No Exit
Die Selbstmordattentäter haben ein „Gleichgewicht des Schreckens“ zwischen Israel und dem palästinensischen Widerstand hergestellt. Aber diese Balance hat den Krieg zum Alltag gemacht, statt ihn zu verhindern, weil die Konfliktparteien keine gefestigten, rational kalkulierenden Staaten sind. Die Selbstmordkommandos haben den Widerstand „privatisiert“, auf Kosten palästinensischer Machtstrukturen, die einen Kompromiss umsetzen könnten. Auch die Regierung Scharon will Arafat und seine Autonomiebehörde demontieren. Dass sie einen „Frieden gegen Land“ nicht haben will, beweist die Zerstörung der zivilen Infrastruktur bei den „Strafaktionen“ gegen die Palästinenser. Wenn die seit 1967 betriebene Siedlungspolitik die israelische Gesellschaft in Geiselhaft nimmt, gibt es keinen Ausweg aus dem tödlichen Kreislauf von Terror, Okkupation und Repression.
Von AMOS ELON *
ALLER Zerstörungsbereitschaft zum Trotz hat Ariel Scharon seinen Krieg bereits verloren, doch das macht Jassir Arafat mitnichten zum Sieger. Dieser mag die Gewalt gelegentlich verurteilt haben, doch ist an der immer aggressiveren Rhetorik beider Männer abzulesen, dass sich beide dieser Tatsache bewusst sein müssen. Seit seinem ersten Amtstag verfolgt Scharon die Strategie, das Oslo-Abkommen endgültig zunichte zu machen und das palästinensische Autonomiegebiet auf ein paar isolierte, von israelischen Militärlagern eingekreiste Enklaven zu begrenzen, die etwa 50 (oder gar nur 30) Prozent des besetzten Westjordanlandes ausmachen oder sich womöglich auch nur auf den Gaza-Streifen beschränken sollen. Die möglichen Zugeständnisse, die im Januar 2001 im ägyptischen Taba hinsichtlich des Grenzverlaufs, der Flüchtlingsfrage und des Status von Jerusalem erörtert wurden, haben beide Seiten inzwischen wieder zurückgenommen. Doch es waren ohnehin nur „informelle“ Konzessionen, die noch einer offiziellen Absegnung bedurft hätten – undenkbar seit der Regierungsübernahme durch Scharon.
Heute besteht Arafat darauf, dass sich Israel auf die Grenzen von 1967 zurückziehen und ein Rückkehrrecht für die Flüchtlinge anerkennen müsse. Im Februar und März schien er sogar ein noch ehrgeizigeres Ziel anzustreben: Möglicherweise hat er ernsthaft geglaubt, die Moral und die nationale Einheit der Israelis könnten durch eine Kombination von Terror und internationalem Druck gebrochen werden. Im März rief Arafat – die Szene lief über das israelische Fernsehen –, man brauche „tausend Schahids, tausend Schahids“ – das arabische Wort für Selbstmordattentäter. Arafat und Scharon sprechen sich gegenseitig ab, legitime Unterhändler zu sein. Die letzten eineinhalb Jahre haben eines gezeigt: Trotz der überwältigenden militärischen Überlegenheit Israels konnte keine der beiden Seiten die Bedingungen eines endgültigen Abkommens oder auch nur einer vorläufigen Regelung diktieren, die eine Atempause für weitere Verhandlungen geschaffen hätte.
Die Selbstmordattentäter haben dafür gesorgt, dass sich erstmals seit dem Sechstagekrieg von 1967 eine Art „Gleichgewicht des Schreckens“ zwischen beiden Seiten eingependelt hat. Dabei handelt es sich nicht etwa um ein dauerhaftes Gleichgewicht zwischen zwei stabilen, verantwortlich kalkulierenden und besonnen handelnden Mächten. Die wachsende Zahl von Schahids zeigt vielmehr an, dass der Unabhängigkeitskrieg der Palästinenser gleichsam „privatisiert“ wird. Die Folge ist eine unkontrollierte Zersetzung der Machtstrukturen, was nur noch mehr Entsetzen und Blutvergießen erwarten lässt. Israel hat es nicht mehr mit zwei, drei terroristischen Organisationen zu tun, die es bekämpfen und vielleicht ausschalten kann. Es hat einen neuen und diffusen Feind: eine weit verbreitete und schwer zu bekämpfende Stimmung unter den Palästinensern – eine Empörung, eine Wut und eine Verbitterung, die fast ein ganzes Volk erfasst haben.
Der Schahid hat es leichter als der klassische Guerillakämpfer. Um seinen Auftrag erfolgreich durchzuführen, ist er nicht auf einen sicheren Rückzug angewiesen. Und während nur ein oder zwei Fanatiker einen Schahid-Kandidaten finden und ausbilden können, braucht es tausende von Soldaten und Polizisten, um diesen Einen aufzuspüren, bevor er sich selbst umbringt. Der Schahid wird häufig als wahnsinniger muslimischer Fundamentalist gesehen, der unbedingt ins Paradies kommen will, wo siebzig schneeweiße Jungfrauen auf ihn warten. Aber das ist allzu simpel oder zuweilen schlicht falsch. Tatsächlich wurde die Verantwortung für einige Schahid-Attentate von den Al-Aksa-Märtyrerbrigaden übernommen, einer mit Arafats Fatah verbandelten Organisation, die keine islamistische Bewegung ist. Ian Buruma hat darauf verwiesen, dass der religiöse Fanatismus eher politischen als kulturellen Wurzeln entspringt.1 Schahids sind häufig junge Männer zwischen 12 und 25, viele sind in einem der elenden Flüchtlingslager am Rande der palästinensischen Städte aufgewachsen. Ihr Antrieb ist offenbar vor allem – wie bei den meisten Intifada-Kämpfern – verletzter Stolz und nackte Wut: ein verzweifeltes Gefühl der Ohnmacht, das vielfach auf persönliche Erfahrungen und auf den Verlust eines Verwandten zurückgeht. Vielleicht wurde ein Cousin erschossen, der Steine auf ein vorüberfahrendes Auto geworfen hatte, vielleicht wurden Vater oder Mutter an einem Checkpoint von einem israelischen Soldaten gedemütigt, vielleicht hat er einen Onkel, dessen Land zugunsten einer israelischen Siedlung enteignet wurde oder der in einem israelischen Gefängnis auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen ist. In diese Richtung weisen eindeutig mehrere empirische Studien über Jugendliche, die an der ersten und der zweiten Intifada teilgenommen haben, verfasst von Dr. Mohammad Hadj Yihia, Dozent an der Hebrew University in Jerusalem.
(…) Es ist zu befürchten, dass es aufgrund der verbreiteten Erbitterung, die so viele Schahids produziert, noch eine Generation länger dauert, bis eine politische Lösung gefunden wird. Insgesamt hat sich die palästinensische Gesellschaft erstaunlich gefügig gezeigt. Als die Israelis 1967 das Westjordanland besetzten, fiel kaum ein Schuss; auf Widerstand stießen die vorrückenden israelischen Soldaten nur bei den jordanischen Truppen. Wenn man sich an diese Zeit erinnert, beginnt man zu begreifen, wie sich die 35 Jahre israelischer Besatzung – einer niederträchtigen, arroganten, mehr und mehr Land konfiszierenden und vor allem zutiefst demütigenden Okkupation – auf die palästinensische Gesellschaft ausgewirkt haben. 1967 wurden die Israelis in den meisten palästinensischen Städten nicht etwa mit Zeichen von Wut, sondern mit „Welcome, welcome“ begrüßt, oder auch mit „Have a cup of coffee“. Kleine Jungen rannten hinter den Panzern her und riefen „Schalom, Schalom“.
Ich kannte einen Palästinenser, der die israelischen Soldaten während der ersten Besatzungswochen so freundlich fand, dass er bereit gewesen wäre, in die israelische Armee einzutreten. Es hat fast zwanzig Jahre gedauert, bis 1982 in der palästinensischen Gesellschaft die erste Intifada ausbrach. Die Hauptwaffe, die dabei zum Einsatz kam, waren Steine – geworfen von kleinen Jungen, die nun nicht mehr „Schalom“ riefen.
Gewiss hatten die Palästinenser schlechte politische Führer, die „keine Chance ausließen, eine Gelegenheit zu verpassen“, wie es der frühere israelische Außenminister Abba Eban formulierte. Aber auch Ariel Scharon ist kein außerirdisches Wesen. Auch Israel hat etliche Gelegenheiten ungenutzt verstreichen lassen, als ein Frieden mit den Palästinensern des Westjordanlandes noch möglich war, zum Beispiel 1967 und 1968, noch vor dem spektakulären Aufstieg der PLO2 . Aber auch mit Jordanien hätte man Anfang der Siebzigerjahre Frieden schließen können. Damals gab es noch nicht so viele Siedler, die sich gegen alle Zugeständnisse sperren konnten, die palästinensische Frage wäre also vielleicht wieder zu einem jordanischen Problem geworden wie vor 1967. Versucht man, die Ereignisse der letzten Jahre aus der Perspektive der normalen Palästinenser wahrzunehmen, sieht das etwa so aus: Im Zeitalter der weltweiten Entkolonisierung mussten sie sich 35 Jahre lang von bewaffneten, gewalttätigen, Jarmulke tragenden Siedlern herumstoßen lassen, und jetzt schreien sie: „Es reicht!“
DIE Selbstmordattentäter finden offenbar bei vielen Menschen in den arabischen Nachbarländern Unterstützung. Eine Fatwa, die unlängst von Scheik Mohammed Said Tantawi, dem Oberhaupt der Kairoer Al-Azar-Universität und führenden sunnitischen Theologen erlassen wurde, erklärt die Schahids zu heiligen Verteidigern der Ehre ihrer Völker. Die Familien verstorbener Selbstmordattentäter bekommen Geld vom Irak und von Saudi-Arabien: Saddam Hussein zahlt jeder Familie 25 000 Dollar. Die saudische Regierung finanziert ihnen eine Pilgerreise nach Mekka. Inzwischen ist in erschreckend unzweifelhafter Weise klar geworden, dass man die israelischen Siedlungsgebiete unmöglich abriegeln kann, indem die Grenzen vermint werden und bewacht wie vor 1967. Oder indem man Elektrozäune baut, wie an der innerdeutschen Grenze zu Zeiten des Kalten Krieges. Als Folge der intensiven, seit 1978 betriebenen Siedlungspolitik leben Israelis und Palästinenser heute im Westjordanland und zumal im Gebiet von Großjerusalem zu stark vermischt, als dass man eine saubere Trennung vornehmen könnte. Viele der israelischen Siedlungen liegen tief in palästinensischem Territorium.
Scharon hat es immer wieder abgelehnt, einen „Sicherheitswall“ etwa entlang der alten Grenze von 1967 zu errichten, denn das würde die meisten Siedler ausschließen und die künftigen Grenzen eines Palästinenserstaates präjudizieren. Zwar hat der ehemalige Ministerpräsident Ehud Barak unlängst in der New York Times einen Sicherheitszaun vorgeschlagen, der das eigentliche Israel, die wichtigsten Siedlungsgebiete im Westjordanland wie auch „eine Sicherheitszone entlang des Jordans“ schützen würde. Doch einen solchen etwa 2 000 Kilometer langen Zaun zu errichten würde Jahre dauern, und in der Zwischenzeit könnten ein dutzend Fanatiker jeden politischen Ausgleich blockieren. Über 400 000 Israelis leben heute jenseits der alten Demarkationslinien (etwa die Hälfte davon in mehreren Enklaven im besetzten Ostjerusalem). Das sind fast 10 Prozent der jüdischen Bevölkerung Israels. Eine größere Zahl dieser Siedler zurückzuholen wäre wahltaktisch gesehen in einem Land mit notorisch knappen Mehrheiten extrem riskant, ja unmöglich. Bei den großzügigsten Zugeständnissen, die Israels Regierung Anfang 2001 in Taba angeboten hat, wären immer noch 250 000 Menschen in Ostjerusalem und den entfernter liegenden Siedlungen verblieben – alles potenziell gefährliche Irredentisten. Der Irrsinn der verschiedenen (Arbeitspartei- oder Likud-)Regierungen, die derart umfassende Siedlungsvorhaben im Westjordanland und in der Region Großjerusalem gefördert haben, tritt heute klarer zutage als je zuvor. Zwar machten die USA zunächst vorsichtige Einwände gegen diese Siedlungen, aber dann verstummten sie und verlangten nur noch, die endgültigen Grenzen müssten in Verhandlungen festgelegt werden. Ursprünglich sollten die Siedlungen als faits accomplis dem Land mehr Sicherheit verschaffen, doch in der Realität haben sie den Israelis in allen Verhandlungen über einen dauerhaften Frieden die Hände gebunden. Insgesamt haben sie Israel nur unsicherer gemacht. Scharon hat wiederholt verkündet, er sei gegen den Abzug auch nur eines einzigen Siedlers.
(…) Die Siedler stellen in Israel heute die lautstärkste politische Lobby dar. Von ihren Interessen und persönlichen Wünschen hängt es in hohem Maße ab, wo im Westjordanland und im Gaza-Streifen israelische Truppen stationiert werden. Sie widersetzen sich seit Jahren vehement jeder Friedensinitiative und blockieren jeden möglichen Kompromiss. Kaum hatte es Jitzhak Rabin gewagt – als einziger Ministerpräsident –, sich ernsthaft mit ihnen anzulegen, eröffneten sie gegen ihn persönlich eine bösartige Kampagne. Schon wenige Tage später wurde Rabin von einem ihrer glühendsten Anhänger ermordet. Die militanten Gruppen, die mit dem Mord sympathisierten, fordern heute lauthals, die „Oslo-Verbrecher“ wegen Hochverrat anzuklagen. Gemeint sind damit die beiden akademischen Berater Rabins, die das Oslo-Abkommen aushandelten, sowie der ehemalige Justizminister Jossi Beilin, der ihre Mission unterstützte.
In der Altstadt von Hebron ist heute ein komplettes Panzergrenadierregiment erforderlich, um etwa dreihundert Siedler zu beschützen, von denen die meisten Thora-Studenten sind, die sich hier in den letzten 25 Jahren mit brachialen Methoden breit gemacht haben und denen die Regierung nach vielen Schwierigkeiten Häuser zur Verfügung stellte. Dieses wahnwitzig anmutende Trotzverhalten inmitten einer zutiefst fundamentalistischen muslimischen Stadt wird bis heute mit dem Alten Testament (Gen. 23, 4–18) gerechtfertigt. Und mit dem grotesken Glaubenssatz, wonach Juden nicht gehindert werden dürfen, dort zu leben, wo sie leben wollen, „nur weil sie Juden sind“. In Netzarim, einer isolierten Siedlung im Gaza-Streifen, die inmitten von riesigen palästinensischen Flüchtlingslagern liegt, wurden vor kurzem 15 israelische Soldaten getötet und 34 verwundet, die zur Verteidigung von 40 Familien abgestellt waren.
Die groß angelegte „Strafexpedition“, zu der israelische Panzer und Panzerfahrzeuge im April in die palästinensischen Städte und Flüchtlingslager einrückten – angeblich, um die „Infrastruktur des Terrors“ zu zerschlagen – wird wohl die vorhandene Wut verstärken und letztlich zu noch mehr Schahid-Attacken führen. Sie hinterließ hunderte von Toten und tausende von Verwundeten und machte tausende obdachlos: Männer, Frauen und Kinder – vor allem Kinder, potenzielle Schahids von morgen. Die israelischen Angriffe haben allenthalben verwüstete Orte hinterlassen und gewaltige materielle Schäden angerichtet, von Ramallah bis Bethlehem und Hebron. Diese Aktionen sollten offensichtlich nicht nur die „Infrastruktur des Terrors“ zerschlagen, wie von Scharon behauptet, sondern den im Aufbau begriffenen Palästinenserstaat. Perfiderweise wurden auch rein zivile Einrichtungen wie das Landwirtschafts- und das Erziehungsministerium oder das zentrale Statistische Amt zerstört. Nach Angaben der israelischen Menschenrechtsorganisation B‘tzelem praktizierten die israelischen Soldaten an vielen Orten einen rücksichtslosen Vandalismus. Es wurden Straßen, Wasserleitungen und Abwasserrohre beschädigt, Bäume gefällt, Autos demoliert und Häuser niedergerissen. Die militärische Disziplin scheint auf einen Tiefpunkt gesunken zu sein. An einigen Orten versuchten Soldaten, Geldautomaten und automatische Kontoauszugsdrucker aufzubrechen. Sie zerstörten ungestraft Uhren und Kunstwerke, Möbelstücke und Fernseher, Waschmaschinen und Computer. Solche Fälle von Vandalismus waren zu verbreitet, um sie als Ausnahmen entschuldigen zu können. In Ramallah besetzten israelische Soldaten den palästinensischen Fernsehsender und begannen Pornofilme auszustrahlen, die sie angeblich in einer Schublade gefunden hatten. Kampfhubschrauber schossen mit schweren Maschinengewehren und Raketenwerfern wahllos auf Wohn- und Bürohäuser.
„Mit Sicherheit wurde damit“, schrieb Serge Schmemann in der New York Times vom 10. April, „die lebensnotwendige Infrastruktur, die Basis jedes künftigen Palästinenserstaates zerstört: Straßen, Schulen, Strommasten, Wasserleitungen, Telefonkabel.“ Die Soldaten fanden Waffenlager mit Gewehren und Munition, primitive Werkstätten, in denen Handgranaten und Granatwerfer fabriziert wurden, wie auch Ledergürtel, die für Sprengstoffladungen gedacht waren. All dies wurde berechtigterweise in die Luft gesprengt. Doch die wahre „Infrastruktur des Terrors“ liegt nicht in diesen Werkstätten der Waffenbastler, sondern in den Gefühlen von jungen Männern und Frauen ohne Arbeit und ohne ökonomische Perspektiven, deren Wut über die seit vielen Jahren andauernden Verhältnisse immer stärker wird.
Früher durchliefen Jugendliche eine relativ lange Ausbildungs- und Indoktrinationsphase, bevor sie sich in einer überfüllten Disco oder in einem Restaurant in die Luft sprengten. Heute machen sie sich viel schneller auf den Weg, nach ein, zwei Tagen. Wie die palästinensische Tageszeitung al-Quds (Ostjerusalem) berichtet hat, haben sich Hunderte palästinensischer Jugendlicher, darunter viele junge Frauen, als freiwillige Schahids gemeldet. Und in derselben Zeitung standen die Resultate einer Meinungsumfrage, wonach 64 Prozent aller Palästinenser die Selbstmordattentate für eine nützliche und legitime Waffe halten.
Die erste Intifada (1987–1990) kam für alle Israelis, einschließlich Rabin, völlig überraschend und führte am Ende zum Oslo-Abkommen von 1993. Die zweite Intifada begann vor gut eineinhalb Jahren. Sie war keine Überraschung, wiewohl niemand vorausgesagt hatte, welche Form sie dann – infolge der fatalen Spirale von Terror und Repression – annehmen würde. Der unmittelbare Anlass für diese zweite Intifada war Scharons provokativer Auftritt auf dem Tempelberg, aber die wahren Gründe liegen viel tiefer. Schon Monate zuvor hatten israelische Nachrichtendienste und unabhängige Beobachter gewarnt, die „einfachen“ Palästinenser seien mit ihrer Geduld am Ende. Seit dem Oslo-Abkommen hatte sich die Zahl der Siedler im Westjordanland verdoppelt. Von den arbeitsfähigen Palästinensern waren schätzungsweise 60 Prozent ohne Job, vor allem weil sie von den Arbeitsplätzen in Israel ausgeschlossen waren. Der Alltag in den besetzten Gebieten wurde zum Alptraum. Die kollektiven Strafaktionen und Ausgangsverbote, die Abriegelung ganzer Städte und die Straßensperren versetzten mehr und mehr Menschen in stumme Wut. Krankenwagen, die Schwangere ins Krankenhaus bringen sollten, wurden stundenlang aufgehalten. Versorgungsgüter verrotteten in gestoppten Lastwagen, Geschäfte mussten zumachen. Die Konfiskation von Land zugunsten der Ausweitung israelischer Siedlungen ging endlos weiter, uralte Olivenhaine wurden gefällt. Seit Scharon an der Macht war, wurden 34 neue Siedlungen errichtet. Weitere Grundstücke wurden enteignet, um die Straßen zu bauen, die palästinensische Städte und Dörfer umgehen und für palästinensische Fahrzeuge gesperrt sind – nur damit die Siedler nach Israel und wieder zurückfahren können, ohne auch nur einen Palästinenser zu Gesicht zu bekommen.
VOR dem 11. September zog es die Regierung Bush vor, Israelis und Palästinenser in ihrem eigenen Saft schmoren zu lassen. Nach dem 11. September soll Präsident Bush der Scharon-Regierung grünes Licht für die Zerschlagung des palästinensischen Terrors gegeben haben, und zwar mit allen geeigneten Mitteln, nur die Person Arafat dürfe nicht angetastet werden. Bush und Scharon hatten zwar dieselben Ansichten, aber nicht dieselben langfristigen Interessen, denn Bush musste auch darauf bedacht sein, das arabische Lager für seine geplante Irak-Invasion bei der Stange zu halten. Es mag zutreffen, dass Arafat die neue Intifada nicht direkt befohlen hat; seine Autonomiebehörde hatte schließlich gerade 3 Milliarden Dollar allein in den Tourismussektor investiert. Doch ganz sicher ist er, sobald die Intifada ausgebrochen war, auf den Zug aufgesprungen. Seitdem hat er die terroristischen Angriffe mal kritisiert, mal gutgeheißen. Das zeigt, dass er sie als ein Mittel sieht, das der palästinensischen Sache dient – ob er sie angeordnet hat oder nicht. Seine Beziehungen zu einigen terroristischen Organisationen, etwa zu den Al-Aksa-Märtyrerbrigaden, die er angeblich finanziert, oder zur Hamas dürften nicht einfach sein, ja vielleicht ähnlich schwierig wie die Beziehungen des israelischen Staatsgründers David Ben-Gurion zu den jüdischen Terrororganisationen, die zwischen 1944 und 1948 die englische Mandatsmacht bekämpften, und selbst zur offiziellen Haganah.3
Scharon glaubte fest, die neue Intifada mit Gewehrkugeln und handgreiflicher Gewalt eindämmen zu können, also ohne über ihre ursächlichen Bedingungen zu verhandeln. Sein politischer Horizont ist offenbar noch derselbe wie 1982, als er die katastrophale Libanon-Invasion inspiriert und gesteuert hat. Sein Mantra lautet, ein Abkommen mit den Palästinensern sei nur zu erreichen, wenn man sie zuerst „kräftig verprügelt“ habe, wie er es im März formulierte. Wie viele ehemalige Militärs denkt Scharon in rein quantitativen Kategorien. In einem Interview erzählte er, auf seinem Nachttisch liege „A Savage War of Peace“, das Buch von Alistair Horne über Algerien. Und trotzdem lautet sein Credo nach wie vor: Wo Zwang und Gewalt erfolglos bleiben, führen schließlich nur noch mehr Zwang und Gewalt zum Erfolg.
Scharons Verhältnis zu Arafat ist vorwiegend emotional und erratisch. Zuerst verlangte er von Arafat, er solle die Kämpfer der Tansim (…) an die Kandare nehmen und die Fundamentalisten der Hamas unterdrücken. Dann ließ Scharon die Gefängnisse und Gebäude von Arafats Sicherheitskräften systematisch bombardieren und zerstören – also die einzigen Instrumente, mit denen die palästinensische Regierung diese Aufgabe hätte erledigen können. (…) An einem Tag erklärte er Arafat für „irrelevant“, am anderen behauptete er, Arafat stecke hinter allen Terroraktionen. Außenminister Schimon Peres bedrängte Scharon, er solle Arafat den Abzug aus seinem Hauptquartier in Ramallah gestatten. Doch der Regierungschef hielt Arafat in seinen zwei Räumen im zerstörten Hauptquartier eingesperrt und ließ ihm auch wiederholt den Strom abstellen und sein Mobiltelefon stören, während vor dem Gebäude israelische Panzer Tag und Nacht ihre Motoren dröhnen ließen.
Obwohl Außenminister Peres und Scharons eigene Geheimdienstexperten davon abrieten, ließ er nicht zu, dass Arafat zu der Konferenz der Arabischen Liga nach Beirut fuhr, die dann den saudischen Friedensplan befürwortete. „Wir demütigen ihn unnötigerweise“, soll Peres laut Ha‘aretz zu Scharon gesagt haben. Dasselbe sagte Peres zu US-Vizepräsident Richard Cheney, der während seiner Nahostreise ein Treffen mit Arafat verweigerte, solange dieser den Gewalttaten von Palästinensern nicht ein Ende setzte. Peres versuchte vergebens, Cheney mit dem Argument umzustimmen: „Wir müssen Arafat ermöglichen zu handeln. Wir müssen wieder vorankommen.“ Doch Cheneys Antwort lautete (nach demselben Bericht, der sicher auf Scharons Leute zurückgeht und Peres blamieren sollte): „Ich schätze den Außenminister und seine Bemühungen. Aber in diesem Punkt bin ich nicht seiner Meinung.“
Arafat ist Scharons Nemesis, schon seit der Belagerung von Beirut 1982. Vor kurzem erst hat Scharon es ausdrücklich bedauert, dass er Arafat damals nicht getötet hat. Scharons Fixierung auf Arafat hat dessen sinkendes Ansehen bei den Palästinensern wieder aufleben lassen. Offen bleibt dabei allerdings, ob damit auch seine Macht zugenommen hat, die verschiedenen palästinensischen Fraktionen zu zügeln, die sich an extremistischer Militanz zu überbieten suchen. Bei den anderen Arabern und unter Muslimen von Marokko bis zu den Philippinen ist Arafat zu einem mythischen Helden geworden. Er ist vielleicht der größte Überlebenskünstler der neueren Geschichte: Seit fünfzig Jahren schafft er es auf unnachahmliche Weise, jede Niederlage und jede Schwäche in einen strategischen Vorteil zu verwandeln. Und als Führer der Palästinenser hat er noch immer keinen ernsthaften Konkurrenten. Auf seinen Ruf nach „tausend Schahids, tausend Schahids“ folgten inzwischen die vernichtendsten Attacken, die den Palästinensern in ihrer Geschichte je widerfahren sind.
In Jerusalem fühlte man sich im März und April wie unter Belagerungszustand. Ich lebte hier auch 1948, während der langen Belagerung der Stadt durch die Truppen der Arabischen Legion. Damals lag die Universität auf dem Skopusberg, einem isolierten militärischen Außenposten, der nur mit einem gepanzerten Fahrzeug zu erreichen war. Monatelang war die Universität geschlossen, entlang der Grenze zwischen jüdischen und arabischen Vierteln tobten erbitterte Häuserkämpfe. Es gab kein Wasser, keinen Strom, und außer Bohnen, Reis und wilden Kräutern kaum etwas zu essen, auf Wohnsiedlungen gingen Artilleriegeschosse nieder, auf den Straßen wurden Passanten von Mörsergranaten getötet. Aber damals herrschte nicht dieselbe Angst oder das Endzeitgefühl wie heute auf den Straßen von Jerusalem. Im Gegenteil, nach der Unabhängigkeitserklärung Israels herrschten Begeisterung, Stolz und die Hoffnung, eine gute Zukunft vor sich zu haben. Und es gab verantwortliche, rhetorisch überzeugende und glaubwürdige Führungsfiguren, die dem belagerten Volk ein Gefühl der Hoffnung, eine positive Perspektive zu geben vermochten.
Im April 2002 dagegen herrschte fast überall eine düstere Stimmung. Die Altstadtviertel, wo sich einige der Schahids an belebten öffentlichen Orten in die Luft gesprengt hatten, waren weitgehend entvölkert. Die Geschäfte waren geschlossen. Es waren kaum Leute zu sehen, und wenn, dann waren es meist schwer bewaffnete Armee- und Polizeipatrouillen. Es fuhren kaum Autos. Hilfspolizeikräfte stoppten voluminös gekleidete Fußgänger oder Autos, deren Fahrer auch nur den kleinsten Verdacht erweckten. Immer wieder wurden die Ausweise kontrolliert. In den anderen Stadtvierteln standen bewaffnete Wachposten vor halb leeren Cafés. Einige Restaurants boten Essen nur zum Mitnehmen. In einem Supermarkt wurde ich an der Tür aufgefordert, mich mit erhobenen Händen und dem Gesicht zur Wand aufzustellen, während ein Wachtposten an meinen Hosen herumfingerte und mit einem Metalldetektor meinen Pullover absuchte. Die Busse waren halb leer, die Leute hielten sie zu Recht für gefährlich. Die Läden schlossen vor Einbruch der Dunkelheit, was zu dieser Jahreszeit etwa fünf Uhr bedeutet.
An der Wand der Nationalbibliothek kann man Graffiti lesen wie „Tod den Arabern“ oder „Ohne Araber keine Toten – ohne Linke keine Toten“. Jemand hat darunter geschrieben „Ohne Gott keine Toten“. Über eine Woche lang war ich einer von zwei oder drei Lesern, die im Bibliothekslesesaal der Hebrew University auf ihre bestellten Bücher warteten, zu normalen Zeiten werden hier täglich über 20 000 Studenten bedient. Im Warteraum einer überfüllten Klinik hörte ich, wie eine Krankenschwester mit drohender Stimme in ein Telefon sprach, das gesamte Personal werde in Streik treten, wenn nicht binnen einer Stunde ein Polizist an der Tür stehe, um alle Leute zu durchsuchen, die hereinkommen wollen. „Wir wollen kein Kanonenfutter sein“, schrie sie. Die wartenden Patienten blickten sich an, bleich und verwirrt. Ich schlug die Morgenausgabe der Ha‘aretz auf und las einen Bericht über die Stimmung in Jerusalem: „Die Menschen hasten durch die Straßen und werfen immer wieder einen Blick über die Schulter“, schrieb der Reporter. Am Ende zitierte er den britischen Generalkonsul Bernard Montgomery, der 1939 anlässlich der jüdisch-arabischen Unruhen geschrieben hatte: „Der Jude tötet den Araber und der Araber tötet den Juden. Derartiges geschieht im heutigen Palästina, und wahrscheinlich wird es auch die nächsten fünfzig Jahre so sein.“
Die Bereitschaft zu langen Abnutzungskriegen scheint bei den Menschen heute nicht so groß zu sein wie vor dreißig oder vierzig Jahren. Jeden Tag zeigt man im Fernsehen, wie die Opfer des Terrors zu Grabe getragen werden. Von jedem mörderischen Anschlag gibt es Liveberichte, die häufig nur wenige Minuten nach dem Anschlag beginnen und sich über Stunden hinziehen, mit atemlosen Schilderungen des Geschehens und Schätzungen über die Zahl der Opfer, die alle paar Minuten korrigiert werden. In den Wohnzimmern tritt bei jeder Nachricht über einen neuen Terrorangriff tödliche Stille ein; der Fernseher wird eingeschaltet, Filme und Unterhaltungsprogramme werden unterbrochen, um das Neueste zu zeigen: auf dem Bildschirm zerfetzte Leiber und Interviews mit Augenzeugen, Polizeichefs, Politikern, Bürgermeistern, Ärzten und Erste-Hilfe-Teams. Immer und immer wieder zeigen sie dir dieselben Blutflecken auf dem Teppich, denselben in die Luft gesprengten Bus, dieselben zerstörten Tische und Stühle, und immer wieder hört man dieselben atemlos-verzweifelten Spekulationen über das Geschehen und über das, was wahrscheinlich als nächstes geschehen wird.
VOR den militärischen Einfällen ins Westjordanland hatte sich Scharon nur selten öffentlich geäußert. Er ist kein guter Redner. Nach Terrorangriffen pflegte er lediglich zu sagen: „Ich bin enttäuscht, aber nicht überrascht.“ Scharon spricht, wie Uzi Benziman in Ha‘aretz geschrieben hat, wie ein Mann, der sich auf seine Verteidigung vor einem zweiten nationalen Untersuchungsausschuss vorbereitet (nach dem ersten über die Ereignisse von Beirut 1982). In Israel gibt es keine öfffentliche Figur, die – wie der New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani – beruhigend auf die Israelis eingewirkt, ihnen Mut zugesprochen hätte. Nach dem schrecklichsten Massaker im April in Jerusalem fand sich der Bürgermeister wie immer kurz danach am Ort der Katastrophe ein und sprach vor einer ganzen Batterie von Mikrofonen und Fernsehkameras. Ich sah zu, wie er mit erstarrtem Gesicht sagte: „Ich hab‘s euch gesagt!“ Und um jeden Zweifel auszuräumen, fügte er hinzu: „Das ist nicht das letzte Mal. Es wird noch mehr passieren.“
Das Fernsehen gibt auch allen möglichen Verrückten die Gelegenheit, ihre Meinung zum Besten zu geben. So fordert ein rechter Politiker, man müsse allen israelischen Arabern das Wahlrecht entziehen und alle Palästinenser aus den besetzten Gebieten ausweisen. Scharon selbst verurteilt solche Vorschläge nie, er bezeichnet sie lediglich als „nicht durchführbar“. Ein rechter Knesset-Abgeordneter namens Benny Elon fordert, alle „Linken“ ins Gefängnis zu stecken. Exgeneral Effi Eitam, ein fanatischer Siedler, der sich zu einem religiösen Fanatiker gewandelt hat, will den israelischen Arabern ebenfalls das Wahlrecht entziehen, schließlich sei Israel zum alleinigen Herrscher über das Land „bestimmt“. Er proklamiert als sein großes persönliches Ziel, sich zum würdigen Nachfolger von Moses und König David aufzuschwingen. Inzwischen ist er seinem Ziel ein bisschen näher gekommen: Er trat als Minister in die Regierung Scharon ein und gehört dem inneren Sicherheitskabinett an.
Die Qualität des Führungspersonals ist bei den Israelis wie bei den Palästinensern auf einem Tiefpunkt angelangt. Noch vor eineinhalb Jahren sprachen prominente Palästinenser durchaus kritisch über Arafat: wegen seiner Haltung in den Friedensverhandlungen, wegen seiner unfähigen Verwaltung, wegen der Korruption in seiner Regierung. Doch solche Kritik ist verstummt, weil er als Gefangener Scharons zum unangreifbaren Gott geworden ist. Aber auch in Israel gibt es keine ernsthafte politische Opposition gegen Scharon. Die erstaunliche Mittelmäßigkeit der israelischen Politiker, der Mangel an eindrucksvollen Führungsfiguren in den letzten zehn Jahren, mag als äußerliches Phänomen das normale Resultat einer vom Fernsehen dominierten Politik sein, doch es gibt auch tiefere Gründe, die im politischen System selbst liegen. Und die Versuche, die verzerrende Wirkung des Wahlsystems zu korrigieren, etwa durch einen gesonderten Wahlgang für die Wahl des Ministerpräsidenten, haben alles nur noch schlimmer gemacht.
DAS Wahlvolk ist verständlicherweise verwirrt. Vier Fünftel der jüdischen Bevölkerung stehen nach den jüngsten Meinungsumfragen hinter Scharons Strafexpeditionen ins Westjordanland mit all ihren Schrecken. Aber zugleich befürworten drei Fünftel den saudischen Vorschlag, zu einem Frieden zu kommen, falls sich Israel auf die Grenzen von 1967 zurückzieht. Scharon wird kaum kritisiert, lediglich Netanjahu und die äußerste Rechte werfen ihm vor, nicht hart genug zu sein, während die äußerste Linke und ein halbes Dutzend liberaler Zeitungskolumnisten ihn als zu hart kritisieren. Der bekannte Satiriker B. Michael hat in der Zeitung Jediot Aharonot vom 12. April folgenden Aufruf veröffentlicht:
Hilfe! (Leser, die am Meer wohnen, werden aufgefordert, diesen Zettel auszuschneiden, ins Englische zu übersetzen, sauber zusammenzufalten, ihn in eine verkorkte Flasche zu stecken, diese ins Meer zu werfen – und dann auf das Beste zu hoffen.) An alle guten Menschen, die diesen Zettel finden: Diese Nachricht erreicht Sie von Männern, Frauen und Kindern, die auf einem isolierten Landstrich im Nahen Osten gestrandet sind. Wir sind rechtschaffene Menschen, aber infolge eines schweren Wahlunfalls auf Gedeih und Verderb einer Gruppe besonders dummer politischer Führer ausgeliefert, die überwiegend Generäle, Obristen, Klerikale und andere Schurken sind.
Diese schlechten Menschen glauben allen Ernstes, Gott selbst habe sie angewiesen, einen endlosen Kampf um ein paar wertlose Fetzen Grund und Boden und ein paar heilige Totempfähle zu führen. Sie zwingen uns, ihre Kriegsspiele mitzumachen, sie zu finanzieren und manchmal auch eine aktive Rolle zu übernehmen.
Wenn Sie diesen Zettel finden, bringen sie ihn bitte zu unseren Führern. Dies ist unser letztes Kommunikationsmittel. Die Fernsehkanäle und Radiosender, die wir bis vor kurzem hätten benutzen können, sind unter die Kontrolle der Regierung und ihrer Handlanger gefallen … Nahrungsmittel und Wasser haben wir noch, aber unser Vorrat an gesundem Menschenverstand ist bis auf wenige Tropfen aufgebraucht.
Volksfront für die Befreiung der normalen Menschen (PFLNP)
Arafat und Scharon verfolgen beide eine politische Linie des geringsten inneren Widerstands. Die „nationale Koalition“ Scharons reicht von den verrücktesten Randgruppen der Rechten bis zu Schimon Peres und anderen Vertretern der Arbeitspartei auf der gemäßigten Linken. Von Peres ist die Äußerung verbürgt, er wäre nicht in die Koalition eingetreten, wenn er gewusst hätte, wo Scharon das Land hinführt. Heute bleibt er nach eigenen Aussagen nur in der Regierung „um das Schlimmste zu verhindern“. Scharon gibt sich größte Mühe, ihn im Kabinett zu halten, und will damit vor allem die Amerikaner beruhigen. Peres hat Scharon in einigen Situationen im Zaum gehalten. So hat er ihn von dem Plan abgebracht, Arafat zu verhaften – ein Zugeständnis, für das Scharon von der Rechten heftig kritisiert wurde. Die jüngste Erweiterung des Kabinetts um General Eitam und einen zweiten Hardliner namens David Levy reduziert die bescheidenen Machtmittel, die Schimon Peres und der Arbeitspartei innerhalb der Regierung verblieben sein mögen.
Vor diesem trostlosen Hintergrund tauchte plötzlich aus dem Nichts eine Protestbewegung von aktiven Offizieren und Reservisten auf, die sich Seruv („Verweigerung“) nennt. Die Gruppe erregte eine Zeit lang beträchtliches Aufsehen, aber die Presse hatte ihr Interesse bald wieder verloren. Die verweigernden Reservisten erklärten öffentlich, sie würden keinen Wehrdienst „jenseits der Grenzen von 1967 leisten, nur um ein ganzes Volk zu beherrschen, zu vertreiben, auszuhungern und zu erniedrigen“. Da aber lediglich zwei oder drei Knesset-Abgeordnete – und nur wenige Journalisten – bereit waren, sich ihrer Sache anzuschließen, blieb ihre Aktion ohne unmittelbare politische Wirkung. Und selbst die alternden Führungsleute der Peace-Now-Bewegung und der linken Oppositionspartei Meretz konnten sich nach quälenden Diskussionen nicht dazu durchringen, sich für die neue Bewegung stark zu machen.
Peace Now war ursprünglich einmal eine Bewegung von Reserveoffizieren, die sich ebenfalls als politische „Tauben“ verstanden. (…) Jetzt äußerten die Peace-Now-Führer über Seruv: „Wir haben Verständnis und Sympathie für ihre Gefühle, aber wir rufen nicht zur Verweigerung aus Gewissensgründen auf.“ Das Kalkül dieser Politik entspringt der Sorge, Peace Now könnte in der israelischen Armee an Rückhalt einbüßen, wenn man sich hinter Seruv stellte. Das ist eine eigenartige Position für eine außerparlamentarische Protestbewegung, von der man annehmen sollte, dass ihre Politik nicht auf Meinungsumfragen, sondern auf moralischen Prinzipien basiert. Dabei fordert Peace Now sehr wohl die „Räumung besetzter Gebiete“, zur Not auch als einseitige israelische Vorleistung. Vor zwanzig Jahren war die Bewegung noch imstande, bis zu 400 000 Israelis auf die Beine zu bringen. Dieses Jahr kamen zu ihrer größten Demonstration nur 20 000 Menschen. Die linke Meretz-Partei begründete ihre Distanz zu Seruv mit der Aussage, sie halte die Weigerung, in den besetzten Gebieten Militärdienst zu leisten, für „undemokratisch“.
Ein Vertreter von Seruv hat mir erläutert, wie schockiert er über den engstirnigen Formalismus dieser Kritik und über den „Opportunismus“ der Peace-Now-Leute sei: „Sie weigern sich zu sehen, dass wir, wenn die Dinge so weiterlaufen, hier bald keine Demokratie mehr haben werden. Die staatlichen und privaten Fernsehkanäle sind bereits mundtot gemacht. Und die Presse wird zunehmend konformistisch.“ Seruv begann im Februar 2002, als 200 Reservisten, zumeist Offiziere und Unteroffiziere, ihre Namen ins Internet stellten. Bis Mitte April waren es 411 geworden. Um einen Skandal zu vermeiden, verzichtete die Armee zunächst darauf, sie zum Reservedienst anzufordern. Anfang April wies Scharon die Armee an, die Verweigerer („Refusniks“) zu einem freundlichen Gespräch vorzuladen. Inzwischen sind einige dutzend Refusniks im Gefängnis, wo sie bis zu achtundzwanzig Tage einsitzen. Und zwar aufgrund von Disziplinarstrafen, die ihre vorgesetzten Offiziere verhängt haben. Wenn sie sich weiterhin weigern, jenseits der grünen Linie (also jenseits der völkerrechtlichen Grenzen Israels) zu dienen, könnten sie im nächsten Schritt vor ein Militärgericht gestellt oder sogar strafrechtlich verfolgt werden. Noch ist nicht klar, ob die Armee es riskieren wird, sie in einem öffentlichen Gerichtsverfahren anzuklagen, über das israelische und ausländische Zeitungen berichten und bei dem sie einen Rechtsbeistand haben würden. Es besteht für die Armeeführung kein Handlungsbedarf, denn angesichts des ständig verschärften Gewaltniveaus haben sich angeblich für jeden ins Gefängnis geschickten Refusnik etwa hundert noch nicht eingezogene Reservisten zum aktiven Dienst gemeldet.
DIE Friedensmission von US-Außenminister Colin Powell im April hat kaum ein erkennbares Ergebnis gebracht. (…) Palästinensische und israelische Kommentatoren sind einhellig der Meinung, Powells politisches Mandat sei zu vage formuliert gewesen. Deshalb war es keine Überraschung, dass die Situation nach Abschluss seiner Mission schlechter war als zum Zeitpunkt seines Eintreffens in der Region. (…)
Auch aus dem Vorschlag Scharons, eine Nahost-Friedenskonferenz – ähnlich der Madrider Konferenz nach dem Golfkrieg – abzuhalten, wird nichts werden, wenn Arafat daran nicht teilnehmen darf. Dasselbe gilt für die Forderungen Arafats nach einer internationalen Truppe als Puffer zwischen Palästinensern und Israelis. Nach wie vor stehen israelische Panzer rings um die wichtigsten palästinensischen Städte, um jederzeit wieder einrücken zu können. Und palästinensische Kämpfer sollen dabei sein, sich für einen Untergrundkampf zu reorganisieren. Der erbitterte Streit über die Frage, was sich bei den Kämpfen im Flüchtlingslager Dschenin abgespielt hat, musste die Atmosphäre nur noch weiter vergiften. Angesichts der völlig starren Haltung praktisch aller Konfliktbeteiligten ist für die Zukunft im Grunde nur eine Prognose sicher: Das Blutvergießen wird weitergehen.
aus dem Engl. von Niels Kadritzke
* Israelischer Schriftsteller. Im Herbst erscheint „German Jews Before Hitler: A History of the Assimilation“. Wir drucken „No Exit“ mit freundlicher Genehmigung von The New York Review of Books (Mai 2002).