14.06.2002

Freiheit, Gleichheit, Sachzwänglichkeit

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Freiheit, Gleichheit, Sachzwänglichkeit

ANGESICHTS der Wahlerfolge der extremen Rechten in Frankreich hört man die Forderung, das Verfahren der Präsidentschaftswahlen zu ändern oder die Zahl der Kandidaten zu begrenzen. Doch solche Vorschläge unterschätzen den Ernst der Lage. Die eigentliche Krise besteht darin, dass die Gesellschaft auf politischer Ebene nicht mehr repräsentiert ist, weil die politischen Programme der Parteien – unter Berufung auf die „Sachzwänge“ – gleichgeschaltet sind. Der Handlungsspielraum der politischen Macht ist vor allem deshalb so eng begrenzt, weil zumal die Linke die Fähigkeit eingebüßt hat, über eine immer ungleicher werdende kapitalistische Gesellschaft hinauszudenken.Von ANNE-CÉCILE ROBERT *

Im Mai erlebte Frankreich in den zwei Wochen zwischen den beiden Urnengängen zur Wahl des Staatspräsidenten eine Flut von Massendemonstrationen. Manche Beobachter wollten darin ein „Bedürfnis nach Politik“1 erkennen. Doch sieht man vom unmittelbaren Anlass ab, dass nämlich der Kandidat des rechtsextremen Front National sich für den zweiten Wahlgang qualifiziert hatte, so bezeugt die außergewöhnliche Mobilisierung vor allem eine tief greifende Krise der repräsentativen Demokratie. Die vermittelnden Institutionen, insbesondere die Parteien, verlieren zunehmend den Kontakt zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Der fortschreitende Legitimitätsverlust der politischen Gewalt, der unweigerlich die Demokratie zerstört, ist mit der aktuellen Krise vollends offenbar geworden.

Seit zwanzig Jahren fordern, fördern, und organisieren die Regierungsparteien die Beschränkung des öffentlichen Handelns. Die Schwächung des Nationalstaats, die Einbindung in die Globalisierung und die europäische Einigung rechtfertigen in ihren Augen, dass das Politische zurückstehen, wenn nicht gar abgeschrieben werden muss.2 Erst kürzlich wies EU-Kommissar Michel Barnier auf eine „Lüge durch Verschweigen“, auf das „große Geheimnis“ hin, dass „die Präsidentschaftskandidaten ihre Wahlversprechen im Namen einer Macht abgeben, die sie mit der Europäischen Union teilen“3 . In Frankreich haben die sozialistischen Parteiführer das Thema nach der 1983 erfolgten Wende zum öffentlichen Sparen unter dem Titel „äußere Sachzwänge“ popularisiert.

Nun wird kein ernst zu nehmender Beobachter bestreiten, dass „die Zeiten hart und die Handlungsspielräume klein sind“4 ; auch wird niemand einen „ängstlichen Rückzug“ auf die nationale Ebene befürworten, wie es die Anhänger des Einheitsdenkens gern als Schreckgespenst ausmalen. Doch die Rede von Sachzwängen ist alles andere als neutral; seit jeher diente sie zur Legitimation des Bestehenden. Schon 1791 wollte Barnave im Namen der Sachzwänge „die Revolution beenden“, da ein Hinausgehen über die Errungenschaften von 1789 das Recht auf Privateigentum in Frage gestellt hätte. Auch den Linksparteien wurden stets Sachzwänge entgegengehalten, wenn ihr Reformeifer gebremst werden sollte. So war schon 1936 das Argument zu hören, die Einführung der Vierzigstundenwoche und bezahlter Urlaubstage würde gewiss die französischen Unternehmen ruinieren.5 Allerdings gab es damals den sozialistischen Ratspräsidenten Léon Blum, der auf die Bedenken des Staatspräsidenten erwiderte: „Das steht in meinem Programm.“

Inzwischen geht der Sinn für „Realismus“ so weit, dass gegen praktisch jeden sozialen Kampf eingewendet wird, er verfolge unrealistische Ziele. Als das Land 1999 von einer Entlassungswelle überrollt wurde, schockierte Ministerpräsident Jospin die Öffentlichkeit mit dem Eingeständnis seiner Machtlosigkeit: „Wir dürfen angesichts der Ereignisse bei Michelin nicht die grundlegende Tendenz der wirtschaftlichen Entwicklung aus den Augen verlieren. […] Ich glaube nicht, dass man die Wirtschaft noch administrativ lenken kann. […] Die Wirtschaft lässt sich heute nicht per Gesetz, nicht durch Vorschriften, nicht durch die Verwaltung regulieren.“6

Diese Begrenzung des Handlungsspielraums der öffentlichen Hand macht sich gegenüber einem leidenden Gesellschaftskörper als Gewalt geltend. Es ist nicht zu übersehen, dass die beschworenen Sachzwänge, die der Globalisierung und Europäisierung entspringen, in aller Regel die unteren Schichten belasten. Der Sachzwangdiskurs lässt nur noch konservative Entscheidungen als realistsch gelten, womit er das politische „Angebot“ gleichschaltet und einen großen Teil der Gesellschaft seiner Repräsentation beraubt – sprich die „Armen“, die Arbeiter, die Globalisierungsverlierer, die „Beherrschten“.

Mächtige mit lauter guten Absichten

DER Mangel an Repräsentation wird auch dadurch nicht besser, dass die Herrschenden oft mit den besten Absichten vorgeben, im Namen der Beherrschten zu sprechen und ihre Interessen zu vertreten. So tritt die Unterstützung für die Bedürftigen an die Stelle des Kampfes der Ausgebeuteten. Ein Zitat aus einem Bulletin der Ortsgruppe der Sozialisten von Paris (aus dem Jahr 2001) mag den Wandel veranschaulichen: „Für uns bedeutet Sozialismus im eigentlichen Wortsinn, die Grundwerte tagtäglich zu leben, die uns ein Jaurès, ein Blum, auch ein Marx oder ein Zola und – uns näher – ein Abbé Pierre oder ein Coluche hinterlassen haben.“

Die Selbstbeschränkung der politischen Gewalt tangiert die Demokratie schlechthin. Das Prinzip der Repräsentation oder das allgemeine Wahlrecht verlieren jeden Sinn, wenn politische Entscheidungen hinter „objektiven Zwängen“ verschwinden. Dann setzt sich das Gewaltpotenzial von Herrschaft womöglich auf unerwartete Weise durch, wie zumal die Ergebnisse der französischen Präsidentschaftswahlen zeigen. Hier erhielten im ersten Wahlgang der linke wie der rechte „Sachzwanganhänger“ die Quittung für ihre Politik: Jacques Chirac bekam weniger als 20 Prozent der Stimmen, für einen amtierenden Kandidaten außergewöhnlich wenig, während der sozialistische Ministerpräsident mit Pauken und Trompeten durchfiel. Dagegen schaffte der Kandidat, der den ökonomischen Fatalismus mit absurden, fremdenfeindlichen Argumenten in Frage stellte, erstmals den Sprung in die zweite Runde, und zwar mit den Stimmen eines beträchtlichen Teils der unteren Schichten, zumal der Arbeiter.7

Viele unterschätzen auch, wie demokratiezerstörend die antisoziale Politik der Linken wirkt. Die extreme Rechte besetzte mit ihrem sozial und kulturell reaktionären Programm das von den Demokraten aufgegebene politische Feld. Es machten sich aber auch andere Formen des Protests gegen den herrschenden Konformismus bemerkbar: Viele Bürger gingen nicht zur Wahl, gaben leere oder ungültige Stimmzettel ab oder votierten für einen der zahlreichen Außenseiter, die um die 5 Prozent Stimmanteil erzielten. Nur: Wie viele dieser Wähler wollten ihren Kandidaten oder ihre Kandidatin wirklich an der Spitze der Republik sehen? Eine Frage, die das Unbehagen am derzeitigen Zustand der repräsentativen Demokratie überdeutlich macht.

Doch die Krise zeigt sich nicht nur beim Abstecken der Felder öffentlichen Handelns (auf lokaler, nationaler, europäischer und globaler Ebene), sondern auch im Mangel an politischen Handlungsentwürfen, das heißt an der Fähigkeit, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu durchdenken und Problemlösungen zu erarbeiten. Der Substanzverlust der politischen Gewalt ist ein Prozess, der wie von selbst abläuft – als Folge der Globalisierung – und zugleich ideologisch beeinflusst ist. Das Letztere in dem Sinne, wie es Claude Lefort im Anschluss an Marx formuliert hat: Ideologie als vorgeblich rationaler Diskurs, der verhindern soll, die gesellschaftliche Ordnung auf ihre Grundlagen, ihre Legitimität, ihre Entwicklung hin zu hinterfragen.8

Wobei sich übrigens die beiden Probleme gegenseitig verstärken. Da die Politik nun einmal machtlos ist, übertragen wir die Macht doch gleich der Gesellschaft und ihrem „Mehrheitsaktionär“, dem Markt. Und da uns die Wirklichkeit entgleitet, verkünden wir doch gleich das Ende öffentlichen Handelns. Das mündet ganz folgerichtig in eine Professionalisierung der Politik, Politik als Beruf, nicht als Mandat. Aber politische Repräsentation ist etwas anderes als Management.

Der sowohl mechanische als auch ideologische Charakter dieser sukzessiven Entmachtung der politischen Gewalt resultiert weitgehend wiederum aus einer Überbewertung der Sachzwänge und fällt unter die Rubrik, die Claude Lefort als „ideologisches Verkennen der Ideologie“ bezeichnet. Denn auch am Anfang der Globalisierung standen schließlich Entscheidungen. Etwa als die Nixon-Administration 1971 die Goldkonvertibilität des Dollar aufhob, was die Volatilität der Kapitalmärkte zur Folge hatte. Später beschleunigte auch die Europäische Union die Liberalisierung des Kapitalverkehrs, namentlich mit Verabschiedung der Einheitsakte.

Überdies binden sich die politisch Verantwortlichen selbst die Hände, wenn sie Verträge abschließen, mit denen sie ihre Handlungsfähigkeit an den Markt abtreten. Die Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) zum Beispiel, oder die ständige Ausweitung der Handlungsbefugnisse dieser und ähnlicher Institutionen, erforderten stets ihre Unterschrift. Wäre vor Jahren das Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI) unterzeichnet worden, hätten die Signatarstaaten heute keinerlei rechtliche Möglichkeit mehr, dem Begehren der Global Players Grenzen zu setzen. Auf EU-Ebene haben vor allem der Maastricht-Vertrag und der so genannte Stabilitätspakt der politischen Gewalt ein Zwangskorsett verpasst.

Das internationale Recht wird immer mehr zu einer gefährlichen Waffe, mit der sich die Volksvertreter vor sich selbst schützen. Im Unterschied zum Internationalismus der alten Arbeiterbewegung ist die Globalisierung gerade kein demokratisches Projekt. Im Gegenteil, ihr gnadenloser „Objektivismus“ besiegelt das Ende der politischen Repräsentation und des allgemeinen Wahlrechts. Und die fortlaufende Gleichsetzung der Begriffe Internationalismus und Globalisierung begünstigt diesen Verfall der Demokratie.

Gleichwohl ist die Überbewertung der Sachzwänge nicht frei von Widersprüchen. Zumal die Regierung der USA weiß den globalisierten Ordnungsrahmen immer wieder zu sprengen, wenn es um die eigenen Interessen geht. So setzte sie im März 2002 die Importzölle für Stahlerzeugnisse drastisch herauf, um die einheimische Industrie zu schützen. Auch in der EU verbleibt den Regierenden ein beträchtlicher Handlungsspielraum. Im Europäischen Rat zum Beispiel entscheiden die EU-Staats- und Regierungschefs gleichberechtigt im Konsensverfahren. Alle EU-Verträge müssen einstimmig beschlossen werden. Man denke auch an das Vetorecht, dessen Bedeutung auf dem EU-Gipfel von Nizza im September 2000 ganz deutlich wurde.9 Der französische Staatspräsident könnte, so er nur wollte, auf dem EU-Ratsgipfel in Sevilla im Juni dieses Jahres dieses Veto nutzen und die besondere Legitimität, die ihm 82 Prozent der Wähler im zweiten Wahlgang verliehen, in die Waagschale werfen, um Reformen zu verlangen.

Diese Kluft zwischen Dogma und Realität ist die Quelle der politischen Krise, aber hier liegt auch die Möglichkeit ihrer Überwindung verborgen. Die Entwertung des Politischen und der erneute Glaube an die Zwangsläufigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen nährt sich von der Zersetzung eines Topos, der ebenso bedeutsam ist wie die Demokratie: die Möglichkeit eines utopischen Anderen, das die aktuellen Leiden ertragen hilft und die Aussicht auf ein Ende von Leid schlechthin in sich birgt. In perfekter Symmetrie zum Totalitarismus implementiert der ideologische Sieg des Liberalismus eine Diktatur der Tatsachen, die den kurzfristigen Wirtschaftsinteressen einer kleinen Gruppe den Vorrang vor den langfristigen Interessen der Gemeinschaft gibt. Mag ja sein, dass die Welt voller Ungerechtigkeit ist – es gibt nun mal keine „andere“ Lösung. Die so freundlich und neutral klingende Rhetorik vom „Global Village“ dient dabei nur dem einen Zweck: die gesellschaftlichen Verhältnisse mit einem narkotisierenden Dunstschleier zu überziehen.

Die Rekonstruktion des politischen Angebots wird ohne eine Rückeroberung des Anderen nicht möglich sein, dies aber setzt eine kritische Analyse der Weltgesellschaft und ihrer Herrschaftsverhältnisse voraus. Für die nichtkommunistische Linke bedeutet das, dass sie sich vom Gefühl des Scheiterns und der Angst befreien muss, die von der Erinnerung an die totalitären Systeme herrühren. Wie der Utilitarismuskritiker und Ökonom Alain Caillé unterstreicht, setzt die Selbstbeschränkung des Politischen just in dem Moment ein, in dem „der Kapitalismus tatsächlich beginnt, der marxistischen Beschreibung zu entsprechen. Seit er sich von jeglicher Regulierung nicht nur politischer, sondern auch moralischer, ethischer und kultureller Art befreien konnte, wird er durch kein Gegenprinzip mehr kompensiert und ist nur noch sich selber zur Rechenschaft verpflichtet.“10

Was wir brauchen, ist ein politischer Neubeginn, ein Prozess politischer Akkulturation. Sonst laufen wir Gefahr, dass sich das „Bedürfnis nach Politik“ in substanzlosen tribalistischen Verbrüderungsritualen verliert. Auf der 1.-Mai-Demonstration gegen den Rechtsextremismus zum Beispiel hat eine junge Frau diese kulturelle Konfusion gespürt und deshalb ausgerufen: „Das erinnert mich an die Fußball-Weltmeisterschaft!“

Doch auch die Politiker, die durch den Sachzwangdiskurs verlernt haben, als freie Menschen zu denken, haben diesen Akkulturationsprozess bitter nötig. Pierre Bourdieu sagte 1992: „Was mich frappiert, ist das Schweigen der Politiker. Sie zeigen einen unglaublichen Mangel an mobilisierungsfähigen Idealen. […] Was Not tut, ist die Schaffung kollektiver Arbeitsbedingungen zur Rekonstruktion eines Ensembles realistischer Ideale, die den Willen der Menschen mobilisieren, ohne ihr Bewusstsein zu mystifizieren.“11

Wie genau und wo die öffentliche Regulierung auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene auszuüben ist, muss erst noch entschieden werden. Doch die Willensbildung in dieser Frage darf nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden, sie erfordert eine breit angelegte öffentliche Diskussion. In der Debatte über diese grundlegenden Entscheidungen muss sich das politische Angebot neu definieren – in aller Freiheit. Dass wir der neoliberalen Globalisierung kein schlüsselfertiges Projekt entgegensetzen können, ist zweitrangig. Dem Bürger bleibt die Möglichkeit – ja die Pflicht –, einen anderen Weg einzuschlagen als den durch die scheinbare gesellschaftliche Zwangsläufigkeit vorgezeichneten.

dt. Bodo Schulze

* Autorin von „Un totalitarisme tranquille. La démocratie confisquée“, Paris (Syllepse) 2001 (gemeinsam mit André Bellon).

Fußnoten: 1 Michel Wieviorka, „Donnez-nous envie de voter à gauche“, Libération, 10. Mai 2002. 2 Pascal Perinneau, TF1, 21. April 2002. 3 Michel Barnier, „Le grand secret de l‘élection présidentielle“, Libération, 12. Februar 2002. 4 Le Monde, 14. Januar 1992. 5 Dazu Serge Halimi, „Quand la gauche essayait“, Paris (Arléa) 2000. 6 France 2, 14. September 1999. 7 Siehe insbesondere Le Figaro und La Tribune, 23. April 2002. 8 Claude Lefort, „L‘idéologie“, Encyclopédie Universalis, 1973. 9 Dazu Bernard Cassen, „Est-il encore utile de voter après Barcelone?“, Le Monde diplomatique, April 2002. 10 „Le capitalisme a démantelé les régulations sociales et symboliques“, Libération, 6. Mai 2001. 11 Le Monde, 14. Januar 1992.

Le Monde diplomatique vom 14.06.2002, von ANNE-CÉCILE ROBERT