14.06.2002

Frankreichs prioritäre Solidarität

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Frankreichs prioritäre Solidarität

NACH mehr als vierzig Jahren Unabhängigkeit befindet sich das Verhältnis zwischen Afrika und Frankreich in einem neuerlichen Wandlungsprozess. Das einstige Mutterland verfolgt schon lange kein klares Konzept mehr im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit den einstigen Kolonien. Die Linke unter der Führung Jospins ging im Namen einer Nichteinmischungspolitik weitgehend auf Distanz und löste die alten Institutionen auf. Die neue Rechtsregierung Raffarin könnte versucht sein, an die gaullistische „frankafrikanische“ Tradition anzuknüpfen. Aus afrikanischer Sicht ist vor allem Skepsis angebracht – und die Bereitschaft, englische Sprachkenntnisse zu erwerben.

Von PHILIPPE LEYMARIE

„Weder Einmischung noch Gleichgültigkeit“ – mit dieser vagen Formel wollte die Regierung des Sozialisten Lionel Jospin die französische Afrikapolitik insgesamt auf den Punkt bringen. Die Formel enttäuschte einerseits die afrikanischen Führer alten Schlags, die sich ohnehin ständig im Stich gelassen fühlen, andererseits entmutigte sie auch die afrikanischen Oppositionsbewegungen, die sich von Frankreich eine – eher unwahrscheinliche – „demokratische Einmischung“ erhofften. Doch mit ihrer Absage an die bisherige Klientelwirtschaft und ihrer Beendigung der heimlichen Kumpanei mit fragwürdigen Regimen brachten die Sozialisten es auch fertig, die alte exklusive Rolle Frankreichs in seinem afrikanischen Jagdrevier vergessen zu machen. Hier konnte man einst als „Königsmacher“ agieren, etwa wenn man als französischer Botschafter, sekundiert von mehr oder weniger geheimen Agenten, im Tschad, in Zentralafrika oder in Gabun völlig unverhüllt die Innenpolitik des Gastlandes zu bestimmen vermochte.

Dagegen war Ministerpräsident Lionel Jospin „einer der wenigen französischen Staatsmänner von Format, die über keine französisch-afrikanische Seilschaft verfügten“1 . 1998 gliederte er das Kooperationsministerium, das lange als „Afrikaministerium“ gegolten hatte, dem Außenministerium an. Damit war auch symbolisch die Nabelschnur zum Schwarzen Kontinent durchtrennt, nachdem zuvor 35 Jahre lang sämtliche Reformversuche im Sande verlaufen und zahllose Expertisen toter Buchstabe geblieben waren.2

Da die öffentliche Entwicklungshilfe im Jahr 2002 aber um mehr als die Hälfte hinter dem Zielwert zurückblieb, den die erste Linksregierung 1981 beschlossen hatte (0,7 Prozent des BSP), musste die Reform mit bescheidenen Finanzmitteln auskommen. Die Neudefinition der Entwicklungszusammenarbeit, die den neokolonialistischen Terminus pays du champ (Feldländer) in die Rumpelkammer der Geschichte verbannte, hatte eine Zersplitterung der Finanzmittel auf sechzig Länder in drei Kontinenten zur Folge.3

Überdies fand die Umverteilung der Hilfsgelder zum Nachteil der am wenigsten entwickelten Länder statt, die überwiegend zum ehemaligen „Hinterhof“ Frankreichs gehörten und eigentlich eine bevorzugte Behandlung verdienten. Die Anerkennung als „Zone Prioritärer Solidarität“ (ZSP) sollte idealerweise von Kriterien wie „partnerschaftliche“ Zusammenarbeit „für und mit den Völkern“ abhängen, doch sie wurde aus realpolitischen Gründen stets auch Ländern gewährt, die nicht gerade vorbildiche Demokratien sind: den beiden Kongo, Tunesien, Togo, Tschad, Dschibuti, Madagaskar, Kamerun, Liberia, Guinea oder Kuba. Die westlichen Geldgeber waren schon zufrieden, wenn sich die demokratisch übertünchten Staatsführer dieser Länder als „aus der Wahlurne hervorgegangene Diktatoren“ präsentierten.4 Desgleichen fehlte in Paris der politische Wille, sich für die „Abschaffung der Klüngelwirtschaft einzusetzen, die den französischen Unternehmen komfortable Extraprofite sicherte“, inbesondere in Ländern mit hoher Wertschöpfung wie Gabun, Kongo-Brazzaville, Angola, Elfenbeinküste oder Kamerun.5

Mit der Abschaffung des Kooperationsministeriums verloren die Afrikaner ausgerechnet in dem Moment ihre Pariser „Adresse“, als Großbritannien seine Entwicklungshilfe merklich aufstockte und damit Frankreich überholte, nachdem es mit der Schließung seiner Stützpunkte „östlich von Suez“ und der Unabhängigkeit Simbabwes Afrika den Rücken gekehrt hatte.6

Zudem verschwand mit dieser Reform auch eine gewisse Kultur des Expertentums, die in jahrzehntelanger Arbeit Wissen über die Überseegebiete gesammelt hatte. Denn das Außenministerium am Quay d‘Orsay richtete – anders als für den Orient und den Fernen Osten – keine Sonderabteilung für Afrika ein; das Forschungszentrum „Centre des Hautes Études sur l‘Afrique et l‘Asie modernes“ (Cheam) wurde aufgelöst, das „Institut International d‘Administration Publique“ (ehemals École de la France d‘Outre-Mer) soll in der Verwaltungshochschule École Nationale d‘Administration aufgehen, und mehrere Dokumentationszentren sind von der Schließung bedroht.7

Angesichts des Völkermords in Ruanda 1994, in den auch die französische Entwicklungszusammenarbeit involviert war8 , wussten die Sozialisten genau, welche Politik sie nicht mehr wollten. Sie haben es jedoch versäumt, eine tragfähige Alternative zu entwickeln. Sie überließen die Verwaltung der Kreditprogramme im Wesentlichen dem Finanzministerium und traten die Entwicklungszusammenarbeit vor Ort weit gehend an Nichtregierungs- und humanitäre Hilfsorganisationen ab (obwohl die Letzteren selbst in einer Krise stecken)9 .

Frankreich importiert zwar rund ein Viertel der afrikanischen Ausfuhren und ist damit nach wie vor der größte Abnehmer des Kontinents. Auch als Lieferant liegt Frankreich weltweit an der Spitze und verzeichnet im Afrikahandel einen Exportüberschuss, selbst wenn man die öffentliche Entwicklungshilfe und die erlassenen Schulden mitrechnet.10 Französische Konzerne wie Borroré, TotalFina, Air France, Vivendi, France-Télécom, Rougier und die Compagnie Française d‘Afrique de l‘Ouest machen noch immer einen ansehnlichen Schnitt in Ländern, in denen sich – trotz gestiegener Produktionskosten – die Investitionen noch immer am schnellsten amortisieren.11

Des Kaisers geliebtes Afrika

GLEICHWOHL ist das französische Engagement in Afrika seit Jahren rückläufig. Der Anteil an den französischen Auslandsdirektinvestitionen halbierte sich im Zeitraum 1995–2000, die Zahl der französischen Bürger mit Wohnsitz in Afrika sank in den letzten zehn Jahren um 40 Prozent, die dort stationierten Truppen wurden von 8 000 auf 5 000 Mann reduziert, die Militärbasen in Zentralafrika geschlossen. Im Budget des Außenministeriums liegt die Priorität einem Bericht von Senator Michel Charasse zufolge bei „den kulturellen Einrichtungen, der personellen Besetzung des Ministeriums, den Auslandsfranzosen … und dem Balkan“, so dass „Frankreich ungeachtet der stets beschworenen Notwendigkeit, die Armutsbekämpfung und die Entwicklungshilfe zu stärken, Gefahr läuft, schon bald nicht mehr ernst genommen zu werden“12 .

Der wiedergewählte Staatspräsident Jacques Chirac, der mit einem „afrikanischen“ Wahlergebnis von 82,15 Prozent wie ein moderner „Kaiser der Franzosen“ dasteht, hält sich, wenn es um sein „geliebtes“ Afrika geht, weder mit Umarmungen noch mit wohlmeinenden Worten zurück. Im Gegensatz zu seinem sozialistischen Vorgänger, der stets auf Distanz zum „Françafrique“-Klüngel bedacht war, bekundet Chirac bei jeder internationalen Gelegenheit sein „Mitgefühl“ für den Schwarzen Kontinent. Die meisten Mitglieder des „Syndikats“ der afrikanischen Staatschefs, zumal die frankophone „Klientel“ einschließlich der Maghrebländer, setzten bei den jüngsten Wahlen deshalb auf Chirac.13 Dabei wissen sie natürlich, dass Paris nicht zur gaullistischen Politik von einst zurückkehren kann – mit allem, was dazugehört: mit Militärinterventionen und Foccart-Seilschaften14 , mit der Allgegenwart des Ölkonzerns Elf, mit unsinnigen Prestigeprojekten, regelmäßigen Zuwendungen für gewisse Beamte und Geldkoffern für Frankreichs Parteigänger.15

Dennoch hat das Bild Frankreichs in den Augen der Afrikaner durch das Wahldesaster vom 21. April gelitten, auch wenn die Massendemonstrationen am 1. Mai und die „republikanische“ Mobilisierung in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen das Frankreichbild wieder aufgebessert haben. „Ein Mythos ist tot“, titelte nach dem ersten Wahlgang ein senegalesischer Leitartikler: „Die Nation, die mit Belehrungen immer so schnell bei der Hand ist, stürzte vom Sockel.“ Diese Nation habe es zugelassen, dass ein „Verfechter der Rassenungleichheit“ ins Finale um das Amt des Staatspräsidenten gelangte.16 Das hört sich an, als hätte Frankreich „seine Seele verloren“ und könne fortan kein Gehör und keinen Einfluss mehr beanspruchen. Und nicht mehr in der Rolle einer Großmacht agieren, auf die Frankreich aufgrund seiner privilegierten Beziehungen zu einem Teil Afrikas lange Anspruch erheben konnte.

Chirac, „der Afrikaner“, gehört zu denen, die der Meinung sind, dass „Frankreich ohne Afrika zu einer drittrangigen Macht“ herabsinken würde. Als (indirekter) Erbe des Gaullismus sähe er es nicht ungern, wenn die Afrikapolitik wieder vom Élysée-Palast bestimmt würde, vor allem, wenn die Nationalversammlung ihn darin unterstützt. Deshalb versprach er, gegenüber den „ehrenwerten Gesprächspartnern“ in Afrika hart zu bleiben: „Kein Öl, kein Glücksspiel, keine Waffen, keine Drogen.“17 Das Außenministerium unter Leitung des Chirac-Vertrauten Xavier de Villepin, der die letzten sieben Jahre als Generalsekretär im Élysée-Palast amtierte, soll die Afrikapolitik des Staatspräsidenten buchstabengetreu umsetzen. De Villepin wird zunächst einmal einige psychologische und politische Fehler seines Vorgängers ausbügeln müssen. Dazu gehört etwa, dass beim Begräbnis des ehemaligen senegalesischen Präsidenten Léopold Senghor, immerhin Mitbegründer der „Gemeinschaft frankophoner Länder“, kein einziger hochrangiger Vertreter Frankreichs zugegen war oder dass die „Kolonialsoldaten“, die in beiden Weltkriegen an der Seite französischer Truppen kämpften, weit gehend vergessen sind und seit 1960 keine Pensionserhöhung erhielten.

Mehr noch als ihre Vorgänger will die neue Regierung unter Jean-Pierre Raffarin die Zuwanderung aus dem Süden eindämmen, die unvermindert weitergeht, obwohl die Reise manchmal tödlich endet: im Fahrwerk eines Flugzeugs, in einem Schiffscontainer, auf einem Strand in Südspanien (siehe den Artikel von Pierre Vermeren auf den Seiten 1, 16 und 17). Paris wird bei den internationalen Organisationen für die Anliegen der schwarzafrikanischen und der Maghrebstaaten eintreten und im kommenden Haushalt Finanzmittel zur Stabilisierung der Wirtschaft bereitstellen. Unmittelbar nach der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen erbot sich der liberale Staatspräsident Senegals, Abdoulaye Wade, Chirac bei der Frage der illegalen Einwanderung „Argumentationshilfe“ zu leisten: „Den 80 Prozent Franzosen, die nicht rassistisch sind, ist nicht damit gedient, wenn alles so unkontrolliert und chaotisch weiterläuft wie bisher. Kein afrikanischer Staat würde solche Verhältnisse auf seinem Boden dulden.“18

Doch ob mit oder ohne Chirac, die Afrikaner haben gelernt, dass sie bei ihren Bemühungen, Diktatur und Unterentwicklung zu überwinden, auf Frankreich nicht mehr besonders zählen können. Vielen ist bewusst, dass ihr Kontinent, ihre Rohstoffe, ihre strategische Position und ihre Stimme bei den Vereinten Nationen „nichts mehr gelten“, sie wissen, dass die Weißen sich langsam zurückziehen – die Militärs und die Unternehmer ebenso wie die Missionare und das Charity-Business. Daher problematisiert man auch zunehmend das „Entwicklungskonzept“, das die Experten der ehemaligen Mutterländer nach Afrika brachten, als in den Sechzigerjahren die gut gemeinte Ideologie der Kooperation aufkam.

Der Glaube an die „Wiedergeburt Afrikas“ ist verflogen, die Strukturanpassung gescheitert und das Schuldenproblem offenbar nicht zu lösen. Die Abwertung des CFA-Franc markiert das Ende einer Epoche, woraus auch die Politiker Afrikas ihre Konsequenzen ziehen müssten. Vor allem sollten sie schleunigst Englischunterricht nehmen, um möglichst schnell Anschluss an eine Globalisierung zu gewinnen, die inzwischen auch bei ihnen vor der Tür steht.19

Auf diesem Wege sind die französischen Militärs mit gutem Beispiel vorangegangen, vielleicht, weil sie für so vieles Abbitte leisten müssen, nach einem halben Jahrhundert der Einmischung in die inneren Angelegenheiten Afrikas. Sie treiben seit einigen Jahren Reformen voran und verfolgen das völlig neue „Konzept“ einer „Stärkung der afrikanischen Kapazitäten zur Friedenssicherung“, das in den USA und Großbritannien auf großes Interesse stößt. Die ersten beiden Operationen in diesem Rahmen liefen bereits in West- und Zentralafrika, und mit dem „Tanzanite-Manöver“20 endete vor kurzem ein zweijähriger Fortbildungslehrgang für militärische Kader aus fünfzehn englischsprachigen Staaten Ostafrikas.

Die Aufstellung interafrikanischer Streitkräfte für friedenserhaltende Maßnahmen setzt allerdings ein Mandat der UNO oder der künftigen Afrikanischen Union voraus und muss jeweils mit den politischen Organisationen der Region abgestimmt werden. Die Ausrüstung für solche Einsätze stammt von den französischen Militärbasen in Dschibuti, Libreville und Dakar. Angesichts dessen steht zu erwarten, dass die verbleibenden französischen Militärbasen in Afrika künftig eine völlig neue Rolle spielen werden.

dt. Bodo Schulze

Fußnoten: 1  François-Xavier Verschave, Libération, 18. Januar 2001. 2  Während der ersten Amtszeit François Mitterrands startete Jean-Pierre Cot als Minister für Kooperation den ersten Versuch, die französisch-afrikanischen Beziehungen zu normalisieren, musste jedoch bald den Hut nehmen. 3  Claude Wauthier, „La coopération française entre ravalement et réforme“, Le Monde diplomatique, März 1998. 4  Siehe Martine-Renée Galloy und Marc-Eric Gruenais, Manière de voir 51, Juni 2000. 5  Siehe „France-Afrique: le bilan mitigé de la gauche“, Marchés tropicaux, Paris, 14. Dezember 2001. 6  „Blair l‘Africain plaide les vertus d‘un nouveau partenariat“, Le Figaro, 9. Februar 2002. 7  Dazu Anne-Cécile Robert, „La mémoire nord-sud en danger“, Le Monde diplomatique, Juli 1999. Auch bei den Streitkräften, in manchen Unternehmen und Medien ist ein Verlust an Sachkenntnis zu verzeichnen. 8  Dazu Philippe Leymarie, „Die französische Ruanda-Politik auf dem Prüfstand“, Le Monde diplomatique, September 1998. 9  Siehe „Les dérives de l‘humanitaire“, Le Point, Paris, 7. Mai 2002. 10  Pascal Chaigneau, „La France, ex-puissance africaine?“, Géopolitique africaine, Paris, Juli 2001. 11  Siehe „Petits empires et gros profits“, L‘Autre Afrique, Paris, 8. Mai 2002. 12  Michel Charasse, Rapport Spécial no. 87, 2001 – 2002. 13  Daoussou Drago, L‘Essor du Mali, 6. Mai 2002. 14  Jacques Foccart war De Gaulles rechte Hand. 15  Dazu François-Xavier Verschave, „L‘envers de la dette: criminalité politique au Congo-Brazza et en Angola“, Marseille (Agone) 2001. 16  Malick M. Diaw, „Les Français sont-ils devenus fous?“, Le Soleil, Dakar, 22. April 2002. 17  Denis Tillinac, Libération, 14. August 2001. 18  Radio France Internationale, 6. Mai 2002. 19  Dazu Jean-Paul Ngoupandé, „L‘Afrique sans la France“, Paris (Albin-Michel) 2002. 20  Dazu Armées d‘aujourd‘hui, Paris, Mai 2002.

Le Monde diplomatique vom 14.06.2002, von PHILIPPE LEYMARIE