12.07.2002

Eine geschwächte Institution

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Eine geschwächte Institution

DIE Weltgesundheitsorganisation (WHO), 1946 von den Vereinten Nationen gegründet, definiert in ihrer Gründungsakte Gesundheit als „einen Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“, und nicht nur als die „Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechlichkeit“.

Die Weltgesundheitsversammlung vereinigt Vertreter aus allen 191 gegenwärtigen Mitgliedsländern. Dieses normsetzende Organ der Weltgesundheitsorganisation wählt für drei Jahre einen Exekutivrat aus Vertretern von 32 Ländern, die auch wieder gewählt werden können. Auf Vorschlag des Exekutivrates bestimmt die Weltgesundheitsversammlung den Generaldirektor für eine einmalig verlängerbare Amtszeit von fünf Jahren. Neben dem Sitz in Genf hat die Verwaltung der Weltgesundheitsorganisation sechs Regionalbüros1 , deren Direktoren ebenfalls für eine einmalig verlängerbare Amtszeit von fünf Jahren – nach einer jüngsten Änderung – von den Vertretern der Staaten aus der jeweiligen Region gewählt werden und über ein großes Maß an Autonomie gegenüber dem Hauptsitz verfügen. Jedes Jahr veröffentlicht die Weltgesundheitsorganisation den Jahresgesundheitsbericht (World Health Report).

Im Jahr 1977 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation unter ihrem damaligen Leiter, dem Dänen Halfdan Mahler, erstmals eine Aufsehen erregende Liste mit 200 „lebenswichtigen Medikamenten“. Bei diesen als besonders wirksam eingestuften Medikamenten handelt es sich zumeist um Generika, also preiswertere Imitate von Medikamenten, deren Patentschutz abgelaufen ist.

Im Jahr 1978 ließ Halfdan Mahler bei einer gemeinsamen Konferenz von Weltgesundheitsorganisation und dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) im damals sowjetischen Alma-Ata (heute: Almaty) das Prinzip des Rechts auf gleichen Zugang für alle zu primärmedizinischen Leistungen verankern. Die Verantwortung für diese Behandlungen übernahmen in einer ersten Phase „Vertreter der Volksgesundheit“, die umgehend vor Ort ausgebildet wurden. So konnte im Jahr 1980 offiziell die Ausrottung der Pocken erklärt werden – ein beispielloser Triumph für die Weltgesundheitsorganisation, der sich seither nicht wiederholt hat. Im selben Jahr versprach die Weltgesundheitsversammlung „Gesundheit für alle im Jahr 2000“.

Die ehemalige norwegische Premierministerin Gro Harlem Brundtland, die am 13. Mai 1998 Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation wurde, hatte sich 1987 mit der Veröffentlichung eines Umweltberichts unter Schirmherrschaft der Vereinten Nationen einen Namen gemacht, in dem sie das Konzept der „nachhaltigen Entwicklung“ erstmals vorstellte. Die finanziell potentesten Mitgliedstaaten der WHO unterstützten Gro Harlem Brundtland nicht zuletzt in der Hoffnung, dass sie in der durch mehrere Korruptionsaffären und die mangelhafte Führung ihres japanischen Vorgängers Hiroshi Nakajima geschwächten Weltgesundheitsorganisation Ordnung schaffen würde. Die fünf Grundsätze von Gro Harlem Brundtlands Verwaltungsreform lauteten: Umbau der Direktionsebene2 , Konzentration der Tätigkeitsfelder, Dezentralisierung der Verwaltung, Verringerung der Zahl langfristiger Arbeitsverträge zu Gunsten von Zeitverträgen3 , und, einmal mehr, der Versuch einer internen Vereinheitlichung der Weltgesundheitsorganisation durch Verpflichtung der Regionalbüros auf die von Genf vorgegebene Politik. Ein großer Teil der oberen Hierarchieebenen wurde umstrukturiert. Auf der letzten Weltgesundheitsversammlung, am 18. Mai 2002, wurde auf Antrag von Pakistan beschlossen, dass im Sekretariat und in den Expertenkomitees künftig die Länder der südlichen Hemisphäre in angemessenem Verhältnis vertreten zu sein haben. Weiter muss endlich eine Transparenz hinsichtlich der Personalauswahl hergestellt werden.

Das Budget der Weltgesundheitsorganisation beläuft sich auf rund eine Milliarde Dollar pro Jahr. Nur 41 Prozent stammen aus Pflichtbeiträgen der Mitgliedstaaten. Diese Beiträge sind in den letzten zehn Jahren um 20 Prozent gesunken. Der Rest der Summe setzt sich aus freiwilligen Beiträgen zusammen, und zwar zu 61 Prozent von Staaten, zu 17 Prozent von Stiftungen und zu 16 Prozent von privaten Unternehmen. Diese freiwilligen Beiträge finanzieren bilaterale Tätigkeiten, die sich der Kontrolle des Exekutivrates entziehen. Sie bewirken, dass die Weltgesundheitsorganisation mehr und mehr von den größten Geldgebern abhängig wird.

Unter Gro Harlem Brundtlands Leitung wurden elf gesundheitspolitische Schwerpunkte definiert, die die ungefähr fünfzig bis dahin existierenden Programme ersetzen sollen. Priorität haben die sogenannten „Kabinettsprojekte“ mit ihren eingängigen Bezeichnungen: „Die Malaria zurückdrängen“, „Initiative für eine Welt ohne Tabak“4 , “Partnerschaft für die Entwicklung des Gesundheitssektors“, unmittelbar gefolgt von „Stopp der Tuberkulose“ und dem Programm zur Bekämpfung von Aids. Diese Umgestaltung wurde von der Mehrheit der reichen Länder, insbesondere von den Vereinigten Staaten, positiv aufgenommen.

Der raue Führungsstil, der mit dem Umbau einherging, hat beim Personal deutlich weniger Begeisterung hervorgerufen.5 Die Reformen wurden brüsk und ohne wirkliche Abstimmung umgesetzt. Die Personalvertretungen wehren sich gegen die Erhöhung des Anteils von Kurzzeitverträgen ohne Absicherung. Eine im vergangenen Jahr6 durchgeführte Umfrage ergab, dass 70 Prozent der Mitarbeiter mittelmäßig, schwach oder sehr schwach motiviert sind.

J.-L. M.

1 Es gibt Regionalbüros für den östlichen Mittelmeerraum, Afrika, Europa, Nord- und Südamerika und den westlichen Pazifik sowie für das südöstliche Asien. Die Pan-American Health Organization hat einen eigenen Status und agiert ebenfalls als Regionalbüro für Nord- und Südamerika. 2 Im neuen Organisationsaufbau gibt es 35 Abteilungen, die zwischen 9 so genannten Clusters aufgeteilt sind und die bisherigen 9 Unterdirektionen ersetzen. 3 Am 31. Dezember 2000 bestanden 3 486 langfristige und 8 547 kurzfristige Arbeitsverträge. 4 Diese Initiative ist auf wütenden Protest der Tabakindustrie gestoßen. Sie soll im Jahr 2003 zur Unterzeichnung einer internationalen Konvention gegen den Tabakkonsum führen. 5 In der großen Familie der Vereinten Nationen haben die Mitarbeiter kein Recht auf gewerkschaftlichen Zusammenschluss. Sie können Personalvertretungen gründen, deren Kompetenzen sehr eingeschränkt sind. Im internen Regelwerk der WHO wird das Streikrecht nicht erwähnt. Die Direktion der WHO bestätigt aber, dass es existiert. 6 Am 8. Mai 2001.

Le Monde diplomatique vom 12.07.2002, von J.-L. M.