14.06.2002

Vergebung und Pragmatismus

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Vergebung und Pragmatismus

TIMOR LOROSA‘E ist der offizielle Name des Staates, der am 20. Mai auf dem Gebiet von Osttimor gegründet wurde. Allen pessimistischen Prognosen zum Trotz scheint der Übergang zur Demokratie gelungen zu sein. Angesichts der pragmatischen Führung des am 14. April mit 83 Prozent der Stimmen gewählten Präsidenten und einer großen Bereitschaft der Bevölkerung und der lokalen politischen Eliten, das Projekt eines eigenen Staates voranzubringen, sind die Aussichten für die Zukunft vielversprechend. „Timorisation“ heißt das Schlagwort, unter dem die Bevölkerung ihr Schicksal in die eigenen Hände nimmt.

Von ANY BOURRIER *

Am 20. Mai 2002 wurde ein neuer unabhängiger und demokratischer Staat geboren. Mit einem Parlament in der Hauptstadt Dili, wo seit den Wahlen vom August 2001 die Abgeordneten von 12 der 16 neuen politischen Parteien Osttimors tagen; mit einem demokratisch gewählten Präsidenten, dessen Machtbefugnisse begrenzt sind – in einem Regierungssystem, das nach dem Willen der verfassunggebenden Versammlung ein Mittelding zwischen präsidialem und parlamentarischem System darstellt; und mit einer Regierung unter Führung von Premierminister Mari Alkatiri, die von der Mehrheitspartei in der Versammlung, der Revolutionären Front für die Unabhängigkeit Osttimors (Fretelin) gebildet wurde. Osttimor befindet sich somit auf dem Weg zur politischen Normalität. In ein paar Monaten wird sich die Weltöffentlichkeit kaum noch für diese Inselhälfte mit ihren 19 000 Quadratkilometern und 737 000 Einwohnern interessieren. Und doch kommt diesem kleinen, zum Archipel der Sunda-Inseln gehörenden Eiland große strategische Bedeutung zu, denn es bildet die Grenze zwischen Südostasien und dem Südpazifik.

Die Ereignisse der vergangenen drei Jahre in Osttimor sind in vielerlei Hinsicht geradezu exemplarisch. Diese gemarterte Insel war vier Jahrhunderte lang unter portugiesischer Kolonialherrschaft, im Zweiten Weltkrieg von den Japanern besetzt und wurde schließlich, am 7. Dezember 1975, von Indonesien annektiert, um dort eine Militärbasis zu errichten. Damals wurden 200 000 Timoresen, ein Drittel der Bevölkerung, umgebracht. Diese Invasion wäre ohne das Einverständnis der Vereinigten Staaten nicht möglich gewesen. Die USA haben mehr als zwanzig Jahre lang Einheiten bewaffnet und ausgebildet, die gegen die Unabhängigkeitsbewegung in Osttimor vorgingen. Vertrauliche Dokumente von Pentagon und State Department, die 1999 freigegeben wurden, belegen, dass sich der indonesische Staatspräsident Suharto bei einem Besuch von Präsident Gerald Ford und Außenminister Henry Kissinger in Jakarta am Vortag der Invasion der amerikanischen Zustimmung versichert hatte, bevor er seine Truppen nach Osttimor in Marsch setzte.

Den massiven Menschenrechtsverletzungen durch die indonesische Armee wurde Ende 1999 von den Vereinten Nationen Einhalt geboten. Zum ersten Mal seit der Einrichtung von Friedensmissionen war die UNO hier – dank einer internationalen Koalition – erfolgreich und errichtete eine Schutzzone mit der Absicht, aus dem Nichts einen Staat zu schaffen. Nach Ansicht verschiedener Beobachter wie Alvaro Vasconcelos, Direktor des Instituts für strategische und internationale Studien in Lissabon, war die Intervention der UNO „notwendig, um einen Völkermord zu verhindern, aber auch, um derartige Interventionen künftig zur internationalen Norm zu erheben“1 .

Wie kam es, dass ein solcher Neubeginn überhaupt möglich wurde, nach dem Blutbad, das auf das Referendum vom August 1999 folgte, und nach den Verwüstungen des Landes durch proindonesische Milizen, die für die Integration Osttimors in die Republik Indonesien kämpften?2 Zu verdanken ist die Entstehung des Staates Osttimor dem Willen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Kofi Annan. Er ist persönlich, fast als Einzelkämpfer, für Osttimor eingetreten; er sorgte dafür, dass der damalige indonesische Staatspräsident B. J. Habibie das Referendum über die Unabhängigkeit im Januar 1999 akzeptierte, sowie dafür, dass am 20. September die Interfret, die militärische Schutztruppe unter dem Befehl des australischen Generals Peter Cosgrove, zum Einsatz kam. Kofi Annans Engagement stieß zum einen auf einen gewissen Unwillen der UNO-Mitgliedstaaten, zum andern auf die Ausflüchte von Präsident Habibie und General Wiranto, dem damaligen Oberbefehlshaber der indonesischen Armee. Die beiden weigerten sich zuzugeben, dass ihre Truppen an der „Operasi Sapu Jagad“ (Operation totale Säuberung) beteiligt gewesen waren, die nach dem Referendum 10 000 Timoresen das Leben gekostet hatte.3

„Das timoresische Volk zu unterstützen war eine der schönsten Aufgaben, die den Vereinten Nationen jemals übertragen wurden“, erklärte ihr Generalsekretär im Dezember 2001 in Oslo, wo er im Namen der UNO den Friedensnobelpreis entgegennahm. Bei seinem Aufenthalt in Norwegen verbarg er keineswegs seinen Stolz darüber, dass er zu Recht Partei für die Unabhängigkeit Osttimors ergriffen hatte. In seinen Augen ist das Ergebnis der Untaet-Mission (UN-Übergangsverwaltung für Osttimor), die durch die Resolution 1272 vom 25. Oktober 1999 beschlossen worden war, mehr als ein Erfolg: „Es ist ein Modell für künftige Missionen zum Erhalt des Friedens, wo auch immer in der Welt die Vereinten Nationen dazu aufgefordert werden.“4 In derselben Rede hat Kofi Annan aber auch anerkannt, dass ohne die Beteiligung der Timoresen selbst nichts hätte erreicht werden können.5 „Sie haben eine ungeheure Bereitschaft aufgebracht, zu vergeben und auch die Rückkehr derer hinzunehmen, die Verbrechen begangen hatten“, fügte er hinzu.

Diese Fähigkeit der timoresischen Bevölkerung, zu vergeben und eine Demokratie mit aktiver politischer Beteiligung zu realisieren, ihre erstaunliche politische Reife, wurde auch von Frédéric Durand hervorgehoben, Dozent an der Universität Toulouse-Mirail und Autor einer Untersuchung über die politischen Parteien in Osttimor.6 Die Wahl zur verfassunggebenden Versammlung vom August 2001 sei dafür ein gutes Beispiel: „Während die Abstimmung von 1999 als vielleicht einmalige Chance begriffen worden war, die indonesische Besatzung abzuschütteln, stand 2001 deutlich weniger auf dem Spiel. Dass sich die Timoresen dennoch in solcher Anzahl (94 Prozent der Stimmberechtigten) für eine Wahl mobilisieren ließen, deren Zweck sie anfänglich nicht eindeutig verstanden hatten – viele glaubten, dass sie ihren Präsidenten wählen sollten – ist um so beeindruckender.“7

Der Übergang zur Demokratie und der Wiederaufbau Osttimors wurden aber auch ermöglicht durch das über das übliche Maß hinausgehende Engagement der lokalen politischen Elite. Zu ihr gehörten führende Widerstandskämpfer wie Xanana Gusmão und weitere politische Führer, die entweder im Exil die Selbstbestimmung Timors verteidigt oder diesen Kampf von innen her geführt haben. Dies gilt vor allem für José Ramos Horta, Träger des Friedensnobelpreises von 1996, den er sich mit Carlos Ximenes Belo, dem Bischof von Dili, teilte. Dieser wie auch die katholische Kirche spielten eine entscheidende Rolle.

Das Engagement von dieser Seite war deutlich geprägt von der Befreiungstheologie, die in den Siebzigerjahren beim lateinamerikanischen Klerus sehr verbreitet war und deren Grundideen bei den timoresischen Priestern, die ihre Ausbildung größtenteils in portugiesischen Seminaren erhalten hatten, ein starkes Echo fanden. Dies war auch bei Mari Alkatiri der Fall, dem ausgebildeten Juristen, derzeitigen Generalsekretär der großen Unabhängigkeitspartei Fretelin und Premierminister der ersten demokratischen Regierung von Osttimor, der rund zwanzig Jahre in Mosambik im Exil gelebt hat. Diese Widerstandskämpfer – ehemalige Schüler von katholischen Seminaren – waren stets und sind auch heute kultivierte Intellektuelle, die sich in der Geschichte, den Traditionen und in der Psychologie ihres Volkes bestens auskennen, und obendrein pragmatische Politiker.

Dennoch waren die Beziehungen zwischen der Untaet und den Timoresen nicht immer einfach. Spannungen, Enttäuschungen und Frustrationen waren in den ersten Monaten der UNO-Mission in Dili und in den dreizehn Distrikten des Landes an der Tagesordnung. Das Land wieder auf die Beine zu bringen war in der Tat kein Kinderspiel, denn die Altlasten waren immens. „Bei unserer Ankunft hatte man Timor bereits für klinisch tot erklärt“, so die Feststellung von Sergio Vieira de Mello, Sonderrepräsentant des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Chef der Untaet und Übergangsregent des Territoriums. Mit Hilfe der beträchtlichen Finanzmittel der Untaet8 setzte Vieira de Mello eine richtige Regierung ein. Er übernahm den ehemaligen Gouverneurspalast, ein langes weißes Gebäude, das die Indonesier im Stadtzentrum von Dili mit Blick aufs Meer errichtet hatten. Dort brachte er die Übergangsregierung mit ihren rund 1 000 zivilen UNO-Beamten unter. Und er definierte auch die vorrangigen Ziele der Untaet: Wiederaufbau, Sicherheit, Flüchtlingshilfe und wirtschaftlicher Aufschwung. Zugleich wurde eine ständige enge Zusammenarbeit mit den timoresischen Führern organisiert, die sich im Nationalen Timoresischen Widerstandsrat (CNRM), einer Parteienkoalition unter dem Vorsitz von Xanana Gusmão, zusammengeschlossen hatten. Beratende Gremien wurden eingerichtet, durch die die Timoresen in die Verwaltung des Landes eingebunden wurden, wie der Beratende Nationale Rat (NCC) mit fünfzehn Gründungsmitgliedern. Aus diesem entwickelte sich schließlich die Übergangsregierung von Timor Lorosa‘e, so der offizielle Name des Landes nach der Unabhängigkeit.

Wiederaufbau bedeutete für die Untaet zunächst, dass sie sich um alles kümmern musste, von der Versorgung mit Trinkwasser über die Postzustellung bis zur medizinischen Versorgung und zum Schulwesen. Dass eine solche Aufgabe nicht ohne Verzögerung zu erledigen ist und dass der Wiederaufbau nur langsam vonstatten ging, liegt auf der Hand. Als Folge davon wuchsen Ungeduld und Ernüchterung unter den Timoresen. Basilio Nascimento, Bischof von Bacau, räumt ein: „Unsere Hoffnungen, die wir mit der Unabhängigkeit verbanden, waren allzu groß. Unter den Menschen, die nicht lesen und schreiben können, hatte sich geradezu eine kollektive Illusion verbreitet. Sie haben geglaubt, alles werde vom Himmel fallen.“ So kam es in den Straßen von Dili zu wütenden Demonstrationen, die sich gegen die von der UNO geschaffene Gesellschaft der zwei Geschwindigkeiten richtete, gegen die Luxusautos der UNO-Funktionäre und gegen deren Lebensstil, der die familiären Traditionen dieses zu 98 Prozent katholischen Landes nicht respektiere.

Doch dank der beschleunigten „Timorisierung“ konnten die sozialen Spannungen, von denen das Jahr 2000 geprägt war, zum Teil aufgefangen werden. So wurden die internationalen Fachleute nach und nach durch einheimische ersetzt und mit Unterstützung des UNO-Sicherheitsrats eine Übergangsverwaltung geschaffen, die ausschließlich aus Timoresen bestand. In kleinen Schritten ist das verwüstete Land aus seinem Koma erwacht, und schon von 2001 an begannen verschiedene Institutionen ansatzweise zu funktionieren: Mehr als 10 000 Beamte wurden eingestellt, 1 000 Polizisten und eine erste Einheit der neuen Streitkräfte erhielten ihre Grundausbildung, vier Gerichtshöfe wurden eröffnet, 80 Prozent der Kinder in Schulen geschickt.

Am Ende desselben Jahres verwiesen die Untaet und die Weltbank stolz auf die guten Ergebnisse, die in Osttimor erzielt worden waren: „Eine bemerkenswerte Erholung in allen Bereichen: politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich und institutionell.“9 Aber es ist ebenfalls offenkundig, dass „diese Ergebnisse labil sind, vor allem in Hinblick auf die öffentlichen Finanzen, die administrative Leistungsfähigkeit und die Notwendigkeit einer verstärkten Wirtschaftshilfe im unmittelbaren Anschluss an die Unabhängigkeit“. Das zweifellos spektakulärste unter den guten Ergebnissen ist die Unterzeichnung eines Rahmenvertrags über die Offshore-Ausbeutung von Erdöl und Erdgas im Timor-Graben. Mit den Einkünften aus diesem Geschäft wird die timoresische Regierung die künftige Entwicklung des Landes finanzieren können.

Nach der Tragödie vom September 1999 haben die Timoresen keineswegs die Hände in den Schoß gelegt: „In ein paar Monaten werden wir die Hölle in ein Paradies verwandeln“, versicherten sie damals. Nach der Unabhängigkeitserklärung ist das Paradies zwar noch weit, aber die Hoffnung groß, das Leben zum Besseren verändern zu können.

dt. Erika Mursa

* Journalistin bei Radio France International; von den Vereinten Nationen im Jahr 2000 mit dem Aufbau der Medien in Osttimor beauftragt.

Fußnoten: 1 „L‘intervention au Timor et le multilateralisme impossible“, Politique Etrangère, Nr. 65, Paris, April 2000. 2 Siehe Noam Chomsky, „Osttimor und der Westen – Unversöhnliche Erinnerung“, Le Monde diplomatique, Oktober 1999. 3 Sidney Jones, Chef des Büros für Menschenrechte der UNO-Mission in Dili, Le Monde, 2. September 2000. 4 Eröffnungsrede bei der 5. Konferenz der Geberorganisation für Osttimor, Oslo, Dezember 2001. 5 Vgl. Roland-Pierre Paringaud, „Osttimor auf dem Weg in die Unabhängigkeit“, Le Monde diplomatique, Mai 2000. 6 Aséanie, Nr. 8, Dezember 2001, Paris. Vom selben Autor: „Timor Lorosa‘e, au carrefour de l‘Asie et du Pacifique, un atlas géo-historique“, Marne-la-Vallée/Bangkok, Mai 2002. 7 Zitiert nach „Agir pour Timor“, Paris, November 2001. 8 Die Geberländer haben sich im Dezember 1999 in Tokio darauf geeinigt, über einen Zeitraum von drei Jahren 522 Millionen Dollar (542 Millionen Euro) aufzubringen. 9 Bericht der Untaet und der Weltbank für die Geberländer, Oslo, 11./ 12. Dezember 2001. 10 a. a. O.

Le Monde diplomatique vom 14.06.2002, von ANY BOURRIER