Das großzügige Angebot, das keines war
ALS einen „Sieg für Scharon“ bezeichnete ein israelischer Kommentator die Nahostrede von Präsident Busch vom 24. Juni 2002. Während die israelische Regierung derzeit die letzten Reste des Oslo-Abkommens zunichte macht, fordern die Vereinigten Staaten einen Führungswechsel in der Autonomiebehörde als Voraussetzung für alle weiteren diplomatischen Schritte. Ein Krieg ohne Ende zeichnet sich ab. Dabei schienen Israelis und Palästinenser im Juni 2000 in Camp David einem Abkommen so nahe wie nie.
Von ALAIN GRESH
Wenn sich die Historiker in einigen Jahrzehnten mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt wähend der 1990er-Jahre beschäftigen, werden sie sich in einem Punkt einig sein: Der erste Schritt auf dem langen Weg in die Hölle wurde in Camp David getan, dort, wo sich vom 11. bis zum 25. Juli 2000 US-Präsident Bill Clinton, Israels Ministerpräsident Ehud Barak und Jassir Arafat, der Vorsitzende der palästinensischen Autonomiebehörde, zu Gipfelgesprächen trafen. Nach Auswertung der internationalen Medienberichte über dieses Treffen werden sie ihren Studenten die sichere Erkenntnis vermitteln können, dass eine Geschichtsschreibung, die sich auf Pressemeldungen verlässt, nur wenig Bezug zur Wirklichkeit hat. Denn in der Presse wurde monatelang nur eine Version des Geschehens in Camp David propagiert: Arafat habe Baraks „großzügiges Angebot“ ausgeschlagen – nämlich einen Palästinenserstaat zu schaffen, der 95 oder sogar 97 Prozent des Westjordanlands und den gesamten Gaza-Streifen umfassen und Ostjerusalem zur Hauptstadt haben sollte. Nur weil Arafat darauf beharrte, Barak müsse auch noch Millionen von Palästinensern das Rückkehrrecht garantieren, sei ein historisches Friedensabkommen in Camp David gescheitert.
Diese Behauptung zwingend zu widerlegen, gehört zu den großen Verdiensten von „Le Rêve brisé“1 , dem neuesten Buch von Charles Enderlin, langjähriger Jerusalem-Korrespondent des Senders France 2. Enderlin bietet eine äußerst interessante, auf Primärquellen beruhende Darstellung, wie der Oslo-Friedensprozess gescheitert ist, die im Übrigen von anderen Zeitzeugen bestätigt wird.2
Ende Mai 1999 alarmierte Saeb Erekat, einer der wichtigsten palästinensischen Unterhändler, seine gerade an die Macht gekommenen Gesprächspartner aus den Reihen der israelischen Arbeitspartei mit folgender Mitteilung: „Wir haben keinen Handlungsspielraum mehr. In der palästinensischen Gesellschaft wurde die Hoffnung auf Frieden in den letzten Jahren regelrecht abgewürgt.“ Kurz zuvor hatte Benjamin Netanjahu, nach drei Jahren im Amt des Ministerpräsidenten, die politische Führung an Ehud Barak abtreten müssen.
Immerhin hatte sich die israelische Armee zu diesem Zeitpunkt aus den großen Städten im Westjordanland zurückgezogen (mit Ausnahme von Hebron) und die Palästinenser verfügten über eine gewählte Selbstverwaltung. Doch ihr Lebensstandard sank rapide, und ihr Alltag wurde zunehmend unerträglich. Unzählige israelische Checkpoints – mit demütigenden Kontrollen – machten es fast unmöglich, sich innerhalb der palästinensischen Gebiete zu bewegen. Zugleich setzte Israel den Ausbau der Siedlungen fort und enteignete immer neues arabisches Land. Die Situation war schlimmer als vor Unterzeichnung der Oslo-Verträge von 1993. In israelischen Gefängnissen saßen noch immer hunderte palästinensische Gefangene, die vor 1993 inhaftiert worden waren. Da die in Oslo vereinbarte Übergangsperiode, Grundlage des Mandats der Autonomiebehörde, im Mai 1999 endete, stand die Gründung eines palästinensischen Staates an, doch die Zeitpläne wurden nicht eingehalten, und über die entscheidenden Fragen – Grenzen, Jerusalem, Siedlungen, Flüchtlinge, Sicherheit, Wasser – gab es immer noch keine Verhandlungen.
Angesichts dieser Lage begrüßte die palästinensische Führung damals den Wahlsieg der Arbeitspartei, auch wenn die Person Ehud Baraks (der „höchstdekorierte Soldat in der Geschichte Israels“) gewisse Befürchtungen weckte. Als Chef des Generalstabs hatte er sich im September 1993 gegen die Oslo-Verträge gestellt und als Innenminister im September gegen die Oslo-II-Abkommen gestimmt, die den Abzug der israelischen Truppen aus den großen palästinensischen Städten bestimmt hatte.
Unter dem Vorwand, es sei besser, sofort in Verhandlungen über den Endstatus des Westjordanlands und des Gaza-Streifens einzutreten, versuchte Barak, sich den verbindlichen Absprachen seiner Amtsvorgänger zu entziehen. Er hintertrieb die Übergabe weiterer Teilgebiete an die Autonomiebehörde und machte dann erst nach langem Zögern einige begrenzte Zugeständnisse. Und er hielt sich auch nicht an sein eigenes Versprechen, wonach sich Israel aus drei Dörfern an der Stadtgrenze Jerusalems (Abu Dis, Asarija und Sauahara) zurückziehen würde – obwohl es für diese Maßnahme im Kabinett und im Parlament bereits eine Mehrheit gab.
Zudem hielt Barak keineswegs nur aus taktischen Gründen an der Siedlungspolitik fest. Zu den ersten symbolischen Gesten nach seiner Wahl gehörte ein Besuch bei den extremistischen Siedlern in Ofra und Bet-Ela, und am 31. März 2000 bekräftigte er in einer Grußadresse an die in der Altstadt verschanzten Siedler in Hebron „das Recht der Juden, in Sicherheit und vor Übergriffen geschützt in der Stadt der Patriarchen zu leben“. Während Baraks Amtszeit wurden in den Siedlungen deutlich mehr Wohneinheiten gebaut als zuvor unter der Regierung der Rechten.
Noch schwerer wiegt, dass Barak sich auf Verhandlungen mit Syrien konzentrierte und in der Palästinafrage monatelang nichts unternahm. Als Rechtfertigung erklärte er später: „Ein Friedensvertrag mit Syrien hätte die Möglichkeiten der Palästinenser, den Konflikt auszuweiten, erheblich eingeschränkt. Dagegen hätte sich an der Bedrohung der Existenz Israels durch Syrien auch bei einer Lösung des Palästinaproblems nichts geändert.“3 Auf den Rat von Oded Eran, dem Barak die Leitung der Verhandlungen mit den Palästinensern übertragen hatte, wollte Barak nicht hören. „Ich erklärte ihm, das Palästinaproblem sei die zentrale Frage im israelisch-arabischen Konflikt. […] Solange hier keine Lösung gefunden sei, werde man den Konflikt nicht beenden und auch keinen Friedensvertrag mit Syrien schließen können.“
Die persönliche Verantwortung Baraks
ES war nicht das erste Mal, dass der Ministerpräsident auf keinen Rat hören wollte und dann mit seiner Einschätzung falsch lag. In Enderlins Buch finden sich interessante Belege dafür, in welchem Maße Barak die katastrophale Entwicklung persönlich zu verantworten hat. Selbst der US-Nahost-Sonderbeauftragte Dennis Ross, dem man gewiss keine Sympathien für die arabische Seite nachsagen kann, hat später erklärt: „Die Syrer zeigten sich in allen Fragen kompromissbereit, aber Barak hat sich überhaupt nicht bewegt.“
Fast ein Jahr nach seinem Amtsantritt nimmt Barak im Frühjahr 2000 die Gespräche mit den Palästinensern endlich auf. Doch inzwischen war seine Parlamentsmehrheit dahingeschmolzen, und die Palästinenser und deren Vertreter begegneten ihm mit erheblichem Misstrauen. Also versuchte Barak, das Glück zu zwingen und ein Gipfeltreffen durchzusetzen, das alle noch offenen Fragen auf einmal regeln sollte. War das ernst gemeint oder nur ein Bluff? Wollte Barak die Autonomiegehörde in die Falle locken und ihr die Schuld an einem Scheitern zuschieben? Die palästinensische Führung reagierte jedenfalls äußerst zurückhaltend. Sie erklärte, ein Treffen zwischen Arafat und Barak müsse sorgfältig vorbereitet sein – ein übereilt einberufener Gipfel könne leicht zum katastrophalen Misserfolg werden.
Zudem konnte Barak US-Präsident Bill Clinton, dessen Amtszeit zu Ende ging, die Idee einreden, er könne sich mit einem außenpolitischen Paukenschlag verabschieden. Obwohl sich Clinton in Camp David um Neutralität bemühte, fühlte er sich dem israelischen Ministerpräsidenten immer näher als Arafat und neigte fast spontan dazu, die israelischen Positionen zu verstehen, zu übernehmen und nachgerade zu propagieren.
Auf dem Treffen in Camp David, das Enderlein sehr ausführlich und detailliert behandelt, weigerte sich Barak, mit Arafat persönlich zusammenzutreffen – ein unbegreifliches Verhalten, das bei den Palästinensern unweigerlich neues Misstrauen erzeugte. Enderlin bietet interessante Einzelheiten zu den Problemen, die es in diesen zwei Wochen in Klausur zu lösen galt, und versichert am Ende: „Arafat wurde zu keinem Zeitpunkt ein Palästinenserstaat auf über 91 Prozent des Westjordanlands in Aussicht gestellt und nie wurde von irgendjemandem die volle Souveränität über die arabischen Stadtviertel Jerusalems und den Haram Al-Scharif auf dem Tempelberg anerkannt.“ Des Weiteren stellt Enderlein klar: „Im Gegensatz zu den Behauptungen mancher jüdischer Organisationen haben die palästinensischen Unterhändler auch niemals die Rückkehr von drei Millionen Flüchtlingen nach Israel gefordert. Zur Debatte standen Kontingente von einigen hundert bis einigen tausend, und auch die Rückkehr dieser Palästinenser sollte an die Zustimmung Israels im Einzelfall gebunden sein.“
Zu diesem Punkt hatte Arafat bereits am 15. Juni 2000 in Washington erklärt: „Es besteht zwar die Resolution 194 (der UN-Vollversammlung vom 11. Dezember 1948: sie betont das Recht von Flüchtlingen, an ihren früheren Wohnort zurückzukehren), aber wir müssen versuchen, einen Ausgleich zu finden zwischen unseren Anliegen und den demografisch begründeten Befürchtungen der Israelis.“ Eine andere Quelle besagt, dass das Flüchtlingsthema in Camp David „kaum diskutiert“ wurde.4 Auf der Pressekonferenz nach dem Gipfeltreffen nannte Ehud Barak als Grund des Scheiterns zunächst die Meinungsverschiedenheiten über Jerusalem; erst später gab es jene Version, in der das Rückkehrproblem im Vordergrund stand.
Dass Camp David ohne ein Abkommen zu Ende ging, war eigentlich kein Weltuntergang. Man hatte kleine Fortschritte gemacht und ein paar heikle Themen angepackt: Die Israelis zogen erstmals eine Teilung Jerusalems unter bestimmten Voraussetzungen in Betracht, die Palästinenser gaben zu erkennen, dass sie sich eine Annexion bestimmter Gebiete mit starker Präsenz von Siedlern im Westjordanland und Ostjerusalem vorstellen könnten. Statt auf diesen kleinen Erfolgen aufzubauen, beschloss der israelische Ministerpräsident jedoch, die gesamte Verantwortung für das Scheitern auf Jassir Arafat abzuwälzen und dabei auch noch eine alte Parole der Rechten wiederzubeleben: „Es gibt auf palästinensischer Seite keine Verhandlungspartner.“ Diese Behauptung wurde, von Journalisten und Medien verbreitet, alsbald zum ehernen Prinzip. Und Barak verlegte sich denn auch ganz auf die Aufgabe, der Welt das „wahre Gesicht“ Arafats zu zeigen. Er verhandelte nicht mehr, um etwas zu erreichen, sondern um zu beweisen, dass man nichts erreichen könne.
Dennoch fanden natürlich weitere Verhandlungen statt, die wichtigsten im Januar 2001 im ägyptischen Taba. Dort gelang in fast allen strittigen Bereichen eine Annäherung: in der Frage des Territoriums wie auch bezüglich einer geteilten Souveränität in Ostjerusalem: Die arabischen Viertel sollten zum Staat Palästina gehören, Israel sollte die jüdischen Viertel annektieren. Die israelische Delegation konnte sogar mit ganz neuen Vorschlägen zum Flüchtlingsproblem aufwarten.5 Ob diese allerdings die Positionen Baraks darstellten, bleibt offen – er hat es jedenfalls nie bestätigt.
Nach Aussagen von Menachem Klein, einem Berater des früheren israelischen Außenministers Schlomo Ben Ami, hat Barak ihm damals erklärt, die Delegation sei nur nach Taba geschickt worden, „um Arafats wahres Gesicht zu enthüllen, nicht um ein Abkommen zu erzielen“.6 Tatsächlich hat es der Regierungschef geschafft, die öffentliche Meinung seines Landes davon zu überzeugen, dass die Parole nun nur noch lauten könne „Wir oder sie“. Der israelischen Friedensbewegung versetzte er damit einen tödlichen Schlag.
Natürlich kann man die palästinensischen Führer nicht von jeder Schuld freisprechen, und Charles Enderlin hütet sich, diesen Eindruck zu erwecken. Arafat ist häufig nicht in der Lage, Entscheidungen zu treffen und daraus harte Konsequenzen zu ziehen. Er unterschätzte die Gefahren, die nach einem Sieg der Rechten bei den Parlamentswahlen im Februar 2001 drohten, und setzte falsche Hoffnungen in die neue US-Regierung. Auch die tief greifenden Veränderungen in der öffentlichen Meinung Israels wusste er nicht zu deuten; zudem war er unfähig, ein eigenes klares Programm zu formulieren – vor allem nach dem Ausbruch der zweiten Intifada.
Doch die Vorstellung, dieser Aufstand sei von der palästinensischen Führung geplant worden, weist Enderlin entschieden zurück. Zum gleichen Schluss kommt übrigens auch sein Kollege Georges Malbrunot. In seinem Bericht7 zitiert er, der palästinensische Chefunterhändler Saed Erekat habe am 31. Juli 2000, etwa einen Monat vor Ausbruch der Intifada, in Jericho der versammelten Führung der israelischen Streitkräfte vor der aufständischen Stimmung gewarnt. Doch da war es bereits zu spät: Die Autonomiebehörde war konfrontiert mit einem Aufstand des palästinensischen Volkes zur sofortigen Beendigung der Besetzung. Malbrunot erinnert an das Ausmaß der Unterdrückung, mit der die israelische Armee in den ersten Wochen vorging: „Vom 28. September bis zum 2. Dezember töteten israelische Soldaten 204 Palästinenser, darunter 24 Mitglieder der Sicherheitskräfte und 73 Jugendliche unter 17 Jahren.“
Der Oslo-Friedensprozess ist am Ende. Über die Gründe und die persönliche Verantwortlichkeit mancher Beteiligter wird man noch lange streiten, aber eines ist klar: Der Frieden wurde vor allem deshalb verfehlt, weil die Besatzungsmacht Israel – die Regierungen, wie ein großer Teil der Öffentlichkeit – nicht fähig war, den Anderen, den Palästinenser, als Gleichen anzuerkennen. Immer wieder wurden die Rechte der Palästinenser – auf Würde, auf Freiheit, auf Sicherheit, auf Unabhängigkeit – den Rechten der Israelis untergeordnet. Fortschritte kann es nur dann geben, wenn endlich mit dieser kolonialen Mentalität gebrochen wird, die auch Ehud Barak vertreten hat.
Dieser hat erst vor kurzem seine Zustimmung zur Strategie des Terrors bekundet, die sein Nachfolger Scharon einschlägt. Über die Operation „Schutzwall“ vom April 2002 hat er gesagt, er habe sie sich „noch schneller, noch energischer gewünscht und gegen alle großen Städte gleichzeitig“. Und auch in der Einschätzung der Araber hat er sein „wahres Gesicht“ gezeigt, als er meinte: „Sie sind geprägt von einer Kultur, in der sich niemand aufregt, wenn man eine Lüge erzählt. Anders als wir, in der jüdisch-christlichen Kultur, leiden sie nicht unter dem Problem. Wahrheit ist für sie ein irrelevante Sache.“ Derartige Pauschalurteile erinnern an den fanatischen Rassismus französischer Kolonialbeamter in Algerien.
dt. Edgar Peinelt