14.06.2002

Flexible Strategie gegen das Netz der Netze

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Flexible Strategie gegen das Netz der Netze

JOHN ARQUILLA und David Ronfeldt sind die Erfinder der neuen US-Militärdoktrin, die den Vereinigten Staaten einen schnellen Sieg über das Talibanregime beschert hat. Sie glauben allerdings, dass Ussama Bin Laden und Al-Qaida doch noch „den aktuellen Krieg gewinnen könnten, wenn sie in den Besitz von Bio- oder Atomwaffen gelangen“. Deshalb müsse man eine spezielle Strategie gegen Netzwerke entwickeln, sich also auf einen „Netwar“ vorbereiten. Solche Überlegungen untergraben die Logik eines Angriffs gegen den Irak, gegen den auch ein ökonomisches Argument spricht: Ein Krieg im Nahen Osten würde zu einer neuen Ölkrise führen.

Von FRANCIS PISANI *

Dass der Krieg in Afghanistan durch kleine Spezialeinheiten entschieden wurde, ist hinlänglich bekannt. Über Funk dirigierten sie die US-Bomber in bestimmte Zielgebiete, die dann die identifizierten beweglichen Bodenziele mit ihrer massiven Feuerkraft eindeckten. Entscheidend bei dieser Taktik waren also die mobilen Einheiten – nicht nur dank ihrer supermodernen Ausrüstung, sondern mehr noch dank einer brandneuen Militärdoktrin. Entwickelt wurde die Doktrin mit Namen „Swarming“ von John Arquilla, Professor am Naval Postgraduate College in Monterey (Kalifornien), und David Ronfeldt, Forscher bei der Rand Corporation in Los Angeles.1

Wörtlich übersetzt, bedeutet to swarm „(aus)schwärmen“, im vorliegenden Kontext jedoch eher „wimmeln“ oder „sich kurzzeitig massenhaft ausbreiten“. Man assoziiert damit eine Heuschreckenplage oder eine „Rattenmeute“, um auf eine Metapher von Gilles Deleuze und Félix Guattari zurückzugreifen2 , in diesem Fall jedoch Heuschrecken oder Ratten, die dank modernster Technik miteinander kommunizieren. Als tausendfach potenzierte Guerilla, schreibt John Arquilla, „profitiert Swarming von zwei Entwicklungen, die sich innerhalb der letzten knapp hundert Jahre vollzogen haben: von der wachsenden Zerstörungskapazität kleiner Gruppen und von der zunehmenden Zielgenauigkeit der Waffensysteme. Wir haben es geschafft, die Reichweite und Treffsicherheit um das Hundertfache zu steigern. Deshalb sind wir in der Lage, unsere Gegner zu swarmen.“

Sehr kostspielig war diese Strategie nicht. Fast 60 Prozent der Bomben, die auf Taliban und al-Qaida niedergingen, wurden von B-52-Bombern abgeworfen, die „doppelt so alt waren wie die Piloten“. Die siegreiche Mischung sieht so aus: eine Handvoll Männer, altgediente Bomber, modernstes Kommunikationsgerät und High-Tech-Lenkwaffen, die zu einem hoch differenzierten strategischen Konzept umgesetzt werden. „Ohne eine Militärdoktrin, die auf den erforderlichen Organisationstypus abgestimmt ist, führen auch modernste Technologien in die Katastrophe. Das ist uns in Vietnam passiert.“

John Arquilla, ein ehemaliger Marine, arbeitet eng mit hochrangigen Beamten im Pentagon zusammen.3 Gleichwohl musste er „fasziniert feststellen, wie sehr sich manche dieser Leute abmühen, um dann doch die falschen Lehren aus diesem Feldzug zu ziehen“. Etwa wenn, wie Arquilla behauptet, manche Mitglieder des Generalstabs ein Vermögen in Waffensysteme investieren, die auf die Gegner von gestern zugeschnitten sind: die sowjetischen Panzerdivisionen im Angriff auf Europa oder die Transkontinentalraketen mit Nuklearsprengköpfen.

Im Netwar gewinnt, „wer am besten informiert ist, und nicht, wer die dickste Bombe hat“. Der Ausgang eines Konflikts hängt zunehmend von präziser Information und gut funktionierender Kommunikation ab. Dies erlaubt ein flexibleres Vorgehen und spricht eher für „netzförmige Organisationsstrukturen statt für die Hierarchien“ der traditionellen Streitkräfte. Arquilla schätzt, dass „90 Prozent unserer Anstrengungen auf militärstrategischen Konzepten beruhen, die von einem Staat als Gegner ausgehen“. Dieses Denken sei archaisch, eine Erblast aus der Zeit der sowjetischen Bedrohung und „völlig ungeeignet für die Kriegsführung gegen Netze“. Außerdem zeuge es nur von gedanklicher Bequemlichkeit: „Man macht gewissermaßen weiter wie bisher, weil einem nichts Besseres einfällt. Wir wissen, wie wir einen Nationalstaat anzupacken haben, aber nicht, wie wir uns einem Netz gegenüber verhalten sollen.“

Da stellt sich die Frage, ob die USA in Afghanistan nicht den falschen Gegner besiegt haben, indem sie das Talibanregime zerschlugen und nicht das Al-Qaida-Netz. Dieser Irrtum könnte sich als umso gravierenderer herausstellen, als die Zerstörung eines der Hauptzentren der Organisation Bin Ladens problematische Konsequenzen haben könnte. Arquilla meint: „Wenn ich das Zentrum eines weit gespannten Netzes geortet habe, rühre ich es am besten nicht an, weil es sich sonst auflöst und irgendwo neu formiert, wo ich es vielleicht nicht mehr finde.“ So konnten einige Al-Qaida-Mitglieder offenbar nach Westafrika flüchten, nach Guinea, Mali und Senegal, wo sie anscheinend niemand sucht.

Glücklicherweise, so Arquilla, hätten mehrere Verbündete der USA bereits Erfahrungen mit netzartig organisierten Gegnern sammeln können: Singapur mit den Seepiraten der umliegenden Meere, die Briten mit der IRA, die Italiener mit der Mafia, die Franzosen mit den algerischen Islamisten, Spanien mit der Baskenorganisation ETA. „Es gibt eine Menge Erfahrungen, von denen die Vereinigten Staaten profitieren können und sollten.“

Allerdings ist al-Qaida eine ausgesprochen komplexe Organisation, halb Sekte, halb mittelalterlicher Ritterorden – und im Grunde ein „Netz von Netzen“. Hier schaltet sich Netzwerkspezialist David Ronfeldt in die Debatte ein: „Al-Qaida hat die Kunst, Verbindungen zu anderen Gruppen und zwischen diesen zu spinnen, bis zur Vollendung weiterentwickelt. Die Organisation hat es sogar geschafft, Personen aus verschiedenen Gruppen für ganz bestimmte Operationen gezielt zusammenzubringen.“ Sie selbst stellt die „technische und ideologische Basis und die nötigen Gelder bereit“.

Wird die Zerstörung von al-Qaida den internationalen Terrorismus eindämmen? Kurzfristig vielleicht, meint David Ronfeldt: „Und dieses Ziel müssen wir unbedingt verfolgen. Aber bis wir es erreichen, werden viele der anderen Gruppen eine Zusammenarbeit entwickelt haben, und irgendeine andere Organisationsstruktur wird entstehen. Die Zerschlagung der großen Drogenkartelle in Kolumbien hat gezeigt, dass dies dem Drogenexport des Landes eben keinen Riegel vorgeschoben hat. Vielmehr sind viele andere, kleinere Gruppen entstanden, die wesentlich schwerer zu kontrollieren sind.“4

Bleibt die Frage, die jeden Mathematiker begeistert, den Leitern der Terrorismusbekämpfung hingegen den Schlaf raubt: Wie viele Knoten muss man zerstören, um ein Netz aktionsunfähig zu machen? Nach klassischer Militäranalyse, so Arquilla, „ist ein Feind bei Verlusten an Menschen und Material von 30 Prozent aufwärts nicht mehr handlungsfähig, dann bricht die militärische Organisation zusammen“. Anders bei einem Netz. Hier müsse man dem Gegner „mindestens doppelt so hohe“ Verluste zufügen, weil „manche Knoten und Segmente des Netzes die Verluste in anderen Netzteilen gar nicht spüren und die Zerstörungen daher nicht dieselbe psychologische Wirkung zeigen“.

Allerdings seien Militäreinsätze gegen solche Netze, die durch die Armut in der Welt ständig neuen Zulauf erhielten, nicht das einzig probate Mittel. Das Problem müsse bei der Wurzel gepackt werden durch eine umfassende Wirtschaftshilfe, „die das Armutsproblem und andere Formen von Not bekämpft“. David Ronfeldt weiß aber auch, dass die derzeitige Welle des Islamismus nicht viel mit materieller Not zu tun hat. Die Motive Ussama Bin Ladens und seiner Kumpane wurzeln in dem Gefühl, die „absolute Katastrophe“ (utter disaster) zu erleben. „Und diese Katastrophe ist nicht nur wirtschaftlicher und sozialer Natur. Sie hat auch eine politische, militärische, strategische Komponente. Diese Leute haben den Eindruck, ihre Welt werde von fremden Mächten mit Füßen getreten, etwa von den USA, aber auch von bestimmten Teilen ihrer eigenen Gesellschaft.“ Die USA könnten gewiss helfen, das Armutsproblem zu lösen, „aber ich weiß nicht, ob sie dieses Gefühl der absoluten Katastrophe auflösen können“.

Dass die Zerschlagung des „Netzes der Netze“ solche Schwierigkeiten bereitet, ist nach Arquillas Ansicht umso Besorgnis erregender, als „al-Qaida den Krieg womöglich gewinnen kann, wenn sie in den Besitz von Atomwaffen gelangt. Eine einzige Explosion würde genügen, um jegliche Vorstellung von amerikanischer Hypermacht und weltweiter Vorherrschaft zu zerstören, in den USA ebenso wie in der übrigen Welt.“

Nukleare Erpressung ist also nicht mehr auszuschließen. Das radikal Neue an dieser Situation ist, dass es keine Möglichkeiten der Abschreckung gibt. Tausende von russischen Atomsprengköpfen bereiten niemandem schlaflose Nächte, „weil wir“, so Arquilla, „darauf reagieren können. Gegen ein nicht staatlich verfasstes Netz dagegen, dessen Zellen und Kerne über die ganze Welt verstreut sind, kann man keine Atomwaffen einsetzen.“ Wo Repressalien ausgeschlossen sind, verliert Abschreckung jede Wirkung. Und dabei würde eine einzige kleine Bombe schon ausreichen, eine von der Sorte, die in einen „Atomkoffer“ passt. Solche Sprengsätze kommen nicht per Rakete – „die tragen immer die Adresse des Absenders“ – sondern in einem der zahllosen Container, die Tag für Tag unüberprüft in die Vereinigten Staaten gelangen.5

Verhandeln wäre eine prima Alternative

ARQUILLA betont: „Es muss eines unserer wichtigsten Kriegsziele sein, zu verhindern, dass der Terrorismus und das organisierte Verbrechen von der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen profitieren.“ Im Unterschied zur amerikanischen Regierung schlägt Arquilla jedoch vor, mit Saddam Hussein einfach zu verhandeln. „Der Irak muss der Welt zusichern, dass er keine Massenvernichtungswaffen besitzt, dass er keine zu erwerben versucht und dass er vollständige, detaillierte und kontinuierliche Inspektionen zulässt.“ Im Gegenzug müsste sich Washington mit seinen Verbündeten verpflichten, das irakische Regime nicht zu stürzen. „Eine schwere Entscheidung, das räume ich durchaus ein. Aber ich halte es für einen strategischen Fehler, die Tatsache, dass Saddam Hussein an der Macht ist, mit der Frage der Massenvernichtungswaffen zu verquicken.“ Husseins Präsidentschaft nicht anzutasten sei doch ein vergleichsweise geringes Zugeständnis, wenn man bedenke, dass sein Sturz den Westen nötigen würde, „den Irak für unbestimmte Zeit zu besetzen, wahrscheinlich auf Jahrzehnte hinaus“. Hussein würde den Vorschlag auf der Stelle akzeptieren, weil es für ihn in derartigen Verhandlungen endlich etwas zu gewinnen gäbe. Die entscheidende Frage, die sich hier stellt, lautet demnach, wie ein Konflikt beendet werden kann. Strategen haben bekanntlich immer mehrere Möglichkeiten auf Lager. Von den höchsten Entscheidungsträgern seines Landes bekommt Arquilla immer nur das eine zu hören: „Nur wenn sämtliche Terroristen tot sind, ist der Konflikt beendet.“

Arquilla hingegen sieht drei Möglichkeiten, wobei er Wert darauf legt, als Stratege zu sprechen, als systemisch denkender Theoretiker: erstens einen vollständigen Sieg der USA, was „angesichts der Ereignisse in Afghanistan äußerst unwahrscheinlich ist“ – immerhin konnte Bin Laden entwischen, und al-Qaida formiert sich anderswo neu. Zweitens einen Sieg der al-Qaida, falls die Gruppe sich in den Besitz von Massenvernichtswaffen bringen kann. Und drittens eine Weltgesellschaft, in der dutzende von al-Qaida-ähnlichen Netzen existieren und zum Teil mit einzelnen Staaten zusammenarbeiten.

Als Ausweg aus der Sackgasse schlägt Arquilla verstärkte Anstrengungen im Bereich „nichtmilitärischer Strategien“ vor, die sich an „nichtstaatliche Akteure“ der Zivilgesellschaft wenden: „Die Nichtregierungsorganisationen sind durch ihre einzigartige Zwischenposition am ehesten in der Lage, beide Seiten zu respektieren und zwischen ihnen zu vermitteln, um die Verständigung zu erleichtern.“

Solche Überlegungen Arquillas mögen verführerisch klingen, überzeugend sind sie nicht. Immerhin beruht der Vorschlag auf einer ausformulierten Theorie, die Arquilla und Ronfeldt in einem ihrer Bücher6 entwickelt haben. Darin schlagen sie vor, an Teilhard de Chardins Konzept der „Noosphäre“ anzuknüpfen. Chardin hatte in Unterscheidung von Geosphäre (Materie) und Biosphäre (Leben) den Begriff der Noosphäre (Geist) geprägt, in der das weltumspannende Netzwerk an Ideen, Information und Kommunikation zusammenläuft. Arquilla und Ronfeldt sprechen nun von einer Noopolitik. „Wir wollen weg vom Cyberraum“, erklärt Ronfeldt. „Unter Noopolitik ist ein dem Informationszeitalter entsprechendes Verhalten in außenpolitischen und strategischen Fragen zu verstehen, das die Gestaltung gemeinsamer Ideen, Werte, Normen, Gesetze und Moralvorstellungen mit ‚sanften Mitteln‘ anstrebt.“ Entscheidend sei die „Fähigkeit, die eigenen Zielvorstellungen im internationalen Bereich eher durch Attraktivität als durch Zwang zu verwirklichen“.

Dass dies nicht leicht sein wird, ist den beiden Autoren durchaus bewusst: „Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Schaffung eines kooperativen Netzwerks zur Bekämpfung nichtstaatlicher Akteure umso schwieriger sein wird, je mehr wir uns blind auf militärische Gewalt verlassen. Darin besteht die große Herausforderung im neuen Krieg gegen den internationalen Terrorismus.“

dt. Bodo Schulze

* Journalist, Los Angeles.

Fußnoten: 1 Siehe vor allem ihr letztes Buch (mit einem nach dem 11. September verfassten Nachwort), „Networks and Netwar“, Los Angeles (Rand) 2001. 2 Dazu Gilles Deleuze/Félix Guattari, „Tausend Plateaus“, Berlin (Merve) 1992. 3 Zu den unterschiedlichen Tendenzen im Pentagon siehe: „The Fighting Next Time“, The New York Times Magazine, 10. März 2002. 4 Die kolumbianischen Behörden listen nicht weniger als 162 neue Organisationen auf, die in Zusammenarbeit mit 40 internationalen Verbrechersyndikaten den Drogenexport aus Kolumbien organisieren. El Tiempo, Bogotá, 25. März 2002 (http://eltiempo.terr.com.co/). 5 Nach Informationen des Londoner Economist werden 90 Prozent der weltweiten Warentransporte mittels Containern abgewickelt. Über 15 Millionen Container sind im Umlauf, nur knapp 2 Prozent davon werden vom Zoll oder der Polizei kontrolliert. 6 „The emergence of Noopolitik. Toward an American Information Strategy“, Los Angeles (Rand) 1999.

Le Monde diplomatique vom 14.06.2002, von FRANCIS PISANI