14.06.2002

Im Fegefeuer der Meldebehörden

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Im Fegefeuer der Meldebehörden

IN der zweiten Runde der Präsidentschaftwahlen haben die Franzosen den Kandidaten des Front National, Jean-Marie Le Pen, mit großer Mehrheit zurückgewiesen. Frankreich ist der rechtsextremen Falle fürs Erste entkommen. Alles könnte ganz normal sein. Aber normal ist es schon lange nicht mehr. Das in Frankreich offiziell gültige, auf dem Jus soli beruhende Staatsbürgerschaftsrecht ist durch administrative Praxis und rassistisches Gedankengut schon lange ausgehöhlt. So mancher, der nur seinen Personalausweis verlängern oder ersetzen lassen will, hat das bitter zu spüren bekommen.

Von MAURICE T. MASCHINO *

Verärgert ja, aber keineswegs beunruhigt darüber, dass er seinen Personalausweis im Jackett vergessen und das Jackett zur Reinigung gebracht hat, geht Jacques R. zur Präfektur, um sich Ersatz zu besorgen. Erste Überraschung: Er wird gebeten, sämtliche Dokumente vorzulegen, die beweisen, dass er Franzose ist. Am nächsten Tag bringt er einen Stapel „Papiere“ mit und, zweite Überraschung, muss sich gefallen lassen, dass sie zur Prüfung einbehalten werden. Er regt sich auf – sieht er etwa aus wie ein Fälscher? – und versichert, dass er seinen Ausweis dringend brauche. Man beruhigt ihn: Es werde nicht lange dauern.

Drei Monate später, einen Tag vor Weihnachten, flattert ihm als Geschenk eine Vorladung des Oberstaatsanwalts ins Haus: Sein Vater, behauptet die Justizbehörde, habe 1953 irrtümlich von einem Einbürgerungsdekret profitiert. 1954 als Sohn eines nunmehr ausländischen Vaters in Frankreich geboren, hat es Jacques R. versäumt, sich vor Erreichen seiner Volljährigkeit per Willenserklärung für die französische Staatsangehörigkeit zu entscheiden, die er infolgedessen nicht besitzt. Also wird ein Verfahren eingeleitet, um die Sache rechtswirksam zu machen. Das Amtsgericht kommt zu dem gleichen Schluss wie der Staatsanwalt: Jacques R. ist kein Franzose. Er ist völlig am Ende, begreift das alles nicht: Er hat immer in Frankreich gelebt, hat dort studiert, seinen Militärdienst geleistet, hat eine Französin geheiratet, er verdient redlich seinen Lebensunterhalt (als Geschäftsmann), hatte nie mit der Polizei oder der Justiz zu tun, und die Meldestelle hatte seinen Personalausweis mehrmals ohne Schwierigkeiten erneuert. Zum Glück kann er nachweisen, dass er seit mehr als zehn Jahren seinen Wohnsitz in Frankreich hat und von den Behörden immer als Franzose betrachtet worden ist. Er kann sich somit auf seinen „Status“ berufen. Zwei Jahre später erhält er die gerichtliche Bestätigung: 1997, mit 43 Jahren, wird Jacques R. Franzose. Das ist keine bloße Formalität: Da seine Kinder von einem „ausländischen“ Vater stammen, verlieren sie ihrerseits die französische Staatsangehörigkeit und müssen sie auf dem gleichen Verfahrensweg wie er über den „Status“ neu erwerben.

Auch wer als Franzose von Eltern stammt, deren Staatsangehörigkeit unbestritten und unbestreitbar ist, muss sich womöglich misstrauische Blicke und überzogene Beweisforderungen gefallen lassen. Die ehemalige Schuldirektorin Françoise B., 65 Jahre alt, in Algerien geboren, aber Kind eines französischen Vaters – der als „mutterstaatlicher“ Staatsbeamter zum „Gouvernement général“ nach Algier versetzt worden war –, beantragt einen neuen Personalausweis. Man fordert sie auf, nachzuweisen, dass sie Französin ist. Aber wie könnte sie es nicht sein, wo sie doch über 40 Jahre im Schuldienst verbeamtet war? Und wenn schon, sagt man ihr, ihr Geburtsort „lege die Vermutung nahe“, sie könnte Ausländerin sein.

So wie, ohne ihr Wissen, Lucienne G.: Die 50-jährige, in Straßburg geborene Anwältin hat sich in Paris niedergelassen und ihren Personalausweis mehr als einmal umstandslos erneuert bekommen. Plötzlich entdecken die Behörden, dass sie deutsche Urgroßeltern hat – deutsch wider Willen, da sie im damals deutsch besetzen Elsass geboren und vor 1914 germanisiert worden waren. Auch ihr wird, ähnlich wie Jacques R., die französische Staatsangehörigkeit einige Jahre später aufgrund ihres „Status“ zuerkannt.

Ausnahmen? Keineswegs. Geht man bis zu den Urgroßeltern zurück, hat mehr als ein Drittel der französischen Bevölkerung fremde Ursprünge. Wer nicht in Frankreich geboren ist und keine Eltern hat, die in Frankreich geboren sind, muss sich darauf gefasst machen, von einem Tag auf den anderen Beweise für seine Staatsangehörigkeit vorlegen zu müssen. Oder er erfährt, dass er gar kein Franzose ist. „Wir alle sind Franzosen unter Vorbehalt“, erklärt Gérald Tcholakian. „Uns kann es ein Leben lang passieren, dass die Staatsanwaltschaft unsere Nationalität in Frage stellt.“ Laurence Roques fügt hinzu: „Sobald in unserer Geschichte etwas mit auswärtiger Geburt vorkommt, sind wir suspekt – und oft zu einem kafkaesken Hindernislauf verurteilt.“

Suspekt ist beispielsweise Michèle C., Unternehmerin in einer großen Stadt im Südwesten Frankreichs. Sie ist Französin, aber in Tunis geboren. Ihre Mutter ist Französin, aber ebenfalls in Tunis geboren. Der Vater ihrer Mutter ist durch den Vater Franzose, aber dieser Vater – Michèles Urgroßvater – wurde auf Korsika geboren. Barbaren und Korsaren: Das ist zu viel für die Administration, die für all diese mutmaßlichen Betrüger vollständige Geburtsurkunden verlangt. Die Behörden der korsischen Hauptstadt Ajaccio reagieren ziemlich schnell, nach zwei Monaten. Aber die Sammelstelle in Nantes, wo Abschriften der Geburtsurkunden aller im Ausland geborenen Franzosen angefertigt werden, findet keine Spur von Michèles Mutter. Ein Jahr später wird sie doch noch fündig. Aber in der Zwischenzeit ist die Geburtsurkunde des Urgroßvaters ungültig geworden. Neue Anfrage in Ajaccio … 1995–1998: Michèle C., die Personalausweis und Pass verloren hatte, musste drei Jahre warten, bis sie neue Papiere bekam, was ihr Berufsleben unglaublich kompliziert gestaltete: Sie konnte weder verreisen noch ihre Identität beweisen.

Hoch dekoriert für Frankreich – aber kein Franzose

NIEMAND, wer immer er ist, welchen Titel, welchen Rang, welche Würden oder Auszeichnungen er auch besitzen mag, ist vor einem inquisitorischen Verfahren sicher. „Unter meinen Mandanten sind drei Generäle: hoch dekorierte Militärs, deren Väter im Ausland gedient hatten, wo sie dann geboren sind“, sagt Rechtsanwalt Alain Mikowski. Was die französischen Soldaten afrikanischer oder nordafrikanischer Herkunft betrifft, die in der Armee der Republik gekämpft haben, so ist ihnen 1993 die Staatsangehörigkeit entzogen worden, die sie seit zwanzig oder dreißig Jahren besaßen. Seitdem werden sie auch als Pensionäre anders eingestuft – sie beziehen jetzt das sehr viel niedrigere Ruhegeld von Fremdenlegionären.

Dabei steht im französischen Staatsangehörigkeitsrecht, das 1993 in den Code civil integriert wurde, nichts geschrieben, was die Eigenwilligkeiten und Niederträchtigkeiten der Administration rechtfertigen würde. Trotz zahlreicher Änderungen, die der Gesetzestext im Lauf des letzten Jahrhunderts erfahren hat, sind die Grundprinzipien – Jus sanguinis, das Abstammungsprinzip, und Jus soli, nach dem jeder im Land Geborene Staatsbürger ist – nie in Frage gestellt worden: Franzose ist ein Kind, wenn ein Elternteil Franzose ist oder, bei Eintritt der Volljährigkeit, wenn es von ausländischen Eltern in Frankreich geboren ist. Abgesehen natürlich von denen, die erst Franzosen werden – per Erklärung, Naturalisierung oder Wiedereinbürgerung.

Da das Staatsangehörigkeitsrecht offener ist als andere Gesetzeskomplexe, hat es jedoch viele „tote Winkel“, meint Staatsrat Jean-Michel Bélorgey. „Es ist allergisch gegen die Berücksichtigung atypischer Situationen. Der Gesetzgeber schreibt die Texte laufend um; und um niemanden vor den Kopf zu stoßen – weder die Verfechter der Freiheit, die in der Minderheit sind, noch die schweigende oder fremdenfeindliche Mehrheit –, lässt er Lücken, die den Behörden mit ihren tief verwurzelten Vorurteilen viel Spielraum lassen. Das führt dann eben zu all dem, was in den Lokalverwaltungen und an den Schaltern vor sich geht. Eine echte Regelung von höchster Stelle gibt es nicht.“

Es kommt sogar vor, dass an der höchsten Stelle selbst die Sicherungen durchbrennen und Runderlasse und Dienstanweisungen zirkulieren, die sowohl dem Buchstaben als auch dem Geist des Gesetzes zuwiderlaufen. Das ist eine Frage des historischen oder politischen Kontexts – und der Fähigkeit, Vernunft zu bewahren. Seit Jahrzehnten von der Angst geplagt, die „Horden“ aus der Dritten Welt könnten in Frankreich einfallen und das Land überschwemmen, scheint der Gesetzgeber von galoppierender Paranoia befallen, und weil er sich von Feinden umzingelt glaubt, verlangt er von seinen Staatsangehörigen, dass sie sich ausweisen: Jeder Franzose könnte ja ein Ausländer sein, der entweder selbst nichts davon weiß oder sich verborgen hält.

Schon 1985 erzählte Jacques Laurent in einem Aufsehen erregenden Artikel auf der Titelseite von Le Monde, was für Zumutungen er über sich ergehen lassen musste, um seinen Personalausweis erneuert zu bekommen.1 „Es gab einen Skandal, weil er so berühmt war“, kommentiert ein hoher, für solche Angelegenheiten zuständiger Staatsbeamter. „Aber es lief schon lange so. Schon damals gab es tausende von Jacques Laurents.“ Seit der Einführung des fälschungssicheren Personalausweises im Jahr 1995 gibt es hunderttausende, vielleicht sogar Millionen. „Das heutige Klima ist ungefähr das gleiche wie vor dreißig Jahren“, sagt der oben zitierte Beamte. „Um 1 Prozent Irrtümer oder Schwindeleien aufzudecken, vergiftet man das Leben von 99 Prozent aller Bürger. Das ist Wahnsinn! Aber darüber wird nicht mehr gesprochen. Als sei das Unannehmbare mit der Zeit normal geworden. Die Linke hat nichts geändert. Sie hat es sogar noch schlimmer gemacht. Die Staatskanzlei folgt den Urteilen des Kassationsgerichts noch weniger als früher: Wenn sie nicht Recht bekommt, wird eine Expertengruppe beauftragt, um ein Mittel zu finden, solche Urteile zu umgehen.“

Die „Circulaire Pasqua“ von 1993 ist also immer noch in Kraft: Ein Erlass, den der Präsident der Liga für Menschenrechte, Michel Tubiana, für völlig illegal hält, weil er über eine neue Verwaltungsmaßnahme (die Einführung des fälschungssicheren Ausweises) Zweifel an der Nationalität eingeführt hat, die im Gesetz nie vorgesehen waren.2 Unter dem Generalverdacht, ein ausländischer Betrüger oder ein illegaler Immigrant zu sein, muss jeder Bürger, der einen neuen Personalausweis beantragt, nachweisen, dass er Franzose ist. Als wäre der alte eine Fälschung gewesen. „Der fälschungssichere Personalausweis ist eine politische Entscheidung“, sagt Michel Tubiana. „Man verlangt, dass die Leute eine Bescheinigung ihrer Staatsangehörigkeit vorlegen, obwohl es ein Leichtes wäre, den gespeicherten Daten zu entnehmen, dass ihr Personalausweis schon drei- oder viermal anstandslos erneuert worden ist. Das ist reine Fremdenfeindlichkeit, die auf ein exklusives Nationalitätskonzept schließen lässt.“

Franzose durch das Jus soli? Ja. Aber Blut ist besser als Boden, und heute ist die Abstammung „der Königsweg“, sagt Laurence Roques. „Da ist man wenigstens sicher: Das Blut trügt nicht!“ Aber sobald man sich auf diese Logik einlässt – „Sag mir, welches Blut in deinen Adern fließt, wer dein Vater ist, wer dein Großvater, sag mir, wo du herkommst“ –, übernimmt man eine rassistische Sicht (wie es das Programm von Jean-Marie Le Pen bezeugt). „Es tauchen immer häufiger Verhaltensweisen auf, von denen ich ohne weiteres sagen würde, dass sie auf die Reinhaltung der weißen ‚Rasse‘ ausgerichtet sind“, erklärt Gérard Tcholakian. „An manchen Stellen, die für strittige Staatsangehörigkeiten zuständig sind, herrscht ein bewusster oder unbewusster Wille vor, die ‚Rasse‘ zu schützen. Es ist schon vorgekommen, dass ich über ein Dutzend Anweisungen zur Anerkennung der Nationalität junger Afrikaner vorgelegt habe, deren Väter unbestreitbar Franzosen sind und denen das Amtsgericht die Ausstellung einer Staatsangehörigkeitsbescheinigung verweigert.“

„Die Herkunft wird zu etwas Heiligem erklärt“, sagt Jean-Michel Bélorgey. „Als gäbe es eine Essenz des ‚Französisch-Seins‘, das von jeder Beschmutzung rein gehalten werden müsste.“ Daher der Verdacht, der jede im Ausland oder von ausländischen Eltern geborene Person trifft, daher diese obsessive Furcht vor einer möglichen „Verseuchung“ der „Rasse“ und dieses pathologische Einfordern von Dokumenten, die deren „Reinheit“ attestieren.

Ob Franzose aus Frankreich oder von anderswo, jeder oder fast jeder Bürger, der einen Personalausweis oder einen Pass beantragt, ohne im Besitz eines fälschungssicheren Personalausweises zu sein, wird aufgefordert, eine Staatsangehörigkeitsbescheinigung vorzulegen. Meistens weiß er gar nicht, dass es solche Bescheinigungen gibt: Außer in den Meldestellen der Polizei, wo ein paar oft unleserliche, immer noch unverständliche und im Gedränge der Warteschlangen kaum sichtbare Anschläge aushängen, gibt es keine direkten oder systematisch verbreiteten Informationen dazu. Die wenigen Broschüren, die das Justizministerium herausgegeben hat, oder die Faltblätter der Polizeipräfektur führen gewissermaßen eine Existenz im Verborgenen.

Der Bürger, der in keiner Weise auf die Prüfung vorbereitet ist, die ihn erwartet, begreift also gar nicht, was man von ihm will, lässt es sich von einem immer gereizter werdenden Beamten zum dritten Mal erklären, realisiert schließlich, wie vor den Kopf geschlagen, dass man seine Staatsbürgerschaft in Zweifel zieht, und gerät in Panik oder „verliert die Beherrschung“. „Ich habe dutzende von Leuten in meiner Kanzlei gehabt – aus allen Schichten der Gesellschaft, alle vollkommen eingegliedert und alle mit den Nerven am Ende“, sagt Alain Mikowski. „Sie sollten nicht nur eine unwahrscheinliche Menge an Papieren und Urkunden vorlegen, sondern bekamen auch gesagt, sie seien keine Franzosen oder müssten es erst mal beweisen.“

Bürger unter Verdacht

ES ist jedesmal ein Schock, für jeden Einzelnen“, bestätigt der Leiter einer Meldestelle der Pariser Polizei. „Die Leute verstehen die Welt nicht mehr. Immer haben sie sofort neue Ausweise bekommen, und jetzt werden sie plötzlich zum Amtsgericht geschickt. Und das Ganze im Gedränge einer ungeduldigen, vom langen Warten entnervten Menge, unter den lautstarken Protesten eines wütenden Bürgers und dem Geschrei eines Babys, das die Eltern in ihren Pass eintragen lassen wollen … Nein, der Auszug aus dem Geburtsregister reicht nicht, das Kind muss vorgezeigt werden, auch wenn es ein Säugling ist … Man hält uns für schreckliche Bürokraten, aber wir arbeiten alle unter unerträglichen Bedingungen, die aus einem Engel einen Teufel machen würden.“

Die Dienststelle der Polizei: ein Fegefeuer, das seltener ins Paradies als in die Hölle führt. Wegen zweifelhafter Nationalität von kleinlichen Beamten abgewiesen, die es auf höheren Befehl genauer als genau nehmen – „Seit drei Jahren sind wir gehalten, die Vorschriften im striktesten Sinne anzuwenden“, sagt ein leitender Beamter –, geht der Bürger zum Amtsgericht. Meistens muss er einen Termin vereinbaren, nur um die Liste der Urkunden in Empfang zu nehmen, die er für die Ausstellung einer Staatsangehörigkeitsbescheinigung vorzulegen hat.

Eine beeindruckende Liste, die aber, wie in der Vorbemerkung schwarz auf weiß geschrieben steht, nur „vorläufig“ ist und „nach Prüfung des Dossiers ergänzt werden kann“. Vorläufig wird der Bürger also gebeten, folgende Dokumente einzureichen: seine Geburtsurkunde, die Geburtsurkunden seines Vaters, seiner Mutter, der Großväter und Großmütter väterlicherseits und mütterlicherseits, der Urgroßväter und Urgroßmütter väterlicherseits und mütterlicherseits, sein Familienbuch, das seiner Eltern, Schwiegereltern und Großeltern, ihre Heiratsurkunden, seinen Wehrpass, Arbeitsbescheinigungen und Ähnliches mehr. „Es gab eine Zeit, da verlangte das Amtsgericht von Toulon nicht weniger als dreißig Dokumente für die Ausstellung einer Staatsbürgerschaftsbescheinigung“, sagt Gérard Tcholakian.

Hat der Bürger all diese Papiere beisammen, lässt er sich einen neuen Termin bei der Geschäftsstelle des Amtsgerichts geben, um sein Dossier einzureichen. Dort ergeht es ihm von Anfang an übel: Gewöhnlich gibt es keinen Warteraum – im 18. Arrondissement in Paris befinden sich ein paar Stühle in einem engen Gang, aber die meisten müssen stehen, manchmal zwei oder drei Stunden. Aber nicht nur das, es gibt auch kein Sprechzimmer, nur offene Schalter. Dort blättert ein Beamter das Dossier durch, indem er vor aller Ohren seine Bemerkungen macht und Fragen stellt, die jeder hören kann.

Legale Verletzung der Privatsphäre: Im Amtsgericht eines Vororts erklärt ein alter Mann, dass sein Großvater in Dachau gestorben ist und seine Papiere im Warschauer Ghetto verbrannt sind; ein anderer, dass seine Schwiegereltern, die in einem abgeschiedenen Dorf in Mali leben, nicht 500 Kilometer nach Bamako fahren können, um ihr Familienbuch zu fotokopieren. Der Schalterbeamte weiß nicht, was er machen soll. Viele sind für diese Aufgaben nur in Schnellkursen ausgebildet worden und wissen nicht Bescheid, verwechseln Guinea-Conakry mit Guinea-Bissau, das ehemalige Belgisch-Kongo mit dem ehemals französischen Kongo … Hilflos ruft der Beamte die Vorgesetzte der Geschäftsstelle an, die nicht im Haus ist, dann das Standesamt in Nantes, wo niemand antwortet. Schließlich packt er das Dossier zusammen. „Wir werden sehen …“

Möglicherweise – und das ist keine Seltenheit – muss der Mann sechs Monate warten, bis er eine Eingangsbestätigung bekommt. In der Zwischenzeit prüft die Vorgesetzte der amtsgerichtlichen Geschäftsstelle seine Dokumente und stellt, wenn alles gut geht, eine Staatsangehörigkeitsbescheinigung aus. Oder sie hat Bedenken und leitet das Dossier ans Justizministerium weiter. Letzteres ist die Regel: Bei der geringsten Schwierigkeit geben die Urkundenbeamten der Amtsgerichte, denen es an Personal und Selbstvertrauen mangelt, ihre Fälle ans Justizministerium ab, wo ein Dutzend nicht weniger beflissener oder ängstlicher Beamter die Konsulate von Ouagadougou, Pondicherry oder Rabat um Beglaubigung der Auszüge aus dem Geburtsregister bittet. Manche Konsulate reagieren gar nicht, andere lassen sich Zeit – ein paar Monate, ein Jahr, zwei Jahre. Es gibt keine gesetzliche Frist für die Aushändigung von Verwaltungsdokumenten. Manchmal wartet man Jahre. Und da die französischen Beamten – im Unterschied zu anderen Ländern wie etwa Großbritannien – verdeckt arbeiten, weiß man nie, wer sich um die eigene Sache kümmert, in welcher Dienststelle sie festhängt und warum es nicht weitergeht.

Wird der Fall negativ entschieden, kann man in der ersten Instanz Berufung einlegen oder, wenn das Amtsgericht selbst die Entscheidung des Justizministeriums bestätigt, in der zweiten Instanz. Da aber „das ganze französische System auf Misstrauen beruht, da die Texte immer im engsten Sinne gelesen und ausgelegt werden“, wie Alain Mikowski sagt, ist die Angelegenheit damit nicht beendet. „Die Staatsanwaltschaft kämpft verbissen“, sagt Michel Tubiana. „Ich hatte schon die heftigsten Auseinandersetzungen mit zynischen oder stumpfsinnigen Staatsanwälten. Einmal hat dasselbe Gericht in zwei absolut identischen Fällen (zwei Brüder, denen das Justizministerium die französische Staatsangehörigkeit absprach) mit zwei Monaten Abstand zwei gegensätzliche Urteile gefällt. Ich musste mich an das Berufungsgericht wenden.“ Und Alain Mikowski fügt hinzu: „Wir verlieren 90 Prozent der Prozesse. In Pontoise nimmt der Staatsanwalt nicht einmal an der Verhandlung teil. In Evry auch nicht. Bekommt man ein positives Urteil, geht die Staatsanwaltschaft in Berufung. Und lässt nicht mehr locker.“

Natürlich gibt es immer Widersprüche zwischen individuellen Lebensgeschichten und allgemein gültigen Regeln. Aber zur Zeit wird der Bogen überspannt. Die Staatsmacht beharrt verbiestert auf ihrer Vorstellung von „Normalität“. Auf Konformität. Von Identitätskrisen geschüttelt, klammert sie sich an Mythen – den Herkunftsmythos, den Mythos von der ethnischen „Reinheit“ – und spielt verrückt. Sie erklärt die Nation zum Heiligtum, während sie im gleichen Moment einen Teil ihrer Machtbefugnisse an auswärtige Instanzen abgibt; sie versteift sich auf die engste Definition der nationalen Zugehörigkeit, während die doppelte oder mehrfache Staatsangehörigkeit immer geläufiger und gefragter wird; und sie lässt nur einen Aspekt des Individuums gelten, obwohl die Menschen sich zunehmend durch ihre Verwurzelung in einer bestimmten Gegend, durch ihre Religionszugehörigkeit, ihr politisches oder berufliches Engagement in Europa einordnen. Der französische Staat aber kennt nur Franzosen – die er höchst willkürlich und so eng wie möglich als solche definiert –, auch wenn diese Franzosen sich in gleicher Weise und ohne goße Aufregung als Korsen oder Bretonen, vielleicht schon als Europäer und zugleich als Jugoslawen, Algerier, Portugiesen oder Malier „fühlen“.

Ist Frankreich „verschimmelt“, wie ein Schriftsteller behauptet? Frankreich gewiss nicht, aber die Staatsmacht mit Sicherheit. Eine Staatsmacht, die sich einigelt, die nach Muff riecht und heimische Nabelschau kultiviert. Da ist nicht mehr viel zu spüren von denen, die Frankreich zur Welt hin geöffnet und Werte hochgehalten haben – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –, die eine Zeitlang seine Größe ausgemacht haben. Weit entfernt davon, irgendjemand auszuschließen, haben die Revolutionäre von 1789 alle in die französische Nation aufgenommen, deren Leben von einer Bindung an dieses Land und seine Ideale zeugte.

Die Wachhunde der nationalen „Reinheit“ täten gut daran, einmal über den Artikel 4 der Verfassung von 1793 nachzudenken: „Jeder, der in Frankreich geboren ist, dort wohnt und das einundzwanzigste Lebensjahr vollendet hat, jeder Fremde, der das einundzwanzigste Lebensjahr vollendet hat, seit einem Jahr in Frankreich wohnt, dort von seiner Arbeit lebt oder einen Besitz erwirbt, eine Französin heiratet, ein Kind adoptiert oder einen Alten ernährt, sowie jeder Fremde, dem die gesetzgebende Versammlung einen wohlverdienten Anspruch auf Menschlichkeit zubilligt, darf die französischen Bürgerrechte ausüben.“

dt. Grete Osterwald

* Journalist und Buchautor.

Fußnoten: 1 „Jacques Laurent – est-il français?“, Le Monde, 11. Juli 1985. Jacques Laurent (1919–2000), Schriftsteller und Journalist, Ritter der Ehrenlegion, ab 1986 Mitglied der Académie Française. 2 In diesem Erlass wird der Antrag auf Ersatz des alten Personalausweises durch einen fälschungssicheren Plastikausweis als Erstantrag gewertet; so kommt der Antragsteller in die Lage, beweisen zu müssen, dass er Franzose ist.

Le Monde diplomatique vom 14.06.2002, von MAURICE T. MASCHINO