Risiken und Nebenwirkungen eines Diskurses
DAS Geschäft mit den Risiken floriert. Je größer und vielfältiger die Ängste der Menschen, umso lukrativer die Gewinne für Versicherungsgesellschaften und Anbieter privater Sicherheitsdienste. Da aber bei den wirklichen Katastrophen der unterschiedlichsten Art kaum je die verursachenden Organisationen, sondern stets der „Faktor Mensch“ und sein Versagen verantwortlich gemacht werden, wächst mit der – potenziellen – Schuld des Einzelnen dessen Bedürfnis nach Absicherung nur noch mehr. Wir steigern uns in imaginierte Gefahren, in einen regelrechten Katastrophismus hinein – und fragen uns gar nicht mehr, wo die tatsächlichen Risiken liegen und was wir gegen sie unternehmen können.
Von DENIS DUCLOS *
Es vergeht kein Tag, an dem die Medien nicht vor den Gefahren warnen, die das Leben in unserer Gegenwart mit sich bringt. Wir alle wappnen uns gegen den Daueralarm, und das dämpft unsere Lebensfreude. Wir werden zu beunruhigten Bürgern, bepackt mit Phobien, ausstaffiert mit Geborgenheitsritualen, umgeben von gegenseitigem Misstrauen. Welche Mächte lassen wir im Schatten eines solchen Klimas der Belagerung gedeihen? Besteht das wahre Risiko des Risikos nicht darin, das wir das Schlimmste eben damit heraufbeschwören, dass wir uns von seiner Allgegenwart überzeugen?
Das Risiko, ersatzweise an die Stelle der Angst vor Verdammnis oder Hungersnot getreten, wird vor allem als ein Mittel zur Einflussnahme benutzt. Wie kann die Öffentlichkeit – in den Fängen omnipotenter Versicherungskonsortien, in Schach gehalten durch Myriaden von Polizei- und Sicherheitsbeamten, abgeschirmt durch Heerscharen von Vertrauensmanagern, Gesundheitskontrolleuren und psychologischen Beratern, ausgesetzt den dramatischen Voraussagen der Journaille – wie kann diese Öffentlichkeit nur vergessen, dass das Risiko ein gewaltiges Potenzial darstellt, um Profit, Arbeitsplätze und vor allem Macht daraus zu schöpfen?
Gewiss, die Reden widersprechen sich. Die jeweiligen Antagonisten spielen das Risiko ihrer eigenen Aktivitäten herunter und bauschen das der anderen auf: Die Befürworter der Atomenergie ereifern sich über Unfälle im Straßenverkehr oder betonen die Harmlosigkeit der Kernkraft gegenüber dem Treibhauseffekt, den die Ölmagnaten für halb so schlimm erklären. Die Autohersteller kritisieren Bäume am Straßenrand (800 Tote in Frankreich jährlich), und die Investoren verdammen das „Nullrisiko“, weil dessen Vorsichtsideologie die Aktionäre entmutige, während die strengen Vertreter des „Null-Fehler-Prinzips“ oder die Anhänger der „null Toleranz“ hart gegen eine als terroristischer Bodensatz verdächtigte Kriminalität vorgehen wollen.
So bekämpfen sich Versicherer, Militärs und Techniker, Moralisten und Wirtschaftsspezialisten: Jeder sieht es von Gefahren wimmeln, die unmöglich gemeinsam unter Kontrolle zu bringen sind. Je mehr über das Risiko diskutiert wird, umso stärker versuchen die daran interessierten Profis, ihre Anteile am Markt der Ängste zu steigern oder mit größerer Härte zu intervenieren. Der erste Effekt des Risikotheaters besteht darin, dass es die öffentlichen Ängste auf den Siedepunkt bringt.
Der zweite Effekt: Die Großunternehmen schonen sich gegenseitig und verständigen sich darauf, mit dem Finger auf den „Faktor Mensch“ zu zeigen – auf den Kapitän des Schlingerkahns, den Total Fina Elf gechartert hat, auf den Arbeiter, der in einer Werkhalle mit explosiven Dämpfen eine Zigarette raucht, auf den Techniker, der vorschriftswidrig mit den Brennstäben eines Kernreaktors hantiert, den Linienflugpiloten, der sich in der Skala irrt, den einfachen Bürger, an dessen Augenhintergrund demnächst identifiziert werden soll, ob er nicht doch ein verkappter Krimineller ist. Weil der Einzelne eine leicht zu treffende Zielscheibe ist, bekommt er die geballte Ladung an Vorsorgemaßnahmen, Schutzvorkehrungen und Repressalien verpasst, während die Organisationen sich aus der Affäre ziehen. Nach den Aufsehen erregenden Prozessen gegen Einzelpersonen praktiziert beispielsweise die französische Blutproduktindustrie weiterhin das so genannte Plasma Pooling, das nachweislich zur Aidsverbreitung beigetragen hat und bei dem nicht auszuschließen ist, dass es die Verbreitung anderer, derzeit nicht aufspürbarer Krankheitserreger fördert. Und die merkwürdig anonymen Tiermehlproduzenten sind trotz der BSE-Krise nach wie vor gut im Geschäft.
Viele Unternehmen, die für die Verwendung von Asbest verantwortlich sind (in den kommenden zehn Jahren sind mehrere tausend Tote zu erwarten), werden nicht strafrechtlich verfolgt, sondern müssen lediglich technische Umstellungen vornehmen.1 Den Opfern dagegen wirft man vor, sie hätten auftretende Symptome nicht gemeldet, manchmal werden sogar die Kosten massiver Produktionsfehler auf sie abgewälzt. Ein Beispiel dafür ist der Beschluss der Regierung Juppé, den Verkauf von 20 Millionen vor 1993 hergestellter Gebrauchtwagen wegen Asbestbelastung zu verbieten. Selbst wenn das Risiko einem identifizierbaren industriellen Hersteller zugewiesen werden kann, besitzt dieser oft genügend Macht, um die Justiz auszubremsen: Vierundzwanzig Jahre nach der verheerenden Ölpest durch die Havarie des Supertankers Amoco Cadiz kämpfen manche Opfer immer noch darum, dass sie die Entschädigung, die ihnen von amerikanischen Gerichten zugesprochen wurde, auch wirklich bekommen.2
Egoistische Autofahrer und andere Katastrophen
DIE Vertreibung der Bewohner aus den Häuserblocks des sozialen Wohnungsbaus, die (aus Gründen des baulichen Verfalls oder vielleicht ja wegen der Angst vor „gefährlichen Bevölkerungsgruppen“) einzustürzen drohen, ist ein leichtes Spiel; weit schwieriger dagegen lässt sich die Umsiedlung gefährlicher Industrieanlagen an. Während die Kritik an den Standorten solcher Anlagen durch die Explosion der Düngemittelfabrik AZF in Toulouse wieder aufflammte, gerät in Vergessenheit, dass es seit den Katastrophen von Feyzin (Explosion einer Raffinerie, 1966), Seveso (Dioxinverseuchung mit schweren Folgen für die Umwelt, 1976) oder Flixborough (Explosion von Cyclohexan in einer Chemiefabrik, 28 Tote, 1974) immer neue Vorschriften gegeben hat. Aber wie soll man denn die Urbanisierung (die strategische Wählerpotenziale schafft) in den Griff bekommen, wie ein Management davon abhalten, immer nur Personal abzubauen und es durch eine ebenso abstrakte wie inkompetente „Führungskontrolle“ zu ersetzen?
Die vor gutem Gewissen strotzende Kontrolle über das Individuum dagegen läuft wie von selbst. Wenn irgendein Spezialist des Gesundheitswesens einen Fahrtenschreiber (wie bei Lastkraftwagen) in Personenwagen installieren will, gerät er kaum in Widerspruch zur großen Koalition aus Autoversicherern, Autobahngesellschaften, Autofabrikanten und der Polizei, die allesamt den Egoismus „asozialer“ Autofahrer geißeln. Dieser einfache Konsens verschont nicht nur die Autohersteller, die behaupten, sie hätten die Sicherheit der Fahrzeuge erhöht, sondern erlaubt auch, über den zweifelhaften Zustand der Landstraßen, die Belastung der europäischen Autobahnen durch den Schwerverkehr, die hochgezüchteten Flitzer, die Anstiftung zum Benzinkonsum oder die Mehrfachmotorisierung der Haushalte in weitläufigen Vororten hinwegzusehen.
Die Großunternehmen haben das gemeinsame Interesse, nichts von diesen kollektiven Mängeln wissen zu wollen. Sie ziehen lieber den einzelnen Autofahrer mit seinem psychokulturellen Profil zur Verantwortung. Warum sollten sie auch Untersuchungen anerkennen, die zeigen, dass die Unfallquote eines Landes eher mit dem Ausbau seines Schnellstraßennetzes steigt, das sowohl hohe Geschwindigkeiten als auch Zusammenstöße begünstigt? Im Gegenteil: All jene, die in strafrechtlich verantwortlichen Einzelpersonen, in Verbrauchern, Mandanten, Steuerpflichtigen oder Versicherungsnehmern den Rohstoff ihrer Aktivitäten sehen, halten sich mit Vorliebe an das Prinzip der individuellen Schuldzuweisung.
Auch wenn die Kontrolle bestimmten Verhaltensweisen von vornherein entgegenwirkt, so regelt sie doch nicht alles. Die Müdigkeit der Lastwagenfahrer beispielsweise entzieht sich ihrem Einfluss. Außerdem kann sie die Bereitschaft zum Heldenmut im Beruf unterlaufen, der manchmal die einzige Chance ist, schwere Unfälle zu verhüten. Ein Prozess gegen Atomingenieure, die kürzlich wegen vorschriftswidriger, aber notwendiger Eigenmächtigkeiten verurteilt worden sind, zeigt in aller Deutlichkeit, worum es in puncto Risiko geht: um den Kampf zwischen der Würde des Einzelnen und der Arroganz der Hierarchen.
Natürlich gibt es warnende Stimmen, die gegen den institutionellen Gedächtnisschwund vorgehen. Über die Pioniere des Widerstands gegen das Schweigen hinaus, wie etwa die amerikanische Biologin Rachel Carson, die in den Sechzigerjahren den Kampf gegen den Einsatz von DDT anführte, gibt es Forscher wie Richard Lacey, der den britischen Behörden zum Trotz die Epidemie des Rinderwahnsinns öffentlich bekannt machte. In Frankreich hat André Cicollela die Gefahren von Glykoläther enthüllt, während Jean-François Viel den schwach ionisierenden Strahlen in der Umgebung von Atommeilern nachgegangen ist, Marcel Goldberg und Ellen Imbernon die Auswirkungen auf die Belegschaft von Atomkraftwerken untersuchten und andere das ganze Ausmaß der Asbesttragödie enthüllt haben.
Verglichen mit den sozialtechnischen Mechanismen, auf die wir uns stützen, um Macht über andere zu gewinnen, kann das Individuum also kein allzu großer Risikostifter sein. Der Soziologe Ulrich Beck hat sich in seinem Buch über die Risikogesellschaft zum subtilen Sprachrohr einer äußerst problematischen These gemacht, die das zeitgenössische Individuum als einen beständigen Verwalter der Unsicherheit, einen wachsamen Kontrolleur seiner selbst und der anderen begreift.3 Gegen Beck muss betont werden, dass das substanzielle Risiko allein in den organisierten Massen begründet ist, die das Verhalten der Individuen mehr denn je steuern.
Schließlich geht es nicht nur darum, die Vorwürfe gegen Kollektive und die Beschuldigungen gegen unvorsichtige Einzelne wieder ins rechte Verhältnis zu setzen. Vielmehr muss die Risikothematik global entschärft werden, denn das bloße Klima der Angst bürdet jedem Einzelnen schon eine maßlose Schuld auf, während es seine Freiheit – angefangen bei der Gedankenfreiheit – durch eine Vielzahl technischer und administrativer Hindernisse einengt.
An dieser Stelle müssen wir zwei Arten des Risikos unterscheiden: das reale und das fantasierte Risiko. Beide hängen zusammen – schließlich kann auch ein Phantasma zur realen Gefahr werden –, aber im Umgang mit ihnen sind gegensätzliche Methoden vonnöten. Während wir das reale Risiko direkt bei seinen Wurzeln, den „objektiven Ursachen“, zu packen versuchen, lässt sich das fantasierte Risiko nur verringern, indem man die Spirale der Entrüstung und der Repression zurückdreht und den Schrecken beruhigt, der nichts mit der vorgeblichen Gefahr zu tun hat. Wie aber sollen wir eigentlich erkennen, woran wir sind, wenn die fantasierten Risiken im Mund der Schwarzmaler und Untergangspropheten als reale erscheinen?
Das reale Risiko bezieht sich auf offenkundige Tatsachen, tatsächliche oder potenzielle Ereignisse, die große Bevölkerungsgruppen betreffen: größere Unfälle, Katastrophen, verheerende Epidemien. Dafür bedarf es der Aufklärung, damit den für ihre eigenen Handlungen blinden Organisationen jene „Realität“ vor Augen geführt wird, deren Missachtung so fatale Folgen zeitigt. Wenn ein Risiko äußerst real ist, dann wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Katastrophe wiederholt. Und es kommt darauf an, deren Ursachen zu verstehen.
Die amerikanische Risikolehre lotet seit zwanzig Jahren die Möglichkeiten aus: Entweder – nach der Theorie von der Kriminalität der Organisationen von Diane Vaughan4 – hat eine Organisation selbst kriminelle Tendenzen, oder – nach der Theorie der „normalen Katastrophen“ von Charles Perrow5 – es tritt ein Niveau nicht mehr beherrschbarer Unsicherheit ein. Nachdem einige „Urkatastrophen“ zum Gegenstand zahlloser Untersuchungen wurden, hat sich eine neue Disziplin gegründet: die Risikoforschung. Die Explosion der Antriebssysteme des Raumtransporters Challenger (28. Januar 1986) lässt sich mit der ersten Theorie erklären: Alle beteiligten Fachleute hatten sich übernommen, das Risikobewusstsein gezielt verdrängt und unberechenbar gemacht. Unter die Rubrik „Kriminalität“ fallen auch die Katastrophe von Bhopal, wo die zuständigen Techniker die Chemiefabrik vor Feierabend verlassen hatten, und die systematische Verleugnung des BSE-Risikos.6
Um eine „normale Katastrophe“ aufgrund „nicht mehr beherrschbarer Unsicherheit“ handelte es sich bei der Überschwemmung des Atomkraftwerks Blayais durch die Fluten der Gironde während der schweren Unwetter im Dezember 1999: Als der Atommeiler gebaut wurde, war das Ausmaß der jüngsten Klimaschwankungen kaum vorhersehbar. Die gefährlichen Großanlagen gelten als hermetisch abgeschlossene Systeme, sind aber weder vor Umwelteinflüssen noch vor ihrer eigenen Komplexität sicher. So wurden etwa bei der Bildung des hochexplosiven Dampf-Wasserstoff-Gemisches im Kernreaktor von Three Mile Island am 28. März 1979 die Techniker mit Fehlinformationen der Sicherheitssysteme überschwemmt.7 Das Perrow‘sche Paradox, dass zu viel Wissen am Ende Unsicherheit erzeugt, trifft auf zahlreiche technische Großsysteme zu – Züge, Flugzeuge, Netze aller Art.8
Keine Versicherung gegen I love you
DER kollektiven Kriminalität entspricht die Anklage vor Gericht. Das Sicherheitsrisiko wird mit einem Kostenaufwand gedeckt, der dem erfahrungsgemäß Wahrscheinlichen angemessen ist, oder … man lässt die Finger davon, bis die Technik das Unbekannte beherrscht. Wie Ortwin Renn9 gezeigt hat, kann es aber passieren, dass Kriminalität und Unsicherheitsfaktoren nicht mehr lokalisierbar sind: wenn sich – aus der Vergangenheit – nicht ermitteln lässt, wer für die BSE-Übertragung auf Schafe „verantwortlich“ ist; und wenn sich – für die Zukunft – die Verbreitung eines genveränderten Organismus nicht mehr aufhalten oder die Langzeitwirkung schwacher Strahlung nicht einschätzen lässt.
In solchen Fällen wird die Antwort schwierig. Wen beschuldigen, wenn die gefährliche Entscheidung von einer ganzen sozialen Gruppe getroffen wird – etwa den modernen Landwirten, die das Grundwasser verseuchen? Wie das Risiko stoppen, wenn sich das, was einmal auf den Weg gebracht ist, in unvorhersehbarer Form ausbreitet (eine giftige Alge, eine neuartige Krankheit) oder sich als irreversibel erweist (genetische Mutationen, Klimaveränderungen)? Was tun, wenn das Ausmaß der Katastrophe jede Möglichkeit der Versicherung oder gar der technischen Regulierung übersteigt, wie bei der Kernschmelze in Reaktorblock IV des Atomkraftwerks Tschernobyl am 26. April 1986?
Der französische Verband der Versicherer fürchtet, „die Entwicklung der Unternehmen im Bereich der Verantwortung nicht mehr begleiten zu können“.10 Hinter dieser harmlos klingenden Formulierung ahnt man die Milliarden, die das I-love-you-Virus, der Rückruf fehlerhafter Produkte, die Havarie eines Öltankers oder die massenhafte Herdenschlachtung gekostet haben.
François Ewald hat das Versicherungswesen als Sieg über die Zerreißprobe der juristischen Konflikte im 19. Jahrhundert und als „Garant der modernen Demokratie“ dargestellt.11 Trifft das noch zu, wenn die Versicherten immer stärker unter Druck geraten und schließlich die Grenze ihrer Zahlungsfähigkeit erreichen? Wenn sich Unglücksfälle häufen, für die in den Augen der Öffentlichkeit eigentlich Organisationen die Verantwortung übernehmen müssten?
Doch die juristische Schuldzuweisung ist kein Allheilmittel. In manchen Fällen hat die Klärung der Verantwortlichkeiten größere Transparenz erzwungen, aber oft enden die Prozesse mit Verurteilungen, die in keinem Verhältnis zur erfolgten Katastrophe stehen. Im Übrigen, sagt Philippe Vesseron, der Beauftragte für Gefahrenprävention im französischen Umweltministerium, „versuchen Abgeordnete, Industrielle oder Staatsbeamte in der Regel, verantwortlich zu handeln, ohne ständig an ihre strafrechtliche Verantwortung zu denken“12 . Schlimmer noch: Die mittlerweile permanente Drohung der strafrechtlichen Verfolgung kann dazu führen, dass jede künftige Attacke im Vorhinein abgewehrt wird (wie etwa durch die Erklärung, die jeder Patient bei einer Krankenhauseinweisung unterschreiben muss) oder dass alles gleich über die Medien abgehandelt wird.
Die Ausweitung der Gefahren impliziert nicht den Übergang zur ständigen gegenseitigen wachsamen Beobachtung, wie Ulrich Beck es uns als futuristisches Ideal vorschlägt. Das „gesellschaftliche“ Risiko hängt immer von der politischen Organisation ab, auf die sich eine menschliche Gesellschaft gründet. Indem beispielsweise die amerikanische Rechte beschloss, das dem Kongress beigeordnete Office of Technology Assessment (OTA), das für die Privatisierung des Strommarktes eingetreten war, aufzulösen, hat sie die öffentliche Hand aus ihrer Pflicht entlassen und hat damit die Verantwortung dafür zu tragen, dass eine Welle hemmungsloser Energieverschwendung ausgelöst wurde. Umgekehrt hat die chinesische Regierung durch die Schließung zahlreicher Kohleminen einen Weg zur Verringerung des gesellschaftlichen Risikos gewiesen. Dass es in Frankreich keine ernst zu nehmenden Pläne für einen langsamen Ausstieg aus der Atomenergie oder für die Entwicklung eines Huckepackverfahrens im Transportwesen gibt, hat mit der strikten Weigerung der politischen Führung zu tun, Dinge vorauszusehen, die man ihnen übel nehmen könnte. Die klügeren Berufspolitiker jedoch sind sich dessen bewusst, dass sie in Zukunft nicht nur vor ihren Wählern Rechenschaft über ihr Handeln ablegen müssen, sondern auch vor den Menschen, die noch nicht geboren sind.
Das fantasierte Risiko ist kein Synonym für falsches Risiko. Ein solches ist beispielsweise die absurde Angst, das Verspeisen genetisch veränderter Organismen (GVO) greife ins menschliche Erbgut ein, oder die Vorstellung, dass man im Flugzeug durch einen Absturz oder eine Flugzeugentführung besonders gefährdet sei. Doch sogar diese falschen Risiken sind Zeichen einer legitimen Beunruhigung über die allgemeine Manipulation des Lebenden oder die Erweiterung von Aggressions- und Tötungstechniken.
Das fantasierte Risiko wird oft unberechtigterweise auf Sündenböcke projiziert. So steckt hinter der Angst vor der „Jugendgewalt“ häufig fremdenfeindlicher Hass. Dieser führt zu Maßnahmen – Leibesvisitationen und Hausdurchsuchungen, willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen, Telefonüberwachungen und ähnliches mehr –, die die wahren Kriminellen immer weniger erreichen und sich stattdessen an leicht identifizierbare Verdächtige halten.13
Das Phantasma eines globalterroristischen Klimas, von dem weltweit Kindergärten, Universitäten und Flughäfen bedroht wären, leugnet die Tatsache, dass die Selbstmordattentate auf bestimmte Antagonismen zurückgehen. Der Terrorismus stimuliert alles, was in einer Gesellschaft, die sich in einer diffusen Krise befindet, nach Ablösung strebt. Unter dem Vorwand der Sicherung wird alle Macht den Wächtern überlassen, die Orte der Freiheit verwandeln sich in mustergültige Gefängnisse.
Die Phantasmen kleiden sich in wahre oder falsche Vorkommnisse: Aus dem (tabuisierten) Wunsch nach dem Ende der Überbevölkerung erwächst die missbräuchliche Klage über die sehr reale Aidsbedrohung in Afrika. Die Weigerung, den öffentlichen Raum mit Intimität zu überschütten, äußert sich in seiner Umkehrung im Terror bizarrer Gefühlsausbrüche am Handy. Erinnern wir uns an das, was Véronique Campion-Vincent die „urbanen Schrecken“ nannte: Vogelspinnen in den Yuccapalmen, Strychnin in den Schachteln mit Beruhigungspillen, Rasierklingen in den Äpfeln, die zu Halloween verteilt werden. Auf spärlichen Fakten beruhend, verdecken sie ganz andere Ängste, wie die, hinter dem exotischen Produkt die Armut aufsteigen zu sehen, sich vorzustellen, das Medikament könne eine Droge sein oder das bettelnde Kind an Halloween (Symbol des „erstarrten“ Todes, der verlangt, was ihm zusteht) zöge dafür den Hass der Lebenden auf sich.
Solchen abendländischen Ängsten entspricht die derzeit in Indien umgehende Angst vor Entführungen im Krankenwagen. In China und Japan ist es die Furcht, durch eine als Geliebte getarnte Hexe seines Wesens entleert zu werden, und in Lateinamerika die Schreckensvision, im Schlaf einer Niere beraubt zu werden, die in einen unwahrscheinlichen Kreislauf von Organverpflanzungen entschwindet.
Unter dem Einfluss ethnischer und sozialer Ängste haben sich die Völker in den Zwanzigerjahren militarisiert: Von frühester Jugend an musste jeder das schwarze, rote, kakifarbene oder feldgraue Hemd tragen. Heute findet eine „Soldatisierung“ statt, um das Risiko, diesen Feind mit tausend Gesichtern, besser abwehren zu können. Unter den Massen der modernen Städte mehren sich die „Uniformen der Freiheit“. Hotelpagen und Kontrolleure, Begleitpersonal und Sicherheitsdienste. Aber auch: Straßenarbeiter, Empfangsdamen, leitende Angestellte mit Button auf dem Revers, Pizzalieferanten und Austräger von Expressgut.
Hinter der Uniform stehen Vorschriften und Reglements, die jeden Bediensteten zur Wachsamkeit verpflichten. Jeder hat ein Alarmsystem im Kopf, sowohl bei verdächtigen Verhaltensweisen als auch bei technischem Versagen. Die Gewerkschaftstradition des whistle blowing14 (schlechte Arbeitsbedingungen öffentlich machen) und die Praktiken der Überlebensspezialisten konvergieren in einer beunruhigenden Begeisterung für die Personenbeschreibung.
Diese Tendenz hat sich mit dem Auftauchen des globalen Terrorismus verschärft. Sie ist umso gefährlicher, als sie sich auf Fakten stützt und von der Risikodiskussion genährt wird. Unter dem Vorwand, die sozialen Beziehungen im Sinne der Sicherheit zu überdenken, basteln Experten seit zwanzig Jahren an einem Konstrukt zur Gefahrenminderung, das von den Vertretern der Freiheit unbedingt hinterfragt werden muss. Die „Risikoforschung“ will zwar gern objektiv sein, hat aber ebenso einen Beigeschmack der Unberechenbarkeit wie das, was sie anscheinend regulieren will. Es ist Zeit, die Grenzen ihrer Gültigkeit aufzuzeigen, ehe aufgrund der kritischen Zeiten eine autoritäre Neurose um sich greift und von der Risikoforschung auch noch genährt wird – und sei es nur, um das sehr reale Geschäft mit der Gefahrenprävention vor dem Zusammenbruch zu bewahren.
Im großen Theater der Unsicherheit scheiden sich die Geister der Experten an den gleichen Stellen wie die öffentliche Meinung.15 Die einen fragen sich, wer verantwortlich ist, und mahnen zur Vorsicht. Die anderen, kraft ihrer industriellen Erfahrung, schlagen Sicherheitsmaßnahmen vor, während die Dritten das Recht der Völker auf die Wahl ihrer Technologien stärken und Zukunftsoptionen lieber diskutieren wollen. Diese letzten, mutiger im Umgang mit dem katastrophalen Ereignis, kehren neugierig an den Ort des Geschehens zurück – wie die Vulkanologen, die gerne einen noch rauchenden Krater erklettern. Sie erinnern daran, dass menschliche Gemeinschaften in jeder Katastrophe auch Erhabenheit, Solidarität und Heroismus an den Tag legen.16
Die verschiedenen Richtungen der heutigen Risikoforschung können sich nicht ohne Irrtum oder Ungerechtigkeit gegenseitig aufheben. Die „kyndunischen“17 Disziplinen werden die Turbulenzen unserer Epoche nicht allein durch die Verfolgung des personifizierten diabolischen Feindes bewältigen, der die amerikanisierte Menschheit bedroht. Sie müssen auch akzeptieren, dass sich unsere auf ihn projizierte Angst nur dann verteilt und beruhigt, wenn sie sich den unterschiedlichen Umgangsweisen mit den Herausforderungen an die menschliche Kreativität stellen.
dt. Grete Osterwald
Aus den Aufzeichnungen eines Amokläufers: Ich hasse jeden auf dieser Welt. Ich wünschte, sie würden alle fortgehen, Ihr macht mich alle krank. Ich wünschte, ich wäre tot. Der einzige Grund, warum ich am Leben bleibe, ist wegen der Hoffnung. Obwohl ich abstoßend bin und wenige Leute wissen, wer ich bin, denke ich immer noch, die Dinge könnten sich vielleicht ein bisschen zum Besseren wenden. … ich bin so voller Wut, dass ich spüre, ich könnte in jedem Augenblick durchknallen. Die Schule in die Luft sprengen oder den einfachen Abgang machen, und mit einem Gewehr in eine dieser Schulversammlungen hineingehen. Dann werden Menschen, die gerade noch geatmet haben, aufhören zu atmen. So zahle ich euch Motherfuckern heim, was ihr mir alles aufgebrummt habt. … Der einzige Grund, warum ich es nicht tue, ist die Hoffnung. Dass es morgen besser wird. Sobald meine Hoffnung dahin ist, werden Menschen sterben. Kim Kinkel
* Soziologe, Forschungsdirektor am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) in Paris. Autor von „Société-Monde, le temps des ruptures“, Paris (La Découverte) 2002, und von „Entre Esprit et Corps. La culture contre le suicide collectif“, Paris (Anthropos) 2002.