12.07.2002

Die Moral und ihr Preis

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Die Moral und ihr Preis

DIE Menschenrechte haben es heutzutage nicht leicht. In den Jahren des Kalten Krieges sind sie vom subversiven Glaubensbekenntnis von Dissidenten und Aktivisten zu einer Art herrschende Ideologie westlicher Regierungen aufgestiegen. Doch wie jede offizielle Weltanschauung standen auch die Menschenrechte immer dann höher im Kurs, wenn ihnen zuwider als wenn ihnen gemäß gehandelt wurde. Insbesondere als Legitimation der humanitären Interventionen der Neunzigerjahre in Somalia, Bosnien, Osttimor und im Kosovo spielten sie spürbar eine Rolle. Seit dem 11. September aber sind sie besonders in den USA in Bedrängnis.

Von MICHAEL IGNATIEFF *

Die Weltmacht USA führt Krieg, und die Gebote der Menschenrechte geraten gegenüber den Gesetzen des Krieges ins Hintertreffen. Warum soll man sich um Menschenrechte in Usbekistan kümmern, wenn die dortige Regierung Basen für den Krieg gegen al-Qaida in Afghanistan zur Verfügung stellt?1 Was schert uns die blutige Unterdrückung des christlichen Südens im Sudan, solange die dortige Regierung ihre Geheimdiensterkenntnisse zu Ussama Bin Laden zugänglich macht? Warum soll man Russlands Krieg gegen Tschetschenien kritisieren, wenn die tschetschenischen Gotteskrieger in den Bergen Afghanistans gegen die Vereinigten Staaten kämpfen?

Und wie kann man im Nahen Osten, wo sich Palästinenser und Israelis im offenen Krieg befinden, Argumenten für die Menschenrechte und humanitäre Gesetze überhaupt noch Gehör verschaffen? Als eine Delegation US-amerikanischer Ärzte von Physicians for Human Rights in die Region fuhr und die Beachtung ärztlicher Neutralität forderte, behauptete das israelische Militär, die Krankenwagen würden zum Transport von Terroristen benutzt, während die palästinensischen Ärzte diese Behauptung natürlich vehement bestritten. Der Schlachtenlärm übertönt alle Appelle von Menschenrechts- und humanitären Organisationen. […]

Die Stärke der Menschenrechtsbewegung lag in ihrem moralischen Rigorismus, ihrer Weigerung, Grundsätze den Machtfragen und Rechte dem Zweckdenken zu opfern, weshalb sie auch Staatsmännern immer ein Dorn im Auge war. Es ist zum Beispiel einerlei, dass die obskure zentralasiatische Diktatur Usbekistan plötzlich zum strategischen Partner Amerikas avanciert ist. Die Internierung islamischer Militanter und Oppositioneller dort wäre Unrecht, selbst wenn sie den amerikanischen Interessen feindlich gegenüberstehen. Auch dass Russland neuerdings Bündnispartner der USA ist, darf kein Hinderungsgrund sein, seine Tschetschenienpolitik zu verurteilen, und die neue Freundschaft mit China kein Grund, auf Protest zu verzichten, wenn die Herrschenden dort Intellektuelle einsperren, die den Fehler begangen haben, peinliche Fragen zur politischen Vergangenheit ihres Landes zu stellen. Jüngstes Beispiel dafür ist Xu Zerong (alias David Tsui), ehemals Forscher in Harvard und Oxford, der zu einer dreizehnjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, weil er einen wissenschaftlichen Artikel über die chinesische Politik im Koreakrieg veröffentlichte.

Als Katalog moralischer Forderungen sind die Menschenrechte das Gegenteil von Politik, sie sind ein Moralkodex, der a priori jede politische Rechtfertigung der Verweigerung von Grundrechten ablehnt. Doch Menschenrechte sind auch mehr als ein Stapel moralischer Trümpfe. In einer Welt der Gewalt und Ungerechtigkeit bemühen sich Menschenrechtsaktivisten, ihren Einfluss geltend zu machen, indem sie als Bewegung auftreten. Sie müssen versuchen, ihre moralisch kompromisslosen Forderungen in Einklang zu bringen mit der harten Realität, die da heißt, sich in einer freien Welt Gehör zu verschaffen, die sich im Krieg gegen den Terror befindet. Die Menschrechte geraten dabei unter Druck. Neutral zu bleiben, wenn das eigene Land oder die eigenen Freunde angegriffen werden, fällt nicht leicht. Nicht minder schwer ist es, die eigene Regierung zu kritisieren, wenn Kritik als unpatriotisch hingestellt wird, oder hartnäckig auf Einhaltung der Menschenrechte zu pochen, wenn das den Anschein erweckt, man wolle dem eigenen Militär oder der eigenen Polizei die Hände fesseln.

Solche Schwierigkeiten sind nicht neu, würden Aryeh Neier vom Open Society Institute und andere Veteranen der Menschenrechtsbewegung sagen. Ihrer Meinung nach ist die gegenwärtige Situation auch nicht schlimmer als die im Kalten Krieg. Zu Zeiten McCarthys führte moralische Panikmache zu Angriffen auf die Bürgerrechte; die Inhaftierung hunderter muslimischer und arabischer Verdächtiger nach dem 11. September ist damit vergleichbar. Realpolitiker wie Henry Kissinger suchten während des Kalten Kriegs immer zu vermeiden, dass das Thema Menschenrechte bei den Sowjets auf die Tagesordnung kam. Ihr Argument: Es könne übergeordnete Ziele wie die Entspannung gefährden. Jahrelang vertrat die US-Regierung den Standpunkt, Sicherheitserfordernisse seien höher zu bewerten als Menschenrechte; und entsprechend handelte sie im Krieg gegen das „Reich des Bösen“. Es sollte uns nicht überraschen, wenn sie dieser Maxime auch im Krieg gegen die „Achse des Bösen“ folgt.

Dollars und Laptops

WIE wichtig es ist, sich unbeirrt und ganz besonders dann für Rechte einzusetzen, wenn es heißt, übergeordnete Interessen wie Sicherheit und Stabilität erforderten ein Stillhalten, zeigt sich in den Erinnerungen Jeri Labers, die sie unter dem Titel „The Courage of Strangers“ veröffentlicht hat.2 Laber war die erste Direktorin von Helsinki Watch. Diese NGO wurde mit Geldern der Ford Foundation gegründet, sollte kontrollieren, ob die Sowjets und osteuropäischen Regierungen sich an die Vereinbarungen der Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr 1975 hielten, und die osteuropäischen Helsinkigruppen der Dissidenten unterstützen. Als Laber mit der Arbeit begann, wurde der Begriff „Menschenrechte“ noch nicht einmal benutzt, erinnert sie sich. Als sie aufhörte, hatte sie das Ihre dazu beigetragen, dass „Menschenrechtsaktivist“ ein Beruf geworden war. Dabei konnte man sich anfangs nur an amnesty international orientieren, das seit 1961 existierte.3 Laber, schon zu Beginn der Siebzigerjahre Mitglied einer Amnesty-Gruppe an der Columbia University, war früh desillusioniert von den Amnesty-Briefkampagnen für politische Gefangene in der Sowjetunion. „Man konnte kaum glauben, dass sie etwas ausrichten konnten.“

Zuerst sprach ja auch alles dagegen. Der Gefangene, den Labers Gruppe adoptierte, blieb nach der ersten Briefaktion noch fünf Jahre in Haft. Erfolgversprechender waren direkte politische Lobbyarbeit und die Organisation von Demonstrationen. Helsinki Watch begann jedoch erst mit der Arbeit, als Arthur Goldberg – US-Botschafter bei der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die die Einhaltung der Beschlüsse von Helsinki überwachen sollte – 1978 in seinem Bericht vor dem US-Kongress konstatierte, in Osteuropa seien schon Helsinkigruppen aktiv, in den Vereinigten Staaten jedoch nicht. Er führte Gespräche mit McGeorge Bundy, dem Leiter der Ford Foundation, die 1979 schließlich 400 000 Dollar zur Verfügung stellte, und Helsinki Watch wurde mit Laber und Bernstein an der Spitze gegründet.

Daniel Thomas erzählt die gleiche Geschichte, beschreibt aber in „The Helsinki Effect“4 die allgemeinen politischen Rahmenbedingungen. Die Sowjets hatten die KSZE mit initiiert, um die Anerkennung der De-facto-Teilung Europas in zwei Blöcke sicherzustellen. Für die Anerkennung einer sowjetischen Einflusssphäre in Osteuropa bestanden die Westeuropäer freilich auf einem Abschnitt der Akte, der die Verbesserung der Menschenrechte vorsah. Damit sollte, schreibt Thomas, den Sowjets die Hegemonie in Osteuropa zugestanden werden, ohne die Sache der Freiheit aufzugeben. Die Amerikaner spielten nach Thomas‘ Meinung während der gesamten Verhandlungen eine negative Rolle, vor allem weil Außenminister Kissinger meinte, die Propagierung der Menschenrechte werde den Entspannungsprozess mit den Sowjets stören.

Die amerikanische Zurückhaltung bei den Menschenrechten ist auch deshalb zu betonen, weil oft behauptet wird, der Bedeutungszuwachs der Menschenrechte in den letzten Jahren sei untrennbar mit der zunehmenden globalen Vorherrschaft der USA verbunden. Auch Brian Simpson meint in „Human Rights and the End of Empire“5 , seinem überaus gründlichen Bericht über die Entstehung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten – dem wirkungsvollsten Regelwerk zur Durchsetzung der Menschenrechte –, dass die Amerikaner nur Zuschauer waren. Sowohl Simpson als auch Andrew Moravcsik von der Harvard University weisen darauf hin, dass die Europäer die Einhaltung der Menschenrechte auf internationaler Ebene zu einem Bestandteil ihrer Sicherheitspolitik in der Nachkriegszeit machten, weil es ihnen darauf ankam, dass die Deutschen demokratisch bleiben, die Italiener nicht unter kommunistische Herrschaft geraten und alle Europäer zusammen endlich ein Jahrhundert der Vernichtung und des totalen Krieges hinter sich lassen können.6

Als die Europäische Konvention 1953 in Kraft trat – Sitz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wurde Straßburg –, hielt der belgische Staatsmann Paul Henri Spaak eine Rede, deren Titel schon die Bedeutung der neuen Konvention für die europäische Geschichte anzeigte: „Vom Europa Dachaus zum Europa Straßburgs“. Simpson erwähnt auch, dass die europäischen Regierungen, besonders die britische, völlig arglos eine Verpflichtung zur Einhaltung der Menschenrechte unterschrieben, die eines Tages ihre eigene Souveränität einschränken und – noch unglaublicher – das Sowjetsystem in Bedrängnis bringen sollte. Auch die Amerikaner waren überrascht. In dem Bericht über seine Zeit als CIA-Chef gibt Robert Gates zu bedenken, dass die Rolle der Menschenrechte beim Zerfall der Sowjetunion sozusagen eine Geschichte unbeabsichtigter Folgen ist.

„Die Sowjets wollten die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa unbedingt. Sie kriegten sie, und sie wurde dann zur Grundlage für das Ende ihres Imperiums. Wir waren jahrelang dagegen, nahmen nur widerstrebend teil, [Präsident Gerald R.] Ford zahlte einen hohen Preis – womöglich kostete es ihn die Wiederwahl –, und dann mussten wir Jahre später erkennen, dass die KSZE Erfolge brachte, die unsere kühnsten Träume übertrafen. Wer hätte das gedacht!“

Als die Schlussakte von Helsinki 1975 unterzeichnet war, erkannten zunächst nicht etwa die Amerikaner und Westeuropäer die wahre Bedeutung der Menschenrechtsklauseln, sondern die osteuropäischen Dissidenten. Jiří Hájek, Außenminister in der Regierung Dubček und nach dem Einmarsch der Sowjets in die Wüste geschickt, machte 1975 seine Regierung als einer der Ersten darauf aufmerksam, dass sie eine Vereinbarung unterschrieben hatte, der gemäß es gegen das Gesetz verstieß, Menschen wegen ihrer politischen Anschauungen zu inhaftieren oder zu entlassen. Er wurde einer der Gründer der Charta 77, der wichtigsten Menschenrechtsgruppe in der ČSSR. Etwa zur gleichen Zeit begann Karol Wojtyla, Kardinal in Krakau, in seinem Kampf gegen die kommunistischen Machthaber mit den Menschenrechten zu argumentieren.

Jeri Laber wiederum begriff als eine der Ersten in den USA, was nun in Osteuropa gärte, und wurde aktiv. Immer wieder reiste sie in die osteuropäischen Staaten und brachte den Dissidenten Dollars, Laptops und anderes. Sie war auch eine äußerst tüchtige Spionin; als nunmehr geschiedene Frau mittleren Alters mit Kindern im Studentenalter erregte sie kaum Verdacht. Sie machte sich in einer unentzifferbaren Minischrift Notizen und achtete darauf, sich nie etwas zuschulden kommen zu lassen. Sie gewann das Vertrauen von Frauen wie Rita Klimová, einer führenden tschechischen Dissidentin, die nach 1989 Botschafterin der Tschechoslowakei in Washington wurde. Laber schildert sich als naiv und romantisch und betont, wie entsetzt sie gewesen sei, manche der großen Dissidentenhelden als hoffnungslos ausgelaugte, alte und gebrechliche Menschen anzutreffen. Amerikaner meinen ja oft, Leiden verkläre, adele die Betroffenen, verleihe ihnen Schönheit. Dabei zerbricht es sie körperlich: ein zusätzlicher Grund, warum ihr moralischer Mut so viel Achtung verdient.

Auch Jeri Laber hat immer wieder viel riskiert, als sie Menschen Hoffnung und praktische Hilfe brachte, die sich als Gefangene der Geschichte fühlten und kaum einen Ausweg sahen. Selbst im Oktober 1989 noch sagte ihr Havel in Prag, seiner Meinung nach werde das System weitere zehn Jahre überdauern und er für den Rest seines Lebens Dissident bleiben. Zwei Monate später war er Präsident einer freien Tschechoslowakei.

In Labers Lebenserinnerungen wird noch einmal deutlich, wie klein die Gruppe der führenden Köpfe in der amerikanischen Menschenrechtsbewegung während der ersten zehn Jahre wirklich war und dass nur zwei Stiftungen, Ford und MacArthur, unterstützt von George Soros, den Hauptteil des Geldes aufbrachten. So unermesslich wertvoll diese Finanzierung war, machte sie doch gleichzeitig die Menschenrechtler zur klassischen Interessengruppe einer Elite und nicht zu einer Organisation mit Massenbasis wie die American Civil Liberties Union. Laber schildert sie überdies als männlich dominierten, großbürgerlichen Verein von hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, jüdischen Anwälten und Geschäftsleuten, durch die New York binnen eines Jahrzehnts zum Menschenrechtszentrum der freien Welt wurde.

Schon nach kurzer Zeit hatten die Aktivisten Zugang zu hohen Vertretern der US-Regierung, und während Jeri Laber in Osteuropa Außenseitern half, wurde sie in ihrer Heimat rasch die Insiderin par excellence, die sowohl Beamte in Kongress und Außenministerium als auch US-Botschafter beriet. Human Rights Watch, die Dachorganisation für Helsinki Watch und andere Beobachtungskomitees, gab der Presse unendlich wertvolle Informationen über die Verfolgung von Dissidenten und bekam im Gegenzug Gelegenheit, Petitionen für diese zu veröffentlichen. Doch von Anfang an war die Bewegung auf einen kleinen Kreis beschränkt.

Was nicht heißt, dass die Beziehungen zur US-Regierung ungetrübt waren. Aryeh Neier, erste Direktorin von Human Rights Watch, wusste genau, dass man auf die Sowjets nur dann effektiv Druck ausüben konnte, wenn man auch die US-Regierung genauestens unter die Lupe nahm. Und so kämpften die Menschenrechtsorganisationen während der Reagan-Jahre an zwei Fronten: Sie prangerten Reagans Unterstützung der Todesschwadronen in El Salvador und der nicaraguanischen Contra ebenso an, wie sie Reagan dabei unterstützten, in Reykjavik in Sachen Menschenrechte auf Gorbatschow Druck auszuüben. 1986 konnte die Bewegung dann einen der ersten wichtigen Siege verbuchen, die Freilassung Juri Orlows.

Die Vorstellung, die Menschenrechtsbewegung habe die Berliner Mauer zu Fall gebracht, ist natürlich abwegig. Aber sie untergrub das Selbstvertrauen der kommunistischen Elite, weil sich in ihr die integersten Leute aus Osteuropa sammelten, welche allmählich einen Gegenpol moralischer Legitimität ausbildeten. Und als Gorbatschow verkündete, er werde keine Panzer mehr gegen Bürger des Sowjetblocks schicken, strömten die Menschen geradezu magnetisch angezogen zu diesem Gegenpol. Dieser Legitimitätstransfer trug Wałesa, Havel und dann auch Jelzin an die Macht.

Die US-amerikanische Menschenrechtsbewegung hat durch ihr Mitwirken am Wandel in Osteuropa und die Verdienste, die sie sich in einigen Ländern Lateinamerikas beim Übergang von autoritären zu demokratischen Staaten erwarb, sehr an Ansehen gewonnen. Nun floss das Geld in Strömen, schreibt Laber. Während Human Rights Watch 1979 über einen Etat von 200 000 Dollar verfügte, betrug er 2001 schon 20 Millionen. Auch andere Menschenrechtsorganisationen – amnesty international, Physicians for Human Rights und das Lawyers Committee for Human Rights – wuchsen und gediehen.

Doch das Wachstum erwies sich als ebenso paradox wie der Erfolg. Die Organisationen – außer amnesty – haben keine Massenbasis. Die Stiftungsgelder gewährleisteten, dass sie ohne eine solche Basis wachsen konnten, doch das Engagement für die Menschenrechte im Ausland fand innerhalb der USA nie eine breite Anhängerschaft. Überdies sind hier in den rechtsstaatlichen Kampagnen die Bürgerrechte und -freiheiten als Instrumente des moralischen Appells weit einflussreicher als die Argumentation mit den Menschenrechten. In den Vereinigten Staaten agiert die American Civil Liberties Union nach eigener Aussage als „landesweit größte Anwaltskanzlei, die die Interessen des Einzelnen gegen den Staat vertritt“; ihre Angestellten und freiwilligen Helfer bearbeiten etwa 6 000 Fälle im Jahr. Sie kümmern sich um Bürgerrechtsprobleme spezifischer Gruppen – Gefangene, Immigranten, Schwule, Wahlberechtigte und Aidskranke, um nur einige zu nennen. Die Verteidigung der Menschenrechte erfordert einen Diskurs, der auf internationalem Recht und moralischen Verpflichtungen basiert, und auf einen solchen pflegen die Amerikaner gemeinhin nur im Ausland zu setzen.

William Schulz, Direktor der US-amerikanischen Sektion von amnesty international, hat mehr als jeder andere seiner US-amerikanischen Kollegen dafür getan, dass Menschenrechtsthemen auch innerhalb der Vereinigten Staaten zur Kenntnis genommen werden. Auf die Frage, die ihm einmal ein Journalist in einer Radiotalkshow stellte: „Aber was hat das alles mit den Menschen im Osten Tennessees zu tun?“, hätte er kurz und klar mit dem Titel seines Buches antworten können: „In Our Own Best Interest“7 . Schulz ist der Auffassung, dass es im langfristigen Interesse Amerikas liegt, demokratische Regierungen zu unterstützen, die die Menschenrechte achten, und dass der außenpolitische Einfluss der USA nur größer werden kann, wenn sie die Menschenrechtsnormen auch im eigenen Land einhalten.

Über diese Thesen lässt sich kaum streiten, und Schulz argumentiert wirkungsvoll mit dem nationalen Interesse, um die hehren Prinzipien attraktiver zu machen. Dem Bemühen amnestys, den USA diese Botschaft nahe zu bringen, war allerdings zwiespältiger Erfolg beschieden. Vergeblich blieben die Versuche, die international anerkannten Menschenrechte anzuführen, um im Lande selbst Unterstützung gegen die amerikanische Praxis zum Beispiel der Todesstrafe zu mobilisieren. Der bloße Gedanke, dass US-amerikanische Rechtsvorstellungen an internationalen Richtlinien gemessen werden sollten, ist für viele Amerikaner eine Zumutung, unpatriotisch und nichtig. Sollte die Todesstrafe eines Tages dennoch abgeschafft werden, dann nicht, weil sie gegen internationale Abkommen über bürgerliche und politische Rechte verstößt, sondern weil die Amerikaner zu dem Schluss kommen, dass ihre Anwendung gegen Grundsätze der amerikanischen Verfassung verstößt, insbesondere gegen das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren und das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz.

In amerikanischen Kampagnen für soziale Gerechtigkeit geht es um Bürgerfreiheiten, Bürger- und gewerkschaftliche Rechte, und man benutzt ein amerikanisches Vokabular, nicht die internationale Sprache der Menschenrechte. Der radikale Individualismus der Menschenrechte, ihre Betonung auf dem Schutz des Individuums sollte eigentlich ganz nach amerikanischem Geschmack sein. Das Wort „Mensch“ in Menschenrecht beinhaltet den Anspruch auf Einbeziehung aller, drückt mithin auch die Forderung von Behinderten und wegen ihrer Rasse Diskriminierten, als vollwertige Mitglieder der menschlichen Rasse behandelt zu werden, besser aus als das begrenztere Vokabular der Bürger- oder gewerkschaftlichen Rechte. Doch bisher ist es noch keiner Bewegung gelungen, die Menschenrechte in den Vereinigten Staaten heimisch zu machen. Gruppen wie amnesty, Human Rights Watch und das Lawyers Committee for Human Rights haben zwar mit der American Civil Liberties Union zusammengearbeitet, um Flüchtlinge und Gefangene zu verteidigen, die bei den groß angelegten Polizeiaktionen nach dem 11. September ins Netz gegangen sind. Doch Bürgerrechts- und Menschenrechtsgruppen sind nach wie vor zwei getrennte Lager.

Die internationalen Probleme, mit denen sich die Menschenrechtsaktivisten seit dem Ende des Kalten Krieges außerhalb Amerikas konfrontiert sehen, haben sich außerdem drastisch verändert. Die Menschenrechtsbewegung wurde ins Leben gerufen, weil man sich gegen die Tyrannei übermächtiger Staaten zur Wehr setzen und die Grundfreiheiten und politischen Rechte Andersdenkender verteidigen wollte. Nun sieht sie sich einer Welt gegenüber, in der viele der drängendsten Gefahren für die Menschenrechte nicht von übermächtigen Staaten ausgehen, sondern von zerfallenden Staatsgebilden oder Schurkenstaaten. Hauptproblem ist meist nicht mehr die gesellschaftliche oder politische Unterdrückung von Individuen, sondern Genozid, ethnische Säuberungen und Massaker an ganzen Gruppen. Und es geht auch nicht mehr allein um Bürgerkriege und Gewalt von Menschen gegen Menschen, sondern um die katastrophalen Auswirkungen von Aids auf die Politik und die Entwicklung im südlichen Afrika. Wie kann zum Beispiel ein vernünftig verwaltetes und verhältnismäßig wohlhabendes Land wie Botswana überleben, wenn die demografischen Veränderungen bald dazu führen, dass es unzählige Waisen und alte Leute, aber relativ wenige Erwachsene im Führungsalter gibt?8 Die staatlichen Strukturen können vollkommen zusammenbrechen, falls Botswana die nötige internationale Hilfe zur Eindämmung der Krankheit verweigert wird. Eine Bewegung, die sich bisher in der Hauptsache um die bürgerlichen und politischen Rechte Gefangener kümmerte, muss nun lernen, sich auch um das Recht auf Gesundheit zu kümmern. Sie muss fragen, wie sich die Erteilung von Patenten auf Medikamente als Forschungsanreiz mit dem moralischen Gebot vereinbaren lässt, arme Menschen mit Medizin zu versorgen. Die Menschenrechtler stehen heute den vier Reitern der Apokalypse gegenüber, und am furchtbarsten ist am Ende vielleicht die Pest.

Nachdem Jeri Laber jahrelang in Sachen Menschenrechte nicht nur in Osteuropa, sondern auch in Ländern wie der Türkei und Kuba unterwegs war, gebührte ihr ein ehrenvoller Abschied aus der Organisation, die sie mitgegründet hat. Dass sie genau in dem Moment ging, als Bosnien und Ruanda 1994 ins Grauen stürzten, war allerdings kein Zufall. Mit ihren Erfahrungen aus dem Kalten Krieg wäre Jeri Laber in keinem Fall auf die nachfolgende Menschenrechtsschlacht vorbereitet gewesen, in der nicht mehr nur individuelle Betroffene gerettet oder geschützt, sondern für ganze Bevölkerungsgruppen umfassende humanitäre Interventionen eingeleitet werden mussten. Nachdem viele Menschenrechtler gegen die amerikanische Unterstützung der Contra und der Todesschwadronen in Lateinamerika gekämpft hatten, fiel es ihnen nun, gelinde gesagt, schwer, zu akzeptieren, dass ihre einzige Hoffnung für den Schutz der Menschenrechte in den Balkanländern auf der Armee der Vereinigten Staaten ruhen sollte. Manche glaubten ihre Neutralität zu verlieren, wenn sie militärisches Eingreifen forderten, durch das die einen Opfergruppen geschützt wurden, die anderen jedoch zu Schaden kamen.

Während also die Berichte mancher Menschenrechtsgruppen Regierungschefs wie Tony Blair und Bill Clinton Beweismaterial lieferten, mit dessen Hilfe diese um innenpolitische Unterstützung für ein Eingreifen warben, versuchten andere, sich vor einem ausdrücklichen Eintreten für militärische Gewaltanwendung zu drücken. Aber es war moralisch wenig sinnvoll, für bestimmte Ziele – wie den Stopp der ethnischen Säuberungen – einzutreten, wenn man nicht bereit war, das einzig gebotene und wirksame Mittel zu befürworten: Luftangriffe. Im Zeitalter humanitärer Intervention standen die Menschenrechtsgruppen, von der alten Linken als Lakaien des US-Militärimperialismus geschmäht und von Konservativen und Liberalen wegen ihres ohnmächtigen moralischen Rigorismus verachtet, dann doch sehr allein da.

Vielleicht ist das Zeitalter der humanitären Interventionen aber auch schon wieder vorbei. Der Krieg gegen den Terror beansprucht alle verfügbaren politischen und militärischen Ressourcen der Vereinigten Staaten, und man fragt sich, wer den nächsten Genozid in der Größenordnung etwa Ruandas verhindern soll oder wenigstens beim nächsten Tschetschenienkrieg seine Stimme gegen Russland erheben wird. Aryeh Neier hat vor kurzem geschrieben: „Obwohl wir mit unserer Intervention in Afghanistan die diktatorische Herrschaft der Taliban beendet und damit die Menschenrechtslage eindeutig verbessert haben, sind unsere Möglichkeiten, uns über Menschenrechtsverletzungen laut und deutlich zu äußern, durch unsere neuen Bündnisse mit Regimen wie denen in Russland, China, Usbekistan und Pakistan stark eingeschränkt.“9

Menschenrechtsaktivisten können und sollten den Standpunkt propagieren, dass jeder Staat grundsätzlich die Verantwortung für den Schutz seiner Bürger trägt. Wenn die Regierenden einzelner Länder unfähig oder nicht willens sind, dem Abschlachten oder Deportieren ihres eigenen Volkes Einhalt zu gebieten, liefern sie ihr Land der Gefahr einer militärischen Intervention aus, die vom Sicherheitsrat sanktioniert wird. Diesen Vorschlag macht die International Commission on Intervention and State Sovereignty (deren Mitglied ich war) in ihrem jüngsten Bericht („The Responsibility to Protect“).10 Aber wer schenkt ihm Gehör?

Menschenrechtsverletzungen haben neue Formen angenommen und stellen die Menschenrechtsgruppen vor neue Aufgaben. Immer noch müssen Individuen vor despotischen Staaten geschützt werden. Zusätzlich aber ist die Notwendigkeit entstanden, erst einmal Staaten zu schaffen, die stark genug sind, ihre Bürger zu schützen. Sind die Menschenrechtsorganisationen zu dieser Arbeit bereit? Die Gräuel anzuprangern, die Frauen in Afghanistan zugefügt werden, bleibt eine ohnmächtige Geste, solange keine staatliche Autorität in der Lage ist, die Rechte der Frauen zu schützen, und die neuen Kriegsherren des Landes keine Bereitschaft zeigen, an den Lebensbedingungen der Frauen auch nur das Geringste zu ändern. Die Menschenrechtsorganisationen behaupten – fast wie die US-Regierung –, dass sie für den „Aufbau von Nationalstaaten“ nicht zuständig sind. Dies sei Sache der NGOs, die sich um Konfliktprävention, Rehabilitierung von Opfern und humanitäre Hilfe kümmern. Welche Rolle haben aber dann die Menschenrechtsorganisationen in staatenlosen Gesellschaften wie in Afghanistan, Somalia oder beinahe staatenlosen wie Sierra Leone? Falls sich der Kampf für Menschenrechte in solche Regionen verlagert, mit welchen Waffen soll man dort kämpfen? Wenn die Menschenrechtsorganisationen meinen, sie könnten sich nicht an Bemühungen beteiligen, staatliches Handeln aufrechtzuerhalten oder wieder herzustellen, dann sind sie beim Kampf gegen einige der gravierendsten Menschenrechtsverletzungen zur Bedeutungslosigkeit verdammt.

Die Geschichte der Menschenrechte ist eine Geschichte unfreiwilliger Erfolge. Keiner hat geglaubt, dass Dissidenten und ihre Unterstützer einer Weltmacht die moralische Legitimation entziehen könnten. Keiner hat geglaubt, dass ein Vertrag über die Menschenrechte die Souveränität von Staaten auf dem Kontinent einschränken könnte, der die Souveränität erfunden hat. Sicher, Erfolg ist besser als Scheitern, aber der Erfolg im Kalten Krieg hat die Menschenrechtsaktivisten nicht auf die Herausforderungen einer Welt vorbereitet, deren Problem nicht mehr nur Tyrannei, sondern das Chaos ist.

aus dem Engl. von Sigrid Ruschmeier

* Professor für Menschenrechte in Harvard (zuletzt erschien: „Virtueller Krieg, Kosovo und die Folgen“, 2001). Abdruck mit freundlicher Genehmigung der New York Review of Books, 2002.

Fußnoten: 1 Für eine gegensätzliche Auffassung, die davon ausgeht, das die US-amerikanische Präsenz in Zentralasien die Menschenrechtslage verbessern wird, siehe Jim Hoagland, „Allies and Human Rights“, The Washington Post, National Weekly Edition, 18.–24. März 2002. 2 Jeri Laber, „The Courage of Strangers: Coming of Age with the Human Rights Movement“, Public Affairs 2002. 3 Eine aktuelle Darstellung der Anfänge von amnesty international findet sich in: Linda Rabben, „Fierce Legion of Friends: A History of Human Rights Campaigns and Campaigners“, Quixote Center, 2002. 4 Daniel Thomas, „The Helsinki Effect“, Princeton University Press, 2001. 5 A. W. Brian Simpson, „Human Rights and the End of Empire: Britain and the Genesis of the European Convention“, Oxford University Press, 2002. 6 Andrew Moravcsik, „The Origin of Human Rights Regimes: Democratic Delegation in Postwar Europe“, International Organization, Bd. 54, No. 2, Frühjahr 2000. 7 William F. Schulz, „In Our Own Interest: How Defending Human Rights“, Beacon 2002. 8 Amir Attaran, „Breaking the Excuses: Why AIDS Keeps Getting Worse“; unveröffentlicht, Center for International Development, Kennedy School of Government, Harvard University, 2002. Über das demografische Profil Botswanas im Jahr 2020 siehe: US Census Bureau, World Population Profile, 2000. 9 „The Military Tribunals on Trial“, The New York Review of Books, 25. April 2002. 10 Ottawa 2001: International Development Research Center. Wird von Brian Urquhart in seinem Artikel „Shameful Night“, The New York Review of Books, April 25, 2002, diskutiert.

Le Monde diplomatique vom 12.07.2002, von MICHAEL IGNATIEFF