Die WHO im Dienst der Pharmamultis
NIMMT die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ihre Aufgaben noch wahr? Ist die Parole des Aufbruchs, „Gesundheit für alle“, überhaupt noch ein Ziel? Die Gier der großen Pharmakonzerne, eines der ersten Hindernisse auf dem Weg dahin, ist in der WHO jedenfalls auf keinen Widerstand gestoßen. Deren Generaldirektorin Gro Harlem Brundtland hat fünf Monate vor dem Prozess um die Einfuhr von Generika im südafrikanischen Pretoria der pharmazeutischen Industrie ganz im Gegenteil die Türen weit geöffnet – und die Privatisierung eines weltweiten Gesundheitssystems beschleunigt, das am Rande das Bankrotts steht.
Von JEAN-LOUP MOTCHANE *
„Wir müssen die Patentrechte schützen, […] um sicherzustellen, dass Forschung und Entwicklung uns mit neuen Werkzeugen und Technologien versorgen. […] Wir brauchen Mechanismen, um den Rückexport billiger Medikamente in die reicheren Wirtschaftsräume zu verhindern.“ Dieses leidenschaftliche Bekenntnis zu den pharmazeutischen Patenten stammt nicht vom Chef eines internationalen Pharmakonzerns, sondern von Gro Harlem Brundtland, der Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie hat es beim Weltwirtschaftsforum in Davos am 29. Januar 2001 zu Protokoll gegeben.
Bei diesem Treffen geizte die ehemalige norwegische Premierministerin auch sonst nicht mit Lob für die pharmazeutische Industrie. Diese habe „bewundernswerte Anstrengungen unternommen, um mit Spenden von Medikamenten und Preisreduktionen ihren Verpflichtungen nachzukommen“. Anstrengungen, die vor allem deshalb so lobenswert seien, weil sie „trotz der Sorge der pharmazeutischen Industrie zustande kamen, dass die Festsetzung niedrigerer Medikamentenpreise für Entwicklungsländer als Druckmittel in Verhandlungen mit anderen Ländern eingesetzt werden könnte, die in der Lage sind, reguläre Medikamentenpreise zu bezahlen“. Mit Erklärungen dieser Art stellte die WHO-Generaldirektorin Gro Harlem Brundtland den Konzernen eine Art moralisches Patent aus – gerade fünf Wochen vor dem Beginn eines Prozesses, den ungefähr vierzig dieser Konzerne in Pretoria gegen die südafrikanische Regierung angestrengt haben, weil diese sich des versuchten Imports von Generika aus anderen Entwicklungsländern schuldig gemacht hatte.
Zu Beginn ihrer Amtszeit, am 13. Mai 1998, legte Gro Harlem Brundtland die Grundzüge ihrer Politik vor der 51. Weltgesundheitsversammlung dar (an der alle Mitgliedstaaten der Weltgesundheitsorganisation teilnehmen): „Wir müssen uns den anderen öffnen.“ Welchen „anderen“? Es sind im Wesentlichen die Privatwirtschaft, der man eine Partnerschaft anbot, und die wichtigsten internationalen Institutionen: die Weltbank, der internationale Währungsfonds (IWF) und die Welthandelsorganisation (WTO).
David Nabarro, der Kabinettdirektor von Gro Harlem Brundtland, rechtfertigt diese Ausrichtung mit Budgetproblemen: „Wir können ohne private Finanzierung nicht auskommen. Seit zehn Jahren geben uns die Regierungen der Mitgliedstaaten nicht mehr viel Geld. Das große Geld ist in der Privatwirtschaft und auf den Finanzmärkten. Und da die amerikanische Wirtschaft die reichste der Welt ist, müssen wir aus der Weltgesundheitsorganisation ein System machen, das die Vereinigten Staaten und die Finanzmärkte anspricht.“
In Tat und Wahrheit handelt es sich bei diesem Plädoyer für die Unterordnung der Weltgesundheitsorganisation unter die Wünsche Washingtons und der Institutionen der wirtschaftsliberalen Globalisierung wie auch bei dem Appell an die Mildtätigkeit der Großkonzerne um eine rein ideologische Behauptung. Eine Notwendigkeit ist es nicht. Denn der Beitrag der Privatwirtschaft macht nur einen kleinen Teil der Ressourcen der Weltgesundheitsorganisation aus (vgl. Kasten). Ein Diplomat, der auf die Institutionen der Vereinten Nationen spezialisiert ist, bestätigt: „Die Haltung von Frau Brundtland gegenüber der pharmazeutischen Industrie erklärt sich aus ihrer Begeisterung für das Wertesystem der derzeitigen Globalisierung. Sie hat enge Beziehungen zur Welthandelsorganisation aufgebaut, und sie macht sich die Positionen der Weltbank, des größten Geldgebers der Weltgesundheitsorganisation, zu Eigen. Täte sie das nicht, müsste sich die Generaldirektorin mit den Amerikanern anlegen. Und deren Einfluss ist gewichtig.“
Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten
BEI der Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation am 13. November 2001 in Doha haben Entwicklungsländer mit eigener pharmazeutischer Industrie endlich das Recht erhalten, billigere Imitate von patentrechtlich geschützten Medikamenten herzustellen – wenn auch nur im Fall eines gesundheitlichen Notstands und ohne die Möglichkeit, solche Medikamente in andere arme Länder zu exportieren, die keine eigenen Produktionsmöglichkeiten haben. Trotz der mutigen Haltung von WHO-Vertretern wie German Velasquez1 ist aber auch dieser Teilerfolg kein Verdienst der Führungsriege der Organisation. Er kam dank dem Druck der Öffentlichkeit zustande, die von Nichtregierungsorganisationen aufgerüttelt worden ist, und vor allem dank einem spektakulären Kurswechsel der Amerikaner.
Nach den Attentaten vom 11. September hatten die Vereinigten Staaten nämlich den Bayer-Konzern, Hersteller des Antibiotikums Cipro zur Behandlung von Milzbrand, erpresst. Sie drohten, selbst exakte Imitate dieses Medikaments herzustellen, sollte Bayer ihnen nicht einen sehr großzügigen Rabatt zugestehen. Nach dieser erfolgreichen Erpressung war es für die Vereinigten Staaten schwierig, sich anderen Staaten zu widersetzen, die ihrerseits das Recht auf Gesundheit über das Patentrecht stellten.
Ein Fortschritt also, zu dem die Hierarchie der Weltgesundheitsorganisation wenig beigetragen hat. Er wurde bei der 55. Weltgesundheitsversammlung am 17. Mai auf dem Konsensweg (also mit Zustimmung der Vereinigten Staaten) in einer Resolution bestätigt, die „den Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten sicherstellen“ soll. Darin wird die Generaldirektorin aufgefordert, „geeignete Maßnahmen zu empfehlen, damit in der ganzen Welt ein System differenzierter Preise für lebenswichtige Medikamente entstehen kann“. Da sie nun aus Washington nichts mehr zu befürchten hatte und von vielen Delegationen dazu angetrieben wurde, konnte die Generaldirektorin Gro Harlem Brundtland endlich eine aktive Rolle einnehmen – in einem Bereich, in dem sie zuvor eher durch Kleinmut aufgefallen war.
Das ungenügende Engagement der Weltgesundheitsorganisation bei der Bekämpfung von Aids war allerdings schon vor Gro Harlem Brundtland ein Problem. Deshalb gründeten die Vereinten Nationen 1996 die Organisation UN-Aids. Die Haltung ihres Direktors Peter Piot unterscheidet sich merklich von jener des Apparats der Weltgesundheitsorganisation. So erklärte Piot am 29. November 2000, also vor der Eröffnung des Prozesses in Pretoria, „voll und ganz das Recht der Regierungen zu unterstützen, Pflichtlizenzen2 zu erwirken, Parallelimporte durchzuführen und Generika als Marktkonkurrenten zuzulassen“. Piot fand außerdem den Mut zu sagen, dass „die Regeln des wirtschaftlichen Liberalismus mit der Globalisierung der Seuche Aids nicht mehr vereinbar sind. Wir brauchen von jetzt an einen neuen Pakt zwischen Industrie und Gesellschaft.“3
Und dennoch bestimmen genau diese Regeln des wirtschaftlichen Liberalismus heute die Politik der Weltgesundheitsorganisation. Noch im Jahr 1980 hatte ihr damaliger Generaldirektor Halfdan Mahler der Entwicklungshilfe das Ziel vorgegeben, „Gesundheit für alle“ zu garantieren. Diese Parole des Aufbruchs ist heute nur noch Geschichte. Wenn man sich an Gro Harlem Brundtlands öffentliche Stellungnahmen hält, ist Gesundheit kein Recht, sondern schlicht ein Mittel zur Erhöhung der wirtschaftlichen Produktivität. Vor einer Versammlung von Unternehmern, Bankiers und Staatsoberhäuptern betonte sie kürzlich, dass „die Verbesserung der Gesundheitslage erhebliche Kräfte zur wirtschaftlichen Entwicklung und zum Abbau der Armut freisetzen wird“.4 Und um ihre Zuhörer von der Notwendigkeit von Investitionen in diesem Bereich zu überzeugen, hob Gro Harlem Brundtland die negativen Auswirkungen von Krankheiten auf das Wirtschaftswachstum hervor. So habe die Seuche Aids in den am stärksten betroffenen Regionen zu einem Schrumpfen des Bruttoinlandprodukts (BIP) um jährlich 1 Prozent geführt. In Afrika habe die Malariaepidemie in dreißig Jahren eine Verminderung der Wertschöpfung um rund 100 Milliarden Dollar bewirkt. Solche und ähnliche Ausführungen kommentiert ein Bankier folgendermaßen: „Es ist nützlich und sogar unverzichtbar, die Kosten der Krankheit und die durch sie entgangene Wertschöpfung zu beziffern. Ohne Zweifel ist Gesundheit ein Faktor der Entwicklung. Aber zu glauben, man könne in einem globalisierten Arbeitsmarkt die Unternehmer überreden, in die Gesundheit zu investieren, ist ein wenig naiv.“
Kofi Annan, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, der wie Gro Harlem Brundtland seine Wiederwahl vorbereitet, griff am 17. Mai vergangenen Jahres direkt in Brundtlands Kompetenzbereich ein und regte die Schaffung eines Weltgesundheitsfonds an. 7 bis 10 Milliarden Dollar jährlich sollten in den Kampf gegen Aids, Tuberkulose und Malaria fließen. Es fiel Annan umso leichter, in diesem Bereich die Initiative zu übernehmen, als die Weltgesundheitsorganisation keine brauchbaren Ergebnisse vorweisen konnte. Die reichen Industrieländer versprachen beim G-8-Gipfel von Genua im Juli 2001, dem Weltfonds 1,3 Milliarden Dollar zuzuführen. Doch bis heute verfügt er über nicht mehr als 200 Millionen Dollar – eine lächerliche Summe im Vergleich zu den 1,9 Milliarden Dollar, die die Geldgeber zugesagt haben, oder zu den 1,6 Milliarden Dollar, die in vergleichbaren Programmen mit anderen Geldquellen bereits verplant sind.5
Die Schaffung des Weltgesundheitsfonds erschien anfangs als großer Fortschritt, aber inzwischen wird deutlich, dass sein Status einer unabhängigen privatrechtlichen Stiftung6 den Vereinten Nationen einen bedeutenden Teil der weltweiten Gesundheitspolitik entzieht. Die Weltgesundheitsorganisation hat im Weltfonds nur einen Beobachterstatus, und das zeigt neben der Schaffung von UN-Aids, wie sehr sie aus einem Gebiet verdrängt wird, das ihre eigentliche Existenzberechtigung ausmacht.
Die WHO ist eine undurchsichtige Bürokratie. Bei der Ausarbeitung der Programme verteidigen die Industrielobbys ihre Interessen ebenso wirkungsvoll wie diskret. Ein hoher Beamter der Organisation bestätigt ohne Zögern: „Die WHO steht im Zentrum der Interessengegensätze. Die offiziellen Maßnahmen des Hauses sind äußerst ungenügend, wenn es darum geht, die mehr oder weniger verschleierte Infiltration durch Privatinteressen zu verhindern.“7 An verschiedenen Stellen regt sich Widerstand gegen die in dieser Hinsicht gefällige Politik von Gro Harlem Brundtland. So lobte Ralph Nader, US-Verbraucheranwalt und ehemaliger Präsidentschaftskandidat der amerikanischen Grünen, in einem offenen Brief an Brundtland zwar ihre Leistungen im Kampf gegen Malaria, Tuberkulose, Tabakkonsum und Tabakindustrie, stellte zugleich aber fest: „Viele Leute finden die Tatsache beunruhigend, dass die Weltgesundheitsorganisation einer Handvoll großer Pharmafirmen einen unangemessen großen Einfluss auf ihre Programme zugesteht. […] Anders als früher unterstützt die Weltgesundheitsorganisation heute kaum noch den Einsatz von Generika in armen Ländern.“8
Eine Beamtin aus der WHO-Arbeitsgruppe „Essential Drugs and Medicines Policy“, Daphne Fresle, machte außerdem vor kurzem in ihrem Kündigungsschreiben der Direktion schwere Vorwürfe. Daphne Fresle beklagte den „fehlenden Enthusiasmus der gegenwärtigen Verwaltung bei der Verteidigung der lebenswichtigen Interessen von Entwicklungsländern, obwohl darin eigentlich das größte Anliegen der Organisation bestehen sollte“. Nach Fresle hat die Weltgesundheitsorganisation ihr ursprüngliches Ziel der Gesundheit für alle aufgegeben – zum Vorteil der reichsten Länder und der pharmazeutischen Industrie. Die letzten Jahresberichte hätten mangels wissenschaftlicher Strenge an Glaubwürdigkeit verloren.9 Zudem sei der Umbau der Verwaltung gescheitert.10 Die Politik der letzten drei Jahre11 hat nach Daphne Fresles Worten dazu geführt, dass die Weltgesundheitsorganisation einerseits auf ethischer Ebene in die Schusslinie geraten ist und andererseits mit der Schaffung des Weltgesundheitsfonds ihre Führungsrolle in Sachen Gesundheit eingebüßt hat.
In den Gängen des riesigen Hauptsitzes der WHO in Genf teilen viele Beamte diese Ansicht, wenn man sie diskret um Auskunft bittet. Einer von ihnen bedauert den Stiftungscharakter des Weltgesundheitsfonds und bemerkt: „Trotz aller Mängel erlaubte es die WHO jedem der 191 Mitgliedstaaten wenigstens theoretisch, sich bei der Weltgesundheitsversammlung Gehör zu verschaffen. Heute ist das Vorgehen gegen die drei wichtigsten Krankheiten von den mehr oder weniger geheimen Beratungen des Verwaltungsrates einer privaten Stiftung abhängig. Und die ist der internationalen Gemeinschaft keine wirkliche Rechenschaft schuldig.“
Ein hoher Beamter der Weltgesundheitsorganisation, der unter mehreren Generaldirektoren gedient hat, sieht die Organisation an einem Wendepunkt ihrer Geschichte. Es sei dringend notwendig, dass sie angesichts der Globalisierung und der widersprüchlichen Interessen von Staaten, Völkern und Privatunternehmen ihre Aufgaben klar und deutlich neu bestimme.12 „Die Staaten oder Regionen“, so der Beamte, „müssten von der WHO die Abhaltung echter Generalstände der Gesundheit verlangen, an denen alle Beteiligten klar zum Ausdruck bringen könnten, was sie von einer globalen Gesundheitspolitik erwarten.“ Es ist offensichtlich, dass heute niemand mehr weiß, wozu genau die Weltgesundheitsorganisation eigentlich existiert. Aber immer mehr Menschen sind der Ansicht, dass der gegenwärtige Trend zur Privatisierung des Weltgesundheitssystems die bestehenden Ungleichheiten weiter verschlimmern wird.
dt. Herwig Engelmann
* Emeritierter Professor der Universität Paris-VII