Die Generation der zornigen Enkel
Von GHANIA MOUFFOK *
TRAGÖDIE und Komödie lagen dicht beieinander, als sich – einen Monat vor den Feiern zum 40. Jubiläum der Unabhängigkeit Algeriens am 5. Juli 2002 – die neue Nationalversammlung konstituierte. Eine Frau weint beim Abspielen der Nationalhymne stolz erhobenen Hauptes, während der Alterspräsident, der die erste Sitzung in einem volkstümlichen Arabisch eröffnet, seine Kollegen zum Lachen bringt, als er sich in seinen Notizen verheddert, die in der Hochsprache verfasst sind. Tahar Toumi, Jahrgang 1931, appelliert an die 399 Abgeordneten, „Wunder zu vollbringen“: „Algerien ist dazu imstande. Arbeiten wir gemeinsam daran, das Dunkel zu überwinden. Üben wir uns in Vergebung, werden wir reinen Herzens …“
Reinigung findet zu diesem Zeitpunkt eines Neubeginns auch draußen statt: Junge Männer weißeln die Kolonialbauten, die unter dem beleidigend grellen Sonnenlicht ganz klein und schmal aussehen. Nur behelfsmäßig angeseilt turnen diese Alpinisten der Marktwirtschaft, die praktisch ohne Sozialversicherung auskommen müssen, an den Wänden herum. Der älteste Abgeordnete des Landes, ein Unabhängiger, ist Gewerkschafter: eine symbolische Situation.
Die Arbeitslosigkeit hat beunruhigende Ausmaße angenommen, bestätigt der letzte Konjunkturbericht des Nationalen Wirtschafts- und Sozialrats. In den acht Jahren zwischen 1987 und 1995 haben die Haushalte 36 Prozent ihres Einkommens eingebüßt, und der Anteil der Bevölkerung, der in absoluter Armut lebt, ist von 12,2 auf 22,6 Prozent gestiegen.
„In 25 Jahren sind 50 Prozent der Bevölkerung zu Städtern geworden, während sich in Frankreich eine vergleichbare Urbanisierung im Laufe eines ganzen Jahrhunderts vollzogen hat. Und seit der Unabhängigkeit hat sich die Bevölkerung verdreifacht“, bemerkt Chérifa Hadjij, Soziologin an der Universität von Algier. Zur Zeit beträgt die Einwohnerzahl Algeriens 30 Millionen, und entgegen allen Prognosen ist die Geburtenrate dramatisch zurückgegangen: Zwar betrug sie „zwischen 1962 und 1985, also mehr als zwei Jahrzehnte lang, jährlich über 3 Prozent, doch seit 1987 fand eine bedeutende Abschwächung statt, und im Jahr 2000 lag die Geburtenrate nur noch bei 1,43 Prozent“.1 Nahmen 1970 nur 8 Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter die Pille, sind es gegenwärtig 64 Prozent.
In Fachkreisen fragt man sich, ob diese demografischen Veränderungen Ausdruck von Modernität sind, wie die internationalen Institutionen annehmen, die einen Geburtenrückgang der Bevölkerungen des Südens befürworten, oder ob sie nicht vielmehr für eine durch Verarmung bedingte rückläufige Entwicklung sprechen. „Auch ohne Pessimismus“, schreibt die Soziologin Ouardia Labsari, „darf man vermuten, dass die bereits vorhandene rückläufige Tendenz des demografischen Wachstums in den kommenden Jahren weiter anhalten und eines Tages sogar ‚irreversibel‘ werden wird; das heißt, es wird ein so niedriges Niveau erreichen, dass irgendwann nicht einmal mehr die Grundreproduktion der Bevölkerung gewährleistet sein wird.“ Und weiter: „Wenn sich die Lebensbedingungen der Bevölkerung weiter in gleich bleibendem Tempo verschlechtern, dann müssen wir uns nicht nur auf eine demografische Implosion gefasst machen, sondern wir müssen paradoxerweise auch damit rechnen, dass die Armen durch eine Politik eliminiert werden, die sich die Beseitigung der Armut aufs Banner geschrieben hat.“2
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SICHERLICH sind das nur fromme Wünsche, wie man sie auf jenen zahlreichen Kolloquien zu hören bekommt, die vom Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und dem UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) finanziert werden. Sie finden in Algier unter der Schirmherrschaft jener Behörden statt, die die Politik der Strukturanpassung – die eigentliche Ursache der Verarmung – nicht etwa in Frage stellen, sondern stattdessen das Bevölkerungswachstum des Südens dafür verantwortlich machen. „Zahlreiche Länder des Südens, die am Rande des Staatsbankrotts stehen, erhielten Kredite nur unter der Auflage, dass sie ihren demografischen Überschuss reduzieren.“3
Reduzierung des demografischen Wachstums, Schließung öffentlicher Unternehmen, die ja die größten Arbeitgeber sind – nach Schätzungen beläuft sich die Zahl der aufgrund dieser „ökonomischen Restrukturierungen“ arbeitslos Gewordenen auf 510 000 –, sind einige der Rezepte, die verschuldeten Ländern wie Algerien verschrieben werden.
Inzwischen erhofft man sich neue Arbeitsplätze von den Privatunternehmen. Die aber sind ihrerseits durch den Beitritt Algeriens zur Welthandelsorganisation (WTO), über den zur Zeit verhandelt wird, und durch den Assoziierungsvertrag mit der EU vom 19. April 2002 gefährdet. Sowohl die größte Gewerkschaft Algeriens (UGTA) als auch der algerische Unternehmerverband sehen darin eine neue Bedrohung. Der erst seit kurzem bestehende Verband, der die Spitzen der Industrie repräsentiert und dem man nicht gerade eine Abneigung gegen den Neoliberalismus nachsagen kann, bezog erstmals eine ähnliche Position wie der Gewerkschaftsbund, indem er kritisierte, dass die Verträge in solcher Eile und ohne entsprechenden Schutz für die Staatsbetriebe unterzeichnet wurden, und Nachverhandlungen forderte.
Viele der für die Zukunft des Landes entscheidenden Debatten werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht geführt, sondern durch die politische Elite im Dunkel gehalten – eine Elite, die entweder zum Regime selbst gehört oder zur Opposition, die ihrerseits nach der Macht giert und keinen Blick für eine Gesellschaft hat, die sich in ihrer großen Mehrheit weder in den Machthabern noch in den Oppositionellen wiederfindet.
Als Form des Protests bleibt nur noch der Aufruhr, zumindest für einen Teil der Jugend, die sich mehr vor dem fürchtet, was die Zukunft für sie bereithält, als vor dem Gegenwärtigen; die Generation der Eltern kommt ihnen vor wie die verwöhnten Kinder der Unabhängigkeit. Dieses Paradox macht den Dialog zwischen den Generationen nahezu unmöglich und relativiert die allgemein verbreitete Vorstellung, die vierzig Jahre der Unabhängigkeit Algeriens seien praktisch ein einziger Misserfolg gewesen. Gegen diese Vorstellung spricht beispielsweise die Erhöhung der Lebenserwartung von 53,5 Jahren (1970) auf heute 70 Jahre. Oder der Rückgang des Analphabetismus, der von 74,6 Prozent im Jahre 1966 auf 31,9 Prozent im Jahre 1998 abgenommen hat, auch wenn nach wie vor 40 Prozent der Frauen weder lesen noch schreiben können. Wobei diese globalen Ziffern noch nicht einmal den hohen Anteil der Jugendlichen berücksichtigen, die derzeit zur Schule gehen. „Von 1979 bis 1999 stieg die Quote der Schüler unter den Sechs- bis Fünfzehnjährigen von 77,26 auf 89,98 Prozent; bei den Schülerinnen derselben Altersgruppe war der Zuwachs sogar noch stärker.“4
Vielleicht liegt es aber auch daran, dass dieses Land nach Beendigung der Kolonialherrschaft mit dem Anspruch auf einen echten Fortschritt und auf Verbesserung des Lebensstandards angetreten war, während die heutige Jugend, das Vorbild der Eltern vor Augen, nicht bereit ist, sich mit weniger zufrieden zu geben als dem, was den postkolonialen Generationen an Ausbildungschancen, Arbeitsmöglichkeiten und Gesundheitsversorgung zur Verfügung stand.
1988, zu Beginn der Schuldenkrise und des Preisverfalls beim Erdöl, betrug die Arbeitslosenquote 17 Prozent: In zwölf Jahren ist sie – offiziellen Angaben zufolge – auf 29 Prozent angestiegen. Etwa 80 Prozent der Arbeitslosen sind jünger als 30 und 54 Prozent zwischen 15 und 24 Jahre alt.
Und während halbwüchsige Jungen auf die Straße gehen und in die Nachrichten kommen, wenn sie ihr Leben gegen Tränengasgranaten und echte Kugeln aufs Spiel setzen – offenbar die einzige Antwort der Herrschenden auf ihre Verzweiflung –, treiben ihre Schwestern eine stille Revolution voran … Im laufenden Jahr werden 56 Prozent aller Abiturienten weiblichen Geschlechts sein. Die Mädchen haben die Schule für sich erobert, während die Jungen es aufgegeben haben, den sozialen Aufstieg mit Hilfe von Schulabschlüssen schaffen zu wollen, und stattdessen davon träumen, durch „Bizness“ reich zu werden. „In den verschiedenen Stufen des Fundamentalunterrichts (algerische Entsprechung der frz. Gesamtschule, Anm. d. Red.) ist die Parität fast erreicht. An den Gymnasien besteht sie bereits seit 1994 (49,84 Prozent), wobei der Anteil der Mädchen immer stärker wird: Stellten sie 1979 nur 34,79 Prozent der Schülerschaft, waren es 1999 schon 56,02 Prozent.“5
Dieselben Tendenzen sind auch an der Universität festzustellen, wo zahlreiche Studiengänge – etwa im Bereich des Gesundheits- und Erziehungswesens – mehrheitlich von Frauen belegt werden. „Bei uns“, so Chérifa Hadjij, „gibt es eine echte Bewegung unter den Frauen, die sich zunehmend ihren Platz in der Gesellschaft erobern – auch wenn es zugegebenermaßen zunächst nur ein Transfer von der häuslichen zur öffentlichen Sphäre ist, was da stattfindet –, denn schließlich sind die Frauen im Erziehungs-, im medizinischen oder Dienstleistungssektor sehr zahlreich vertreten. Und obwohl die Ausbildung der Mädchen weniger kostet, da sie nicht so oft Klassen wiederholen, werden sie auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt, denn sie brauchen länger, um eine Arbeit zu finden.“
Dennoch ist „die aktive weibliche Bevölkerung von 109 000 Personen im Jahre 1966 auf 1,4 Millionen im Jahre 1998 angewachsen, was einem viermal schnelleren Wachstumsrhythmus als dem der aktiven Gesamtbevölkerung entspricht“6 . Die Quote der berufstätigen Frauen, die bis zum letzten Jahrzehnt bei etwa 10 Prozent der aktiven Bevölkerung lag, beträgt heute 17 Prozent. Was nicht ohne Spannungen zwischen den Geschlechtern abgeht, da der massenhafte Zustrom von Frauen auf den Arbeitsmarkt von den Männern als Bedrohung empfunden wird: „Das gehört zu den neuen Erfahrungen, die wir in unserer Gesellschaft machen“, so Chérifa Hadjij weiter. „Heute richtet sich nicht mehr die Autorität der Väter gegen die Töchter, sondern die der Brüder gegen die Schwestern.“
So erklärt sich zum Teil wohl auch die Gewalt gegen Frauen, die daraus resultiert, dass diese als „gefährliche Macht“ wahrgenommen werden, da die Jungen weder durch die herrschende Moral noch durch Gesetze auf die Gleichheit der Geschlechter vorbereitet sind. Hinzu kommt die so genannte „Krise der Ehe“, die das Übel noch verstärkt. Das durchschnittliche Heiratsalter hat sich inzwischen beträchtlich erhöht: 29 Jahre bei den Frauen, 31 Jahre bei den Männern. Diese Verlängerung der Ehelosigkeit, ein Produkt der Neunzigerjahre, ist eine der großen Unbekannten. Sie hat viele Gründe – angefangen von der Wohnungskrise bis zu einer anderen Art von Zukunftserwartung –, ohne dass die herrschende Sexualmoral das Recht auf außereheliche Sexualität anerkannt hätte.
Dennoch existiert die Sexualität, und keine Gesellschaft kann solche Zwänge aufrechterhalten. In den Großstädten sind öffentliche Gärten und Vergnügungsparks die Orte, wo sich Sexualität ausdrückt: Körper an Körper, Mund an Mund, auf einer Bankecke, auf einem Rasenfleckchen oder auf der Treppe vergnügen sich die Paare mit Liebesspielen, die weit über einen Flirt hinausgehen. Darüber regen sich die Nachbarn auf, deren Fenster den Blick auf das lockere Treiben freigeben, und rufen die Polizei, entsetzt von den Lektionen in Sexualkunde unter freiem Himmel und vor den Augen ihrer Kinder – vor allem der Töchter.
Dieser soziale Druck versucht – vergeblich – die Lockerung der öffentlichen Moral aufzuhalten. Auf den jungen und weniger jungen Leuten lastet die Drohung, wegen eines „Verstoßes gegen die Schamhaftigkeit“ festgenommen zu werden; ein Delikt, das mit bis zu vier Jahren Gefängnis bestraft werden kann. Die Frage ist immer, ob man weiß, wo persönliche Freiheit aufhört und wo das Delikt anfängt – eine Debatte, die die Presse nach der Verhaftung einiger Paare, die bei der Ausübung wenig platonischer Liebespraktiken in flagranti ertappt worden waren, sehr beschäftigte. Selten werden Paare in der juristischen Praxis aber tatsächlich verurteilt – als ob die Justiz eingesehen hätte, dass das Recht auf Sexualität nicht verboten werden kann. Sie ist kein Tabu mehr.
Es sieht so aus, als würden die ungeheuren Veränderungen von denen, die eigentlich dafür zuständig wären (Intellektuelle und politische Parteien) kaum reflektiert. Doch offensichtlich sind es gerade diese gesellschaftlichen Wandlungen, die Angst erzeugen und sich in rückwärts gewandten, wenn auch populären Formen der Repräsentation niederschlagen: Sei es die islamistische Bewegung, die 1991 in Gestalt der Islamischen Heilsfront (FIS) ihre Wahlsiege errang, sei es die Bewegung der Koordination der Dörfer und Kommunen und der Dairas, die heute in der Kabylei so mächtig ist, dass sie sich inzwischen eine Partei wie die bis dahin herrschende und demokratische Werte vertretende Front der Sozialistischen Kräfte (FFS) gefügig gemacht hat. Die Gemeinsamkeiten dieser Bewegungen bestehen unter anderem darin, dass sie die Frauen aus dem öffentlichen Leben ausschließen wollen und programmatisch nur irgendwelche Identitätsnischen anzubieten haben, seien sie religiöser oder ethnischer Natur: „Kabyle sein“.
Eine solche Politik der Abschottung ist natürlich nicht imstande, die Komplexität der Welt zu erfassen, sondern führt zwangsläufig in die Ausweglosigkeit. Vierzig Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit erlebt Algerien ein echte Repräsentationskrise, die nicht nur Regierung und Gesellschaft betrifft, sondern die Gesamtheit seiner repräsentativen Kultur. Während sich die Frauen ungeachtet aller Drohungen immer mehr auf der politischen Bühne behaupten, sind sie in der neuen Nationalversammlung lächerlich unterrepräsentiert. Doch einmal mehr haben wir es auch hier mit einem Paradox zu tun: Louisa Hanoune, eine der bemerkenswertesten Politikerinnen des Landes, sorgte für eine nie dagewesene Sensation, als sie an der Spitze der einzigen Partei, die sich noch zum Sozialismus als Alternative bekennt – der trotzkistisch orientierten Partei der Arbeiter – zwanzig Sitze eroberte.
Algerien schwankt zwischen Reaktion und Fortschritt. Und wenn die meisten Wähler für den FNL von Ali Benflis votierten, so fraglos deshalb, weil diese Partei noch einen gewissen Universalismus repräsentiert – die Idee der Nation als integrierendes Element für alle – und heute weniger Angst einflößend wirkt als jene, die ihren Platz einnehmen wollen. Es ist, als sei mit der politischen Reife auch die Ernüchterung gekommen.
dt. Matthias Wolf
* Journalistin, Algier.