ambrosiano-Bank,8 der die katholische Kirche hunderte Millionen Dollar kostete. Dazu kamen jede Menge Affären, die sich kaum mit dem Geist des Evangeliums vertragen und von denen die Öffentlichkeit wenig weiß: Alle Ebenen der Macht – der Wirtschaft, der Politik, der Justiz und der Medien – sind sich darin einig, dass über diese Dingen Schweigen gewahrt werden soll, weil sie sonst um ihre eigene moralische Autorität fürchten müssten, die in ihren Augen die soziale Ordnung garantiert. Als Bischof von Rom hätte Johannes Paul II. mit fünfundsiebzig Jahren in den Ruhestand treten müssen, wozu seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil alle Bischöfe angehalten sind: Seine Weigerung stärkte die Macht einer immer konservativeren Verwaltung. Als neuer „Gefangener des Vatikans“ wird der Papst Opfer einer Kurie, deren führende, von ihm selbst ernannte Vertreter die Restauration so weit vorangetrieben haben, dass selbst aus gemäßigten Kreisen der Kirche wachsende Unmutsreaktionen kamen.
Die von Johannes Paul II. vorangetriebene „neue Evangelisierung“ ist im Wesentlichen durch zwei Richtungen geprägt: zum einen die des Opus Dei, das aus der Position der Stärke heraus evangelisieren und Spiritualität zu einem Zeichen sozialer Vornehmheit erheben will; zum anderen die Position diverser charismatischer Bewegungen, die den Akzent auf das Verhalten des Einzelnen legen und affektive Werte stark machen, im Allgemeinen aber wenig geneigt sind, eine soziale Dimension einzubeziehen. Kirchliche Basisgemeinden dagegen, wie sie in Lateinamerika entstanden und durch Selbstverwaltung und Interessenvertretung der Armen geprägt sind, wurden isoliert und in einigen Fällen sogar zerstört: Man versetzte die Priester, die ihnen zur Seite standen, untersagte ihnen den Zugang zu den Gemeinderäumen und schuf sogar gelegentlich unter gleichem Namen und unter dem Dach der Kirche neue Vereinigungen.
Den Laien wurde innerhalb der katholischen Kirche auf dem Papier zwar mehr Einfluss zugestanden, in Wirklichkeit jedoch hatten sie eine zunehmend subalterne Rolle zu spielen. Dazu ein empörendes Beispiel: Der Internationalen Christlichen Arbeiterjugend (ICAJ) wurde trotz der Unterstützung durch mehrere Bischofskonferenzen der Status als internationale christliche Organisation aberkannt, und wie aus dem Nichts wurde ein Konkurrenzverband geschaffen. Solche Tendenzen fügen sich in den gegenwärtigen Kontext kultureller Zersplitterung, wie man ihn in philosophischen Strömungen ebenso wie im Kunstschaffen und in der Glaubenspraxis beobachten kann: In all diesen Bereichen wird das Individuelle immer stärker betont. Paradoxerweise nämlich leben wir in einer Zeit, die zugleich geprägt ist von der Vorherrschaft des Marktes und einer autoritären Erstarrung an der Spitze der Institutionen.
Die zahlreichen Reisen von Johannes Paul II. in alle Welt zeugen zweifellos von einer ungewöhnlichen Energie. Sie fanden bei den Massen vieler Länder, besonders im Süden, aber auch – was nicht weiter verwunderlich ist – in Polen und allgemein in Kreisen seiner strenggläubigen Anhänger großen Anklang. Anstatt sich jedoch auf die Wirklichkeit der besuchten Länder und Orte einzulassen, ging es vor allem um die Verbreitung der Positionen Roms. Hinter dem „Event“ verblasste die eigentliche Botschaft. Die kollektiven Feierlichkeiten der Papstbesuche liefen am Ende meist auf eine Stärkung des konservativen Katholizismus hinaus. Die Restauration der katholischen Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil bestand für Johannes Paul II. also in einer neuen Festigung der Glaubenslehre, in einem umfassenden Moralkodex und in einer sich unanfechtbar wähnenden Autorität, die im Dienste eines im Kern konservativen, aber in der Form modernisierten Projektes stand. Eine solche Ausrichtung erschien ihm angesichts der feindseligen gesellschaftlichen Kräfte dringend geboten. Aus diesem Grund betrieb er das Verfahren zur Seligsprechung von Pius XII. („Der Stellvertreter“) – und auch der von Johannes XXIII., der diesen Status in der Meinung des Volkes schon längst besaß.
Zweifache Abwehr
IN „Gaudium et Spes“9 legte das Zweite Vatikanische Konzil fest, dass die Kirche ein geistiges Zentrum und keine Machtinstanz sein solle. Der Wille, die Freuden und Hoffnungen der Menschen zu teilen, verriet einen vielleicht unrealistischen Optimismus, war aber die Frucht einer Geisteshaltung. Doch der neue Papst übertrug sie sehr bald in eine doppelte Abwehrhaltung gegen die Feinde der christlichen Botschaft: gegen den atheistischen Kommunismus einerseits und gegen den westlichen Säkularismus andererseits.
Der traditionelle Kampf gegen den Kommunismus hatte durch die Proklamation des Atheismus als „Staatsreligion“, ganz konkret aber auch durch die Unterdrückung der Freiheit und Verfolgung der Religion in den Ostblockländern Auftrieb erhalten. Die polnische Erfahrung vor Augen, galt es für Johannes Paul II., die Katholiken zu mobilisieren, um den Kommunismus auszurotten. Im Innern der Kirche wurden mit der Verurteilung der Befreiungstheologie Zeichen gesetzt, nach außen hin unterstützte der Papst in kommunistischen Ländern den Aufbau einer Gegenmacht. Daher die Besuche in Polen, die eine religiöse Mobilisierung ebenso ermöglichten wie eine Unterstützung der Solidarność – einschließlich eines Finanzplans über den Banco Ambrosiano. In jenen Ländern, in denen der Kommunismus an die Macht zu gelangen drohte, sollten die Katholiken in eine gemeinsame Opposition eingebunden werden – folgerichtig kam es 1983 in Nicaragua zur Konfrontation mit den Sandinisten.
In seiner in Managua gehaltenen Predigt 1995 verurteilte der Papst die Iglesia Popular (Volkskirche) und den falschen Ökumenismus „der im revolutionären Prozess engagierten Christen“. Und er rief die Menschen dazu auf, sich unter dem Banner des als streng antisandinistisch bekannten Episkopats zusammenzuschließen. Erzbischof Miguel Obando y Bravo wurde im Anschluss an den Papstbesuch zum Kardinal ernannt. Diese Haltung des Papstes schuf tiefe Verwirrung unter jenen nicaraguanischen Christen, die gekommen waren, um gleichzeitig die eigene (sandinistische) Revolution und den Besuch des Papstes zu feiern.
Der Besuch auf Kuba (1998) ging in eine ähnliche Richtung. Auf der geistigen Landkarte von Johannes Paul II. war die Insel die letzte Bastion des Kommunismus im Westen, die jedoch kurz vor dem Aus stand. Ein aggressives Auftreten schien nicht mehr angebracht. Der Gesundheitszustand des Papstes ließ das auch kaum noch zu. In seinen Augen war die kubanische Revolution eine Parenthese innerhalb der Geschichte, er erwähnte sie mit keinem Wort: er betonte nur ihre – ausnahmslos negativen – Auswirkungen.
Bei seiner Rückkehr in Rom erklärte Johannes Paul II., sein Besuch werde ähnliche Wirkungen zeitigen wie sein Besuch zehn Jahre zuvor in Polen. Der Kampf gegen den Kommunismus verlangte nicht nur eine starke und disziplinierte Kirche, er erforderte auch wirtschaftliche und politische Bündnisse. Daher die Zusammenarbeit mit nordamerikanischen Kräften sowie mit den katholischen Organisationen in Rom und Europa, um offizielle wie inoffizielle Hilfsgelder an die polnische Oppositionsbewegung Solidarność weiterzuleiten. Daher auch die Nachsicht gegenüber rechten Diktaturen und Regimes wie in Chile, in Argentinien10 und auf den Philippinen. Die Architekten derartiger zweifelhafter Kontakte wurden von Johannes Paul II. an die Spitze wichtiger Organe des Heiligen Stuhls berufen. Daher letztlich auch die Intervention zugunsten von General Augusto Pinochet oder, auf symbolischer Ebene, die 1998 erfolgte Seligsprechung des umstrittenen Kardinals Stepinak, der im Zweiten Weltkrieg dem faschistischen Regime Kroatiens nahe stand.
Der zweite „Feind“ von Johannes Paul II. war der durch Relativismus, Konsumismus und Hedonismus gekennzeichnete westliche Säkularismus. Nachdrücklich erinnerte der Papst folglich an die Werte der Nächstenliebe, der Solidarität und der Mäßigung im Umgang mit materiellen Gütern. Aber einmal mehr tat er es in einem so doktrinären und moralisch rigiden Rahmen, dass die Botschaft weitgehend unverstanden und letztlich wirkungslos geblieben ist. Leider, denn die Menschheit heute verlangt nach Spiritualität, sie ist auf der Suche nach Sinn; und die sozialen Kämpfe verraten eine tiefe Sehnsucht nach Gerechtigkeit angesichts einer wirtschaftlich und kulturell verheerenden Globalisierung.
Eine weitere Sorge Johannes Paul II. galt dem Frieden in der Welt. Er war ein Gegner des Golfkriegs, warnte vor dem Kosovokrieg, äußerte Bedenken gegen den Afghanistankrieg. Und er forderte das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat. Ein Leitmotiv seines Pontifikats war der auf Gerechtigkeit in den Beziehungen gegründete Frieden unter den Völkern. Johannes Paul II. zeigte sich empfänglich für das Leid der Opfer, für Bevölkerungen, die den erstickenden Restriktionen von Embargos ausgesetzt waren: Er verurteilte die gegen den Irak und Kuba verhängten Embargos. All diese Positionen entspringen der Treue zum Evangelium.
Unglücklicherweise blieben die Appelle an christliche Werte meist abstrakt. Der Papst äußerte sich kaum je zu den wirklichen Gründen der Kriege und dazu, wie sie mit dem wirtschaftlichem Imperialismus zusammenhängen. Im Übrigen entspricht es der institutionellen Logik (der sozialen Abbildung der Kirche als Institution), dass sich an der faktischen Allianz zwischen dem Heiligen Stuhl und den westlichen Wirtschafts- und Staatsmächten nichts ändert – der pazifistische Diskurs freilich büßt dadurch einen Großteil seiner Glaubwürdigkeit ein.
Das bevorzugte Werkzeug des Heiligen Stuhls auf diesem Gebiet ist sein diplomatischer Dienst. Entgegen einer verbreiteten Meinung ist dieser keine Institution des Vatikans als Staat, sondern eine des Heiligen Stuhls, also der Kirche. Die von Johannes Paul II. stark erweiterte Behörde ist nicht nur die teuerste, sondern auch – gemessen am Geist des Evangeliums – die in sozialer Hinsicht kompromittierendste und symbolisch widersprüchlichste Einrichtung: und zwar als Insigne staatlicher Macht (Nuntiaturen sind Staaten vorbehalten) wie als Ausdruck des Reichtums (Nuntiaturen sind Botschaften gleichgestellt).
Kein Zweifel, Johannes Paul II., der sportliche Prälat und ehemalige Arbeiter bei Solvay in Krakau, der Theaterliebhaber und Moraltheologe der katholischen Universität von Lublin, der mystisch inspirierte Priester und Hirte aus den Karpaten, wird als ein Großer der heutigen Zeit in die Geschichte eingehen, als der Papst eines Vierteljahrhunderts, das die Menschheit von Grund auf verändert hat, als der Papst der Globalisierung.11 Aber mit dem Willen, eine starke Kirche in einer menschlicheren Welt zu schaffen, hat er letztlich eine Vielzahl vitaler Kräfte zerstört, die von einer prophetischen, heilsgeschichtlichen Vision geprägt und beflügelt waren.
Das spirituelle und moralische Licht, dessen Träger er sein wollte, geriet in den Hintergrund, an seine Stelle trat die politische Instanz. Die Zentralregierung der Kirche, die dem „Volk Gottes“ dienen sollte, wurde zu einem reaktionären Apparat, der de facto mit den Mächten der Unterdrückung im Bunde steht. Sein Appell für Frieden und Gerechtigkeit gewann nicht die prophetische Dimension, nach der die ungeheure, mehr und mehr globale Ausbeutung ruft, sondern wurde zu einer maßvollen Kritik. Er stützte sich nicht auf die Kraft des Symbols, sondern auf die der Autorität. Sicherlich hat Johannes Paul II. die Kirche gestärkt, aber welche Kirche? Sicherlich hat er ihren Platz in der Gesellschaft gefestigt, aber welchen Platz? Die Christenheit braucht einen Papst, sagt Harvey Cox, baptistischer Theologe und Professor in Harvard, aber, fügt er hinzu, als symbolische, nicht als Machtinstanz. Die Menschheit braucht Ermutigung und Hoffnung, und zwar auf der Grundlage von Analysen des Bestehenden und Projekten für die Zukunft. Die Bilanz des Pontifikats lässt diese doppelte Erwartung unbeantwortet. Dies bleibt die Herausforderung für den Nachfolger von Johannes Paul II.12 , der sich dazu auf die Hoffnung einer großen Anhängerschaft wird stützen können sowie auf die glücklicherweise immer noch überall auf der Welt vorhandenen vitalen Kräfte.
dt. Christian Hansen
* Direktor des Centre tricontinental und der Zeitschrift Alternatives Sud (Louvain-la-Neuve, Belgien).