14.06.2002

Die Koordinaten der nächsten Ölkrise

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Die Koordinaten der nächsten Ölkrise

Von NICOLAS SARKIS *

SEIT den Anschlägen auf die Vereinigten Staaten am 11. September 2001 ist die internationale Erdölindustrie wieder in Turbulenzen geraten. Unmittelbar nach den Anschlägen waren die ersten Schockwellen in der internationalen Politik und Wirtschaft zu verspüren. Das Auge des Zyklons stellt dabei der Nahe und Mittlere Osten dar. Mit zwei Drittel der bekannten Welterdölreserven und einem Anteil am Welterdölexport von 44,5 Prozent stehen einige Länder der Region ganz oben auf der Liste der Staaten, gegen die sich der von US-Präsident Bush erklärte „Antiterrorkrieg“ richtet. In dieser Region hat Ussama Bin Ladens al-Qaida ihre Wurzeln, wie auch die meisten anderen islamistischen Bewegungen. Und der Iran und der Irak bilden zusammen mit Nordkorea, was in den Augen des US-Präsidenten als „die Achse des Bösen“ gilt.

Saudi-Arabien – führendes Erdölförderland, größter Erdölexporteur und wichtigster Verbündeter der USA in der Region – muss sich wegen der Unterstützung islamistischer Bewegungen Vorwürfe anhören und vollführt seither einen riskanten Drahtseilakt. Syrien und der Jemen, aber auch die libanesische Hisbollah, die palästinensische Hamas und einige Golf-Emirate stehen in der Schusslinie. Sie werden beschuldigt, die Aktivitäten und die Finanzierung von Wohlfahrtsorganisationen zu dulden, die im Verdacht stehen, alles andere als wohltätige Zwecke zu verfolgen. Mit den todbringenden Aktionen in den palästinensischen Gebieten schließlich, mit der Zuspitzung des israelisch-arabischen Konflikts und der wachsenden Wahrscheinlichkeit einer amerikanischen Militäraktion gegen den Irak sind sämtliche Voraussetzungen für eine größere Explosion gegeben, die mehr als ein arabisches Regime in Mitleidenschaft ziehen dürfte.

Bislang haben sich die Attentate vom 11. September auf dem Ölmarkt nur in abrupten Preisbewegungen niedergeschlagen. Zwischen August und Dezember 2001 fiel der Barrelpreis des so genannten Opec-Korbs (ein Mischindex für sieben verschiedene Ölsorten)1 von durchschnittlich 24,46 Dollar auf 17,53 Dollar. Der drastische Preisverfall erklärt sich teils aus der rückläufigen Nachfrage und der Furcht vor einer weltweiten Rezession, teils aus einem langfristigen Angebotsüberhang seitens der Opec-Staaten2 und anderer Förderländer.

Seit Januar dieses Jahres haben die Preise ebenso abrupt wieder angezogen. Mitte Mai kostete ein Barrel Öl aus dem Opec-Korb bereits 24,48 Dollar, gegenüber dem durchschnittlichen Dezemberpreis ein Sprung um 39,6 Prozent. Grund dieses Umschwungs waren Anzeichen für eine Erholung der amerikanischen Wirtschaft, sinkende Vorräte in den Industrieländern sowie Spekulationen über eine bevorstehende US-Militärintervention im Irak. In den kommenden Monaten dürfte sich dieses Auf und Ab je nach Nachfrage und Angebot fortsetzen, wobei auch die mehr oder weniger große Förderdisziplin der Opec-Staaten und die weitere Entwicklung im Tauziehen zwischen Washington und Bagdad einen maßgebliche Einfluss haben dürften. Ein dauerhafter Barrelpreis von über 25 Dollar scheint aber in jedem Fall unwahrscheinlich.

Angesichts ungenutzter Förderkapazitäten von schätzungsweise 6,5 Millionen Barrel – über die Hälfte davon lagern in Saudi-Arabien – werden die Opec-Länder nicht zögern, ihre Produktion zu erhöhen, falls ein Militärschlag gegen den Irak die Ölausfuhr des Landes zum Erliegen bringen oder das weltweite Angebot aus anderen Gründen hinter der Nachfrage zurückbleiben sollte. Obwohl die Opec-Staaten einen Preisanstieg gut gebrauchen könnten, um ihre wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu überwinden, peilen sie nach wie vor einen Barrelpreis von 22 bis 28 Dollar an. Vor allem einige Regime am Golf haben sich durch die Kraftmeierei der Bush-Administration nach dem 11. September stark beeindrucken lassen und sind gern bereit, ihre Sicherheit und ihr Überleben durch eine Steigerung der Tagesfördermenge um einige hunderttausend Barrel zu erkaufen.

Die langfristigen Konsequenzen der Tragödie vom 11. September dagegen werden wohl weit gravierender sein als die möglichen kurzfristigen Preisschwankungen. In den Verbraucherländern lässt der Kampf gegen den internationalen Terrorismus wieder einmal Zweifel an der Sicherheit der Erdölversorgung aufkommen. Der Nahe Osten wird in seiner Funktion als wichtigste Förder- und Exportregion zunehmend in Frage gestellt. Erste Anzeichen für eine Umstrukturierung des weltweiten Erdölmarkts sind bereits erkennbar. Die Annäherung zwischen den Vereinigten Staaten und Russland deutet ebenso in diese Richtung wie das wiedererwachte Interesse für die Fördergebiete in Zentralasien und Westafrika. Dennoch ist es nicht besonders wahrscheinlich, dass sich die Abhängigkeit vom nahöstlichen Öl merklich reduzieren und eine künftige Energiekrise gänzlich vermeiden lässt.

Einer der Hauptgründe hierfür liegt in der wahrscheinlich härteren Gangart der Vereinigten Staaten und in ihrer Sanktionspolitik. Die Einbindung der EU-Länder in den US-amerikanischen Kampf gegen den Terrorismus – wie freiwillig oder nicht sie auch zustande kommen mag – verbietet in puncto „Sekundärsanktionen“ gegen den Iran und Libyen3 jede Abweichung von der Linie der Vereinigten Staaten. Schwer vorstellbar scheint auf absehbare Zeit, dass Europa und Japan die US-Sanktionen gegen Drittländer fortgesetzt ignorieren können und neue Erschließungs- und Förderabkommen mit dem Iran und Libyen unterzeichnen. Mit Blick auf den Irak lässt sich bestenfalls eine Fortsetzung des US-Programms „Öl gegen Lebensmittel“ erhoffen, wenn auch unter verschärften Bedingungen. All dies wird dazu führen, dass in den drei genannten Ländern, in denen knapp ein Viertel der Welterdölreserven liegt, die Erdölinvestitionen weiter zurückgehen.

Angesichts eines solchen Investitionsstopps in der Region wenden sich die internationalen Ölgesellschaften nun anderen Fördergebieten zu. Ihre Begehrlichkeit richtet sich auf Westafrika und zumal Angola, desgleichen auf die Anrainerstaaten des Kaspischen Meers sowie Russland. Allein auf dem Kaschagan-Ölfeld in Kasachstan werden doppelt so große Vorkommen wie in der britischen Nordseeregion vermutet.

Allerdings sollte man darüber nicht die tatsächlichen Relationen aus dem Auge verlieren. Mit 39 Milliarden Barrel belaufen sich die im Golf von Guinea nachgewiesenen Gesamtvorkommen einschließlich der nigerianischen auf gerade 5,2 Prozent der Weltreserven, die in Zentralasien auf knapp 1,6 Prozent – die nahöstlichen dagegen auf 66 Prozent.

Als weitere Konsequenz des 11. September zeigt sich eine Erwärmung in den Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland, die ein verstärktes Engagement von US-Gesellschaften beim Ausbau des russischen Erdöl- und Erdgassektors nach sich zieht. Ende der Achtzigerjahre lag Russland mit einer täglichen Erdölproduktion von 11,4 Millionen Barrel weltweit an der Spitze, bevor die Förderung bis 1996 auf 6,2 Millionen Barrel zurückging. In den letzten fünf Jahren zog die Produktion erneut auf 7,3 Millionen Barrel an. Gründe hierfür waren die Umstrukturierung der Branche in den Jahren 1992 und 1993, die Rubelabwertung infolge der Finanzkrise im August 1998 und der Preisanstieg in den Jahren 1999/2000. Auch in den kommenden Jahren sollen die Förder- und Exportmengen weiter ansteigen. Die Voraussetzungen hierfür scheinen gegeben: Mit schätzungsweise 48,6 Milliarden Barrel besitzt das Land 4,6 Prozent der Welterdölreserven. Doch angesichts des wachsenden Inlandsbedarfs wird der heute bei 6,3 Prozent des Weltexports liegende Anteil bis 2010 schwerlich 7 oder 8 Prozent übersteigen können.

So erscheint der von Afrika, Zentralasien und Russland zu erwartende Beitrag zur Deckung des weltweiten Erdölbedarfs zwar nicht gerade als Quantité négligeable, an der herausragenden Rolle der Golfstaaten jedoch wird sich angesichts der steigenden Nachfrage nichts ändern. Sämtliche Prognosen zum Weltenergiebedarf stimmen – bei kleineren Abweichungen – darin überein, dass die Golfregion auch langfristig das Zentrum der Erdölindustrie bleibt. Die enormen nachgewiesenen Reserven, die riesigen, noch nicht erschlossenen Ölfelder vor allem im Irak und Iran sowie die niedrigen Förderkosten – all dies lässt keinen Zweifel, dass der zu erwartende Anstieg des Weltenergieverbrauchs zum allergrößten Teil durch den Nahen Osten gedeckt werden wird.

Dies hat der im November 2001 veröffentlichte Bericht der Internationalen Energiebehörde (IEA) zwei Monate nach den Anschlägen auf New York und Washington zur rechten Zeit erneut in Erinnerung gerufen. Die IEA hält an ihren Vorjahresprognosen zur weltweiten Bedarfs- und Angebotsentwicklung in den kommenden 20 Jahren fest und geht von einer jährlichen Nachfragesteigerung von 1,9 Prozent aus.

Demnach würde die weltweite Nachfrage bis 2010 auf 95,8 Millionen Barrel, bis 2020 auf 114,7 Millionen Barrel steigen – eine Zunahme des Tagesbedarfs um 20 Millionen bzw. 40 Millionen Barrel. Um diesen zusätzlichen Bedarf zu decken, müssten die Förderkapazitäten bis 2010 um das Doppelte der derzeitigen Kapazität Saudi-Arabiens, bis 2020 um 130 Prozent der derzeitigen Gesamtkapazität aller Opec-Staaten ausgebaut werden. Ob und wie diese kolossale Herausforderung zu bewältigen ist, wagt momentan niemand vorherzusagen.

Langfristige Bedarfsschätzungen sind naturgemäß nicht ganz so schwierig wie langfristige Angebotsprognosen, weil die für die Bedarfsentwicklung entscheidenden Faktoren – Wirtschaftswachstum, Bevölkerungszunahme und Preiselastizität – leichter festzumachen sind. Auf der Angebotsseite hingegen gibt es eine Menge Fragezeichen, darunter die ungewisse Investitionsentwicklung, die politische Stabilität in den meisten Förderländern, die Sanktionspolitik gegen Länder wie den Irak, Iran oder Libyen und die Erdölpolitik der Exportländer.

Unter Berücksichtigung dieser Unwägbarkeiten geht die Internationale Energiebehörde davon aus, dass sich das Angebot aus Nicht-Opec-Staaten bis 2010 bei 46 bis 47 Millionen Barrel einpendeln und anschließend zurückgehen wird. Um die enorme Steigerung des Weltbedarfs zu decken, müsste die Opec-Förderung demnach drastisch zunehmen: bis 2010 auf 44,1 Millionen Barrel, bis 2020 auf 61,8 Millionen Barrel, was mehr als einer Verdoppelung im Lauf der nächsten zwanzig Jahre gleichkommt. Vor allem die fünf nahöstlichen Opec-Miglieder Saudi-Arabien, die Vereinigten Emirate, Kuwait, Iran und Irak müssten ihre Förderung gegenüber dem Vergleichsjahr 1997 (19,5 Millionen Barrel) auf 30,5 Millionen im Jahr 2010 und 46,7 Millionen Barrel im Jahr 2020 steigern. Ihr Anteil an der Welterdölförderung würde demnach von 26 Prozent 1997 auf 32 Prozent 2010 und 41 Prozent 2020 wachsen.

Die Abhängigkeit der Verbraucherländer von Erdölimporten – vor allem aus dem Nahen Osten – würde folglich weiter zunehmen. Für den Zeitraum 1997–2020 steht eine Zunahme der Importabhängigkeit von 44,6 Prozent auf 58 Prozent für die Vereinigten Staaten, von 52,5 Prozent auf 79 Prozent für Europa und von 88,8 Prozent auf 92,4 Prozent für den pazifischen Raum zu erwarten. Ähnlich drastisch wie die Erdölförderung müsste auch die Erdgasproduktion des Nahen Ostens wachsen: von 223 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2000 auf 524 Milliarden Kubikmeter 2020.

Ein großes Fragezeichen steht hinter dem enormen Investitionsbedarf, mit dem die naturbedingt nachlassende Ergiebigkeit der Erdölfelder kompensiert und neue Förderkapazitäten aufgebaut werden müssten. Verschiedene Schätzungen gehen für den Zeitraum 2001–2010 von über 300 Milliarden Dollar in den Hauptförderländern des Nahen Ostens und von rund 1 000 Milliarden Dollar in den Nicht-Opec-Ländern aus. Angesichts der ungewissen Zukunftsperspektiven nach dem 11. September scheint es mehr als fraglich, ob diese enormen Investitionssummen aufgebracht werden können.

Schwierigkeiten bereitet dabei weniger die Politik der Exportländer als vielmehr das Preisniveau und die internationalen Rahmenbedingungen. Die libysche Revolution von 1969, die islamische Revolution im Iran 1979 und der Krieg gegen den Irak 1991 zeigen anschaulich, dass diese Länder unabhängig vom jeweiligen Regime ihre Förder- und Exportkapazitäten nur deshalb ausbauen, weil sie höhere Einnahmen brauchen. Dies setzt allerdings voraus, dass sie keinen Sanktionen unterliegen, innenpolitisch hinreichend stabil sind, um ausländisches Kapital anzuziehen, und dass der Ölpreis sich auf ein angemessenes Niveau einpendelt. Gemessen am Geldwert von 1973 entspricht aber selbst ein Barrelpreis von 25 Dollar inflationsbereinigt nur 7,2 Dollar, im Vergleich zu Anfang der Achtzigerjahre nur etwa 12 Dollar. Das eigentliche Problem sind also nicht die Ölreserven, sondern das Preisniveau und die politische Stabilität im Nahen Osten – eine Region, die auch in den kommenden Jahrzehnten der neuralgische Punkt der Welterdölindustrie bleiben wird.

dt. Bodo Schulze

* Leiter des Centre Arabe d‘Études pétrolières (Paris) und Chefredakteur der Zeitschrift Le pétrol et le gaz arabes.

Fußnoten: 1 Der Preis des Opec-Korbs setzt sich aus den Durchschnittspreisen der repräsentativen Rohölsorten Saharan Blend, Arabian Light, Minas, Bonny Light, Dubai, Tia Juana Light und Isthmus zusammen. 2 Die Organisation der Erdöl exportierenden Länder (Opec) umfasst elf Länder: Saudi-Arabien, Irak, Iran, Kuwait, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate, Algerien, Libyen, Nigeria, Venezuela und Indonesien. 3 Sekundärsanktionen heißen die im „Iran-Libyan Sanctions Act“ (ILSA) vorgesehenen Sanktionen der USA gegen Unternehmen, die mehr als 40 Millionen Dollar in libysche oder iranische Energieprojekte investieren.

Le Monde diplomatique vom 14.06.2002, von NICOLAS SARKIS