14.06.2002

Europas geschlossene Märkte

zurück

Europas geschlossene Märkte

Von RAPHAEL TSHIMBULU NTAMBUE *

DAS am 23. Juni 2000 in der Hauptstadt von Benin unterzeichnete Cotonou-Abkommen1 ist von den meisten EU-Ländern noch immer nicht ratifiziert, obwohl es einen wichtigen Wendepunkt in der Zusammenarbeit zwischen der Union und den 77 AKP-Staaten aus Afrika, der Karibik und der Pazifikregion markiert. Zwar gibt es einige positive Neuregelungen wie Handelserleichterungen in den Bereichen Dienstleistungen, geistiges Eigentum, Hygiene, Umwelt und öffentliche Gesundheit. In zwei Kernpunkten jedoch scheint Kritik angebracht.

Zum einen wird davon ausgegangen, dass die Entwicklung Afrikas linear auf die Angleichung an EU-Verhältnisse zulaufe. Damit sind vier Entwicklungsetappen vorausgesetzt: schrittweise Abschaffung unilateraler Handelspräferenzen2 , Regionalisierung der Beziehungen zwischen Afrika und Europa, Öffnung des afrikanischen Marktes für europäische Waren und Dienstleistungen und schließlich Einbindung Afrikas in die Weltwirtschaft nach Maßgabe der WTO-Regeln.

Zweitens ist zu kritisieren, dass dem Cotonou-Abkommen eine ebenso negative wie einseitige Afrika-Wahrnehmung zugrunde liegt, die nur Verschwendung, Inkompetenz, allgemeine Korruption, mangelnde Rechtsstaatlichkeit, Armut und Rückständigkeit kennt.

Damit lässt sich bequem rechtfertigen, dass die EU-Hilfe künftig nicht mehr automatisch fließen soll, dass sie schärferen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen unterliegt und dass Finanzierungsbeihilfen bei Verstößen umgehend ausgesetzt werden.

Dieses Bild ist einseitig, weil es verschweigt, was Afrika zu bieten hat. Denken wir nur an den lokalen Sachverstand, der bei der Planung und Umsetzung von Entwicklungsprojekten nicht zu Rate gezogen wird, an die Nichtregierungsorganisationen, die anders als die NGOs der entwickelten Länder keine Finanzhilfe erhalten, an den informellen Wirtschaftssektor, in dem gut die Hälfte der Afrikaner ein Auskommen findet, an die zahllosen winzigen Start-up-Unternehmen, die ohne Bankkredite tausende von Arbeitsplätzen schaffen, und an die regionalen Zusammenschlüsse in Wirtschaft und Politik, die immer nach Intervention ausländischer Interessengruppen auseinander brechen.

Das Cotonou-Abkommen begründet im Übrigen einen Teufelskreis: Um weiterhin EU-Hilfe zu erhalten, müssen die afrikanischen Länder nicht nur einen ganzen Katalog von Empfehlungen umsetzen, sondern auch wirtschaftliche und politische Leistungen erbringen, deren Realisierung eben solche Finanzhilfen voraussetzt.

Was Entwicklungszusammenarbeit zu allererst bewerkstelligen sollte – weniger Armut, höhere Effektivität makroökonomischer und sektorieller Maßnahmen3 , effizientere Ressourcennutzung und institutionelle Reformen –, wird in den Kriterienkatalog hineingeschrieben, an dem sich Leistung und Förderungswürdigkeit dieser Länder bemessen. Verlangt man von den Afrikanern da nicht Unmögliches?

Dieselbe verquere Logik steckt in den Ausführungsbestimmungen des Abkommens. Es stellt Vorteile in Aussicht, die selbst zu den Entwicklungshindernissen gehören, die es zu überwinden gilt. Ein afrikanischer Experte resümiert: „Wir dürfen zollfrei Computer, Sportwagen und Atomanlagen ausführen. Das Problem ist nur, dass wir diese Dinge nicht produzieren. Wir sind auch ganz ergriffen, dass wir Sorgum und Maniok nach Europa exportieren dürfen. Dummerweise wollen die europäischen Verbraucher diese Erzeugnisse nicht haben. Was wir nach Europa exportieren könnten, wäre Obst und Frühgemüse. Und genau für diese Produkte gibt es Mengenbeschränkungen.“4 Im Unterschied zum Vorgänger von Cotonou, dem Lomé-IV-Abkommen, das die einzelnen Bereiche der Entwicklungszusammenarbeit detailliert beschrieb und konkrete Zielvorgaben formulierte, bevorzugen die Europäer nun einen globalen Ansatz mit allgemeinen Zielen. Die Formulierungen bleiben schwammig und lassen den Geberländern größtmöglichen Handlungsspielraum. Sie können jederzeit erklären, dass sie bestimmte Entwicklungsbereiche für dringlicher halten als andere. Dabei wäre es nötig gewesen, einige Kooperationsbereiche bedarfsorientiert herauszugreifen und im Rahmen der globalen Zielvorgaben für bestimmte Zeit als Priorität zu behandeln. Zum Beispiel müsste man sich auf den Ausbau der regionalen und interkontinentalen Basisinfrastruktur konzentrieren, ohne die eine Bekämpfung der Armut kaum denkbar ist. Weshalb flüchtet man sich ins Schwammig-Allgemeine, wo schlicht die Mittel fehlen, um alles auf einmal anzupacken?

Alte Fehler im neuen Budget

DAS Cotonou-Abkommen stellt den AKP-Ländern Finanzhilfen von 24 Milliarden Euro in Aussicht, wovon 9,9 Milliarden noch aus dem 8. Europäischen Entwicklungsfonds stammen, der mit 14,6 Milliarden Euro ausgestattet war. Von afrikanischer Seite wird befürchtet, dass sich damit die alten Fehler wiederholen.5 Was nützt ein angeblich großzügiger Finanzrahmen, wenn nur ein Viertel davon freigegeben wird? Zudem ist sehr fraglich, ob 24 Milliarden Euro für einen Zeitraum von sieben Jahren ausreichen, um die anvisierten politischen, kulturellen und sozioökonomischen Ziele zu verwirklichen.

Um diese Ziele zu erreichen, kommt es weniger auf neue Handelsabkommen an oder auf die Liberalisierung der Einfuhrbestimmungen für fast alle Erzeugnisse aus den am wenigsten entwickelten Ländern. Entscheidend sind vielmehr produktive Investitionen und flexiblere Patentregelungen. Wie will man Afrika auf Wachstumskurs bringen und international wettbewerbsfähig machen, wenn man nicht einmal hilft, die elementaren Voraussetzungen für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit zu schaffen, und die liegen im Bereich Stromversorgung, Telekommunikation und EDV-Technologie?

Das Cotonou-Abkommen sieht vor, dass die AKP-Staaten und die Union einen politischen Dialog über alle „Fragen von beiderseitigem Interesse“ beginnen. Doch was wird dieser Dialog für eine kohärente und effiziente Entwicklungszusammenarbeit bringen? Bedenken weckt vor allem der umfassende Handlungsspielraum der Gebergruppe, was die Auswahl der Projekte und Kooperationsbereiche betrifft. Wenn die Union ihre Prioritäten zur Eingliederung Afrikas in die globale Informationsgesellschaft festlegt, müsste sie die Afrikaner an allen Planungsphasen beteiligen. Diese wären dann nicht mehr nur Vollstrecker einer Politik, die mit ihren Prioritäten nichts zu tun hat und ihnen lediglich einen kleinen zusätzlichen Handlungsspielraum verschafft. Zwar sind die Vorbehalte der Union legitim, die mit nicht demokratischen Gesellschaften oder mit solchen ohne hinreichendes Know-how nicht zusammenarbeiten will. Doch allein damit lässt sich nicht rechtfertigen, dass solche Länder bei der Entwicklungszusammenarbeit stets vor vollendete Tatsachen gestellt sein sollen.

Die offiziell proklamierte Bedeutung der Zivilgesellschaft müsste sich in der Mitwirkung lokaler Experten niederschlagen. Eine Mitsprache der afrikanischen Partner bei der Aufteilung der Fondsgelder würde die Souveränität der Union in keiner Weise schmälern.6 Im Gegenteil, die Effizienz würde steigen. Ähnlich sieht es auch eine Entschließung der Paritätischen Versammlung AKP-EU vom 21. März dieses Jahres.7

Das Cotonou-Abkommen sieht bei Verstößen gegen die demokratischen Prinzipien vor, jede Hilfe auszusetzen. Nach welchen Regeln und Bewertungskriterien das stattfinden soll, ist nach wie vor ungeklärt. Wünschenswert wäre, dass die AKP-Staaten im Allgemeinen und die afrikanischen Länder im Besonderen in allen Streitfällen gehört werden. Ein faires Partnerschaftsabkommen schließt aus, dass eine Partei (die EU) gegen die andere (Afrika) ohne Konsultationen oder Mitspracherecht Sanktionen verhängen kann. Die EU sollte bei der Aussetzung ihrer Hilfe nicht mehr mit dem betroffenen Staat verhandeln, sondern mit der AKP-Gruppe insgesamt.

Doch letztlich hängen all diese Frage vom Ermessen der Union ab. Sie behält die Karten in der Hand. Aber woran liegt das? Liegt es an einer Lücke im Cotonou-Abkommen oder an der Heuchelei oder Inkompetenz der afrikanischen Seite, die eine Antwort auf die wichtigen Fragen schuldig bleibt? Oder ist das nur die unvermeidliche Konsequenz eines Abkommens, das auf der Großzügigkeit der einen und der Schwäche der anderen Partei beruht? Afrika sollte Nachverhandlungen fordern, um aus dem Cotonou-Abkommen das Beste zu machen.

dt. Bodo Schulze

* Forschungsdirektor am Centre Nationale des Recherches Sociales (CNRS).

Fußnoten: 1 http://europa.eu.int/comm/development/cotonou/agreement_de.htm. 2 Die Union unterstützte die Entwicklungsländer durch einseitige Vergünstigungen, darunter niedrigere Importzölle und Maßnahmen zur Preisstabilisierung. 3 Dazu Marie-Pierre Crozet und Dorothée Schmid, „L‘approche sectorielle: une nouvelle modalité de l‘aide européenne au développement“, Afrique contemporaine 193, 1. Quartal 2000, Paris, S. 76 – 89. 4 Zitiert nach Omar Sy, „La coopération européenne en Afrique“, in: Philippe Béraud u. a. (Hrsg.), „Géopolitique de la coopération européenne. De Yaoundé à Barcelone …“, Paris (Maisonneuve & Larose) 1999, S. 106. 5 Dazu Marie-Pierre Crozet und Maria Dolores Lopez-Caniego, „La fin des accords de Lomé“, Afrique contemporaine 193, 1. Quartal 2000, Paris. 6 Großzügig ist die EU-Hilfe in zweifacher Hinsicht: Erstens muss der überwiegende Teil nicht zurückgezahlt werden, zweitens stammt über die Hälfte der Gelder, die im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit nach Afrika fließen, aus Fonds der EU und ihrer Mitgliedstaaten. 7 ACP-UE 3391/02/déf.

Le Monde diplomatique vom 14.06.2002, von RAPHAEL TSHIMBULU NTAMBUE