14.06.2002

Operation Condor II

zurück

Operation Condor II

WIR müssen noch einmal auf den Staatsstreich gegen den venezolanischen Staatspräsidenten Hugo Chávez am 11. April zurückkommen. Chávez war rasch wieder in Amt und Würden, doch die Frage, welche Lehre uns dieses einzigartige Paradebeispiel eines Putsches bietet, ist damit längst nicht abgehakt. Diese Lehren zu ziehen ist im Gegenteil absolut notwendig, wenn wir noch eine Chance haben sollen, die nächste Rebellion der Militärs zu verhindern, die sich in Caracas abzeichnet.

Erstaunlich ist vor allem, wie ungerührt die internationale Gemeinschaft die Militäraktion zur Kenntnis nahm. Denn die war schließlich gegen eine Regierung gerichtet, die bei allem Respekt für die Freiheitsrechte moderate Sozialreformen in Angriff genommen hat und damit ein einzigartiges Experiment des demokratischen Sozialismus in Lateinamerika verkörpert.

Man kann nur bedauern, dass die sozialdemokratischen Parteien Europas sich in dem Augenblick in Schweigen gehüllt haben, da die Freiheit in Venezuela mit Füßen getreten wurde. Und einige ihrer historischen Leitfiguren wie Felipe González besaßen sogar die Stirn, den Putsch auch noch zu rechtfertigen. Er zögerte nicht einmal, sich dem Triumphgeschrei anzuschließen, in das der IWF, US-Präsident George Bush oder der spanische Ministerpräsident und derzeitige EU-Ratsvorsitzende José María Aznar ausbrachen.

Der letzte lateinamerikanische Putsch gegen einen gewählten Staatschef fand im September 1991 gegen Haitis Präsident Jean-Bertrand Aristide statt. Nach dem Ende des Kalten Kriegs glaubte man, in Washington sei auch der alte Geist der „Operation Condor“ am Ende, der dafür verantwortlich war, dass in Südamerika während der Siebziger- und Achtzigerjahre im Namen des Antikommunismus diktatorische Regime installiert wurden. Und man konnte annehmen, dass die US-Regierung jede Verschwörung gegen eine frei gewählte Regierung verurteilen würde.

Doch seit dem 11. September 2001 weht über Washington wieder der Geist des Krieges und fegt solche Skrupel offenbar beiseite. Nach den Worten von George W. Bush gilt heute: „Wer nicht für uns ist, ist für die Terroristen.“

Hugo Chávez handelte entschieden zu unabhängig. Er versuchte die Opec-Politik umzudrehen, was Washington nicht gefallen konnte. Er traf sich mit Saddam Hussein. Er besuchte den Iran und Libyen, er normalisierte Venezuelas Beziehungen zu Kuba. Und er weigerte sich, den Plan der kolumbianischen Regierung zur Bekämpfung der Guerilla-Organisationen zu unterstützen.

EIN solcher Mann musste weg. Aber das konnte Washington nicht mehr mit den schlichten und blutigen Mitteln von einst bewerkstelligen, wie 1954 in Guatemala, 1965 in Santo Domingo oder 1973 in Chile.

Also wurde der Abteilungsleiter für lateinamerikanische Angelegenheiten im US-Außenministerium mit der Sache betraut. Otto Reich stellte fest, dass in Lateinamerika in den letzten zehn Jahren sechs gewählte Präsidenten ohne Staatsstreich gestürzt worden waren, zuletzt Argentiniens Staatschef De la Rúa. Nicht von der Armee gestürzt, sondern durch das Volk.

Nach diesem Modell ließ sich auch der Sturz von Chávez organisieren. Als Erstes formierte sich eine Koalition der Besitzenden – die katholische Kirche, repräsentiert in erster Linie durch das Opus Dei, die Finanzoligarchie, die Arbeitgeber, das weiße Bürgertum und eine korrupte Gewerkschaft – und legte sich den Namen „Zivilgesellschaft“ zu. Sodann schlossen die Eigentümer der großen Medien einen mafiosen Pakt und beschlossen, die Kampagne zur Verteidigung der „Zivilgesellschaft“ nach Kräften zu unterstützen.

Vor keiner Lüge zurückschreckend, hämmerten sie der Bevölkerung ein: „Chávez ist ein Diktator“ und: „Chávez ist gleich Hitler“ – obwohl niemand seiner Anschauungen wegen im Gefängnis saß. Ohne Zögern gaben die Medien die Parole aus: „Chávez muss gestürzt werden.“

Während sich die Besitzenden gegen einen demokratischen Präsidenten verschworen, bedienten die Medien sich solcher Begriffe wie „Volk“, „Demokratie“ und „Freiheit“. Sie organisierten Demonstrationen, sie stellten die geringste Kritik seitens der Regierung an ihren Machenschaften als einen „gravierenden Angriff auf die Meinungsfreiheit“ hin und brachten Klagen bei internationalen Organisationen vor; sie erfanden den umstürzlerischen Streik neu, bliesen zum Angriff auf den Präsidentenpalast und riefen zum Staatsstreich auf.

Dabei verwechselten die Medien, ihrer nahe liegenden Neigung zur Propaganda nachgebend, das angebliche Volk, in dessen Namen der Staatsstreich vom 11. April geführt wurde, mit dem wirklichen Volk – das Hugo Chávez nach nicht einmal zwei Tagen wieder an die Macht brachte. Doch ihre Reue war von kurzer Dauer. Derzeit setzen sie – nachdem ihr Verhalten straflos geblieben ist –, ihre Lügen- und Hetzkampagne unerbittlicher fort als je zuvor, um die demokratisch gewählte Regierung Venezuelas zu Fall zu bringen. Im Schutz der allgemeinen Gleichgültigkeit wollen sie ein perfektes Verbrechen verüben.

Le Monde diplomatique vom 14.06.2002, von IGNACIO RAMONET