14.06.2002

Tirana, die Balkanfrage und die Nato

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Tirana, die Balkanfrage und die Nato

ALBANIEN wurde 1913 auf der Londoner Botschafterkonferenz als unabhängiger Staat anerkannt,1 doch zugleich erklärten die in London vertretenen Großmächte, die Albaner besäßen „keine eigene Nationalität“ und schlugen einen Teil der albanisch besiedelten Gebiete Serbien zu. Dies war die Geburtsstunde des Kosovokonflikts. Vielleicht hätte man damals die Einsichten Léon Lamouches beherzigen sollen. Dieser französische Pionier-Hauptmann hatte 1898 über den Balkan geschrieben: „Diese Region verkörpert in gewisser Weise ganz Osteuropa. Angesichts des Völkergemischs und der unentwirrbaren Interessen und Orientierungen kann es nicht erstaunen, dass sich ernste Konflikte entwickeln.“2

Großserbien, Großbulgarien, der kroatische Ustascha-Nationalismus, die griechische megali idea3 – jede dieser irredentistischen Ideologien propagierte das Ziel, die Grenzen des eigenen Landes auszuweiten. Dabei ging es vor allem um den jeweils günstigsten Zeitpunkt für jene lange Reihe von Kriegen, Invasionen und Vertreibungen, die aus der Geschichte der Balkanregion den unablässigen Versuch einer Quadratur des Kreises machen, Anlass für ständigen Hass und Streit, wobei jeder dem anderen ein Stück Land rauben will. Als die Albaner um 1870 ihre eigene megali idea formulierten, schwärmten sie von den großen Taten ihres Nationalhelden Skanderbeg. Doch ein „Großalbanien“ hatte es weder in der Antike noch im Mittelalter gegeben, das Land hatte immer nur aus Gebieten bestanden, in denen Albanisch gesprochen wurde. Im Zweiten Weltkrieg hatten Deutschland und Italien die nationalen Fantasien ausgebeutet, denen dann der Kosovokonflikt neues Leben einhauchte.

Fragt man heute in Tirana nach der Idee eines „Großalbanien“, stößt man nur auf entrüstete Abwehr. Genc Pollo, Vorsitzender der demokratischen Reformpartei (PD), erklärt: „Was die nationale Frage betrifft, so werden die Albaner ständig genötigt, mea culpa zu rufen.“ Der prominente Journalist Mustapha Nano meint dazu: „Von Großalbanien ist im Ausland viel mehr die Rede als in Albanien. Es wäre Selbstmord, dieses Programm zu vertreten.“ Und Ministerpräsident Pandeli Majko stellt fest: „Für Albanien wäre es doch völlig unsinnig, solchen nationalistischen Vorstellungen aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg nachzuhängen, während es doch am Prozess der europäischen Integration teilhaben will.“

Ein grundlegendes Umdenken auf eigenen Entschluss? Nein, den Stimmungsumschwung brachten die innenpolitischen Krisen, die Kriege, die internationale Kuratel über die Balkanstaaten, die Auswanderung hunderttausender Albaner. „Vor sieben, acht Jahren, als wir von den Serben bedroht waren, gab es unter den Albanern viel mehr Anhänger der nationalen Einheit“, meint Sabri Godo, der ehemalige Vorsitzende des Komitees für auswärtige Angelegenheiten. „Nach ewigen Zeiten der Trennung hatten wir den starken Wunsch, endlich zusammenzukommen. Aber diese Gefühle verflüchtigen sich. Der Mythos eines Staates Albanien als Zentrum der albanischen Kultur ist zusammengebrochen – die Lebensweisen, der Lebensstandard, die Interessen sind zu unterschiedlich.“

Auch der ehemalige Minister Genc Ruli, heute Leiter eines Instituts für zeitgeschichtliche Forschung, sieht pragmatische Gründe für die Entwicklung: „Die Probleme der drei albanischen Bevölkerungsgruppen sind sehr verschieden. Im Kosovo wollen die Albaner einen Staat und eine Regierung, in Mazedonien müssen sie sich gegen Diskriminierungen wehren. Und in Albanien geht es um Probleme wie Entwicklung, Arbeitsplätze und Auswanderung. Der Nationalismus kann blind machen, aber oft besitzen die Menschen ein Gespür für die vernünftigen Lösungen. Die Vereinigung der Albaner würde ihnen kein besseres Leben bringen.“ Im Kosovo und in Mazedonien mag es auch radikalere nationalistische Positionen geben, doch Mustapha Nano hat nicht ganz Unrecht, wenn er ironisch bemerkt: „Diese Vereinigung wäre nicht einmal dann machbar, wenn der Westen sie wünschte.“

Andererseits darf man die großalbanischen Träume nicht mit der Idee eines „albanischen Gebiets“ verwechseln, die legitimer Ausdruck der gemeinsamen sprachlichen und kulturellen Identität der Albaner in Albanien, im Kosovo, in Mazedonien und Montenegro ist. Hinter dieser Idee nationalistische Absichten zu vermuten hieße, die Albaner noch immer als Bevölkerung „ohne eigene Nationalität“ zu sehen. Genc Ruli ist sogar der Meinung, dass „die Idee eines albanischen Gebiets zur Verbesserung der Beziehungen mit den anderen Ländern in der Region beitragen kann“.

Das ist eine wichtige Aufgabe, denn Albanien mag sich noch so sehr gen Westen orientieren – es bleibt Teil des Balkans, und seine Sicherheit hängt davon ab, wie sich diese Region der schwachen Staaten entwickeln wird. Deshalb hält Genc Pollo die regionale Zusammenarbeit „für einen guten Ansatz zum Abbau von Spannungen und zur Verbesserung der Beziehungen zwischen diesen Ländern, aber auch um die Voraussetzungen für ihre Integration in die EU und die Nato zu schaffen.“

Auch die Bemühungen um den Eintritt in die Nato gehören zu den „Tantalusqualen“ der Albaner. In der Zeit des Zerfalls der alten Republik Jugoslawien, und vor allem des Kosovokrieges, sahen sie das nordatlantische Bündnis stets als Schutzmacht. Angesichts der Katastrophen ringsum „überließ die Regierung der Nato das Territorium, den Luftraum und die Gewässer des Landes zur freien Verfügung“4 . Wenn alles in Flammen steht, ruft man eben die Feuerwehr, ohne groß nachzudenken und alle möglichen Folgen und Kollateralschäden in Betracht zu ziehen. Bis heute gilt die Nato als „Garant“ der Sicherheit Albaniens. „Sobald die Nato abziehen würde, hätten die Extremisten freie Hand“, meint Verteidigungsminister Luan Rama.

Was bedeutet diese Westbindung für Albanien? „Ich halte nichts von politischer Demagogie“ erklärt Luan Rama, Literaturwissenschaftler, Journalist und ehemaliger Kulturminister. „Hier geht es darum, ein konkretes Projekt zu realisieren – nicht um einen geschickten Schachzug oder eine Gefälligkeit, die unsere innenpolitischen Probleme lösen soll. Wenn wir der Nato beitreten wollen, müssen wir uns fragen: Was kann unser Beitrag sein? Und das lässt sich nur richtig einschätzen, wenn man den Blick auf die Region richtet. Der Balkan bleibt problematisch. In Mazedonien ist die Frage der Staatlichkeit offenbar nur mit Gewalt zu lösen, im Kosovo sind die staatlichen Institutionen schwach und es gibt noch viele Probleme. Die serbische Minderheit fühlt sich bedroht, nicht nur wegen der Verbrechen, die auf ihr Konto gehen, sondern auch wegen der Aktivitäten albanischer Extremisten, die nicht begriffen haben, dass der Krieg vorbei ist … In Montenegro ist der Streit zwischen den Anhängern der Unabhängigkeit und der Integration mit Serbien noch nicht ausgetragen. Wenn heute in Serbien jemand auf die verrückte Idee käme, eine Volksabstimmung über den Beitritt zur Nato durchzuführen, wäre das Ergebnis natürlich eine Ablehnung.“ So gesehen erscheint Albanien weitaus stabiler als die Nachbarstaaten – und der westlichen Allianz treu verbunden.

IM Rahmen des Nato-Beitritts sollen die albanischen Streitkräfte von 40 000 auf 16 000 Mann reduziert werden, auch eine Reduzierung des Waffenarsenals ist vorgesehen. „Albanien kann diese Aufgabe aber nicht isoliert angehen“, betont Luan Rama. „Es muss auch in den übrigen Balkanstaaten entsprechende Entwicklungen geben, die im Geiste der Koexistenz souveräner Staaten und mit dem Ziel einer politischen Integration der Balkanregion vorangetrieben werden.“ Natürlich trägt es nicht zu einem Klima der Sicherheit bei, wenn überall nationale Reden geschwungen werden – nicht nur auf dem Balkan, sondern auch in Ungarn oder in „Padanien“ – oder wenn Mazedonien reichlich Panzer und Flugzeuge einkauft. Albaniens Ministerpräsident Pandeli Majko hält dennoch fest: „Auf dem Balkan kann Sicherheit allein durch Diplomatie gewonnen werden, und diese Sicherheit ist für den Anschluss an Europa unverzichtbar. Dabei dürfen nicht nationalistische Erwägungen oder die Interessen bestimmter Gruppen im Vordergrund stehen, sondern der Prozess der Integration muss sich auf die ganze Region erstrecken. Wir versuchen, in Albanien unseren Teil dazu beizutragen. Vielleicht gelingt das anderen noch besser, aber wir müssen uns sicher nicht verstecken.“

Im November 2002 fällt in Prag die Entscheidung, welche der neun EU-Beitrittskandidaten in die Nato aufgenommen werden. Die Anträge Albaniens und Mazedoniens wurden bereits auf der Vorbereitungskonferenz in Bukarest abgelehnt. Das war für die albanische Regierung eine herbe Enttäuschung, meinte sie doch Pluspunkte gesammelt zu haben, als sie der Nato im Kosovokrieg Stützpunkte einräumte und im Mazedonienkonflikt Zurückhaltung übte. Doch Nato wie EU geht es allein darum, die Region unter Kontrolle zu halten. Dass sich die Albaner ausgegrenzt fühlen könnten, lässt sie kalt.

N. A.

Fußnoten: 1 Albanien wurde zum „erblichen Fürstentum unter der Garantie der sechs Mächte“. Verwaltung und Finanzen waren den Garantiemächten unterstellt, die auch den deutschen Wilhelm Prinz zu Wied zum albanischen Herrscher ernannten. 2 Léon Lamouche, „La Péninsule balkanique“, Paris (Paul Ollendorf), o. J. 3 Die meagli idea zielte auf ein Griechenland der „zwei Kontinente und fünf Meere“, das auch ein Großteil der heutigen Türkei mitsamt Istanbul umfassen sollte. 4 Shaban Murati, Alternative Information Network (AIM), 20. Juli 1999.

Le Monde diplomatique vom 14.06.2002, von N. A.