Washington verschrottet Abrüstungsabkommen
Als US-Präsident George W. Bush in seiner ersten sicherheitspolitischen Rede am 1. Mai 2001 die Kündigung des ABM-Vertrages ansagte, prophezeiten Sicherheitsexperten eine gravierende Bedrohung für das weltweite nukleare Gleichgewicht des Schreckens, das durch die Raketenabwehrpläne bereits nachhaltig untergraben war. Die ABM-Kündigung war aber nur ein erster Schritt. Die Strategen im Weißen Haus sind dabei, ein sicherheitsstrategisches Konzept zu entwerfen, das die Vereinigten Staaten zur alleinigen und unumstrittenen Supermacht macht. Damit sind auch alle internationalen Abkommen, die in den 1990er-Jahren die Abrüstungsbemühungen kennzeichneten, für Washington zu Ballast geworden.
Von PIERRE CONESA und OLIVIER LEPICK *
DIE bisherigen Atomwaffenverträge beruhten auf zwei Prinzipien: dem Gleichgewicht der Kräfte und der gegenseitig gesicherten Vernichtung (MAD). Die Vereinigten Staaten wie die Sowjetunion hielten Rüstungsbegrenzungen für notwendig und unternahmen gemeinsame Anstrengungen, ihr Atomwaffenarsenal schrittweise abzubauen. Wichtige Etappen hierbei waren die Salt-Abkommen (Strategic Arms Limitation Talks), die Start-Verträge (Strategic Arms Reduction Talks) und der ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty). Dieser Vertragskorpus sicherte den „nuklaren Frieden“, Raketenabwehrsysteme blieben auf wenige klar definierte Ziele beschränkt (siehe Kasten).
Seit einiger Zeit wird dieses Vertragsgebilde Schritt um Schritt ausgehöhlt. Am 13. Dezember 2001 kündigte George W. Bush den ABM-Vertrag. Die im Rahmen des Start-Prozesses ausgehandelte Zahl der Atomsprengköpfe wurde durch eine Vereinbarung vom Mai 2002 um etwa zwei Drittel reduziert. Dadurch wird die operationelle Wirkung des Raketenabwehrsystems erhöht, das für eine kleinere Zahl von Kernwaffenträgern ausgelegt war. Russland, das wahrscheinlich in das Projekt eingebunden wird, kann damit seinen bisherigen Status als strategischer Partner Washingtons wahren.
Das 1995 unterzeichnete Atomtest-Stopp-Abkommen (CTBT) harrt noch immer der Ratifizierung durch den Kongress. Die US-Regierung will sich in ihren Optionen nicht einschränken lassen und behält sich ungeachtet hoch entwickelter Simulationsmodelle die Möglichkeit von realen Atomtests vor. Auch die Zusatzabkommen zum „Comprehensive Test Ban Treaty“ stehen zunehmend in Frage. Die so genannten Cut-Off-Gespräche über eine Exportkontrolle für spaltbares Material scheitern momentan an der Unnachgiebigkeit der USA.
Sogar das älteste internationale Atomabkommen, der Nichtverbreitungsvertrag (NVV), verliert im Licht von Bushs Rede zur Lage der Nation am 29. Januar 2002 seine Konturen. Drei Länder sitzen auf der Anklagebank: Iran, Irak und Nordkorea – die „Achse des Bösen“. Ihnen wird die Entwicklung von atomaren und anderen Massenvernichtungswaffen zur Last gelegt. Der Iran und der Irak, die beide Unterzeichner des Nichtverbreitungsvertrags sind, gelten als „böse Verbreiter“, während Nordkorea, das sich aus dem Vertrag zurückgezogen hat, ohnehin des Teufels ist. Pakistan hingegen (ebenfalls NVV-Unterzeichner) sowie Indien und Israel (die dem Vertrag vorsichtshalber nicht beitraten) müssen aus US-Sicht als „gute Verbreiter“ gelten und verdienen daher keinen Tadel.
So genehmigt sich Washington vor dem Hintergrund des „globalen Antiterrorkriegs“ eine höchst selektive Auslegung dessen, was als Verbreitung von Atomwaffen anzusehen ist, je nachdem, ob ein Land zu den Verbündeten gehört oder nicht. Damit findet sich Bushs Motto „Wer nicht für uns ist, ist für die Terroristen“ unversehens – in Gestalt einer Entlastungsklausel – auch im Nichtverbreitungsvertrag wieder.
Kaum ermutigender sieht die Bilanz bei den internationalen Abkommen über die anderen (biologischen, bakteriologischen und chemischen) Massenvernichtungswaffen aus. Die Vereinigten Staaten zählen zu den Trägern der rechtlichen Instrumente des Biowaffenübereinkommens von 1972, das erste internationalen Abkommens dieser Art, das die Entwicklung, Herstellung und Lagerung von Toxinwaffen verbietet. Die Konvention verfügt über keinerlei Verifikationsmechanismen, aber bei den im Fünfjahresturnus stattfindenden Überprüfungskonferenzen zeichnen sich Fortschritte in dieser Frage ab. Auf Initiative Frankreichs und anderer westlicher Länder wurden auf der Genfer Folgekonferenz von 1991 Expertengruppen gebildet, die geeignete Verifikationsmethoden entwickeln und vorschlagen sollen.
Die zehnjährige Arbeit dieser Expertengruppe wurde zunichte gemacht, als John Bolton, Vizeaußenminister für Abrüstungsfragen in der Bush-Regierung, die Vorschläge mit der Begründung ablehnte, sie stünden „im Gegensatz zu den amerikanischen Handels- und Sicherheitsinteressen besonders mit Blick auf unser Verteidigungsprogramm gegen biologische Waffen, ohne dabei eine Verringerung der Verbreitung von Biowaffen garantieren zu können“. Die Argumente reichen von schlichtem Standortegoismus (Schutz der eigenen Industrie) bis hin zu den extravagantesten Rechtskonstruktionen wie dem Schutz von US-Bürgern vor missbräuchlicher strafrechtlicher Verfolgung.1
Darüber hinaus beschuldigen die Vereinigten Staaten den Iran, Libyen, Nordkorea, den Sudan und Kuba, das Biowaffenübereinkommen nicht einzuhalten. Die Milzbrandkrise im Gefolge der Attentate vom 11. September lässt vermuten, dass die Amerikaner ein biologisches Waffenprogramm verfolgen, das weit über Verteidigungsbedürfnisse hinausgeht.2
Im Unterschied zur Biowaffenkonvention sieht das 1993 unterzeichnete Chemiewaffenübereinkommen einen Verifikationsmachanismus vor. Die USA ratifizierten das Übereinkommen erst in letzter Minute – im April 1997. Obwohl der Text von US-Experten verfasst war,3 bestand der Kongress auf Zusatzbestimmungen, die das Verhandlungsergebnis ad absurdum führen. Bereits im Präsidentschaftswahlkampf von 1996 hatte der republikanische Kandidat Robert Dole die multilaterale Abrüstungsverträge als „Illusion“ denunziert. Und Präsident Bill Clinton zog es vor, die Konvention erst nach seiner Wiederwahl ratifizieren zu lassen.
In der Folge fügte der Kongress drei Bestimmungen hinzu, die den Geltungsbereich der Konvention erheblich einschränken. Erstens kann sich der US-Präsident jeder Inspektion widersetzen, die eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellt. Zweitens dürfen Testproben aus den USA das Land nicht verlassen. Und drittens wurde der Kreis der Industrieanlagen, die der Den Haager Organisation für das Verbot der chemischen Waffen (OPCW) gemeldet werden müssen, viel enger gefasst, als es dem Geist der Konvention entspricht.
Zwar reichten auch die USA die vertragsmäßig vorgesehene Meldeliste im Mai 2000 ein, doch die ersten Vor-Ort-Inspektionen verliefen recht unerfreulich. Die OPCW-Inspektoren mussten erleben, wie ein Großteil ihrer Anfragen nur behördliche Schikanen auslösten.4 Gerade die USA, die gegenüber Staaten, die Massenvernichtungswaffen verbreiten, stets auf Transparenz pochen, verhielten sich wie irgendeine suspekte Nation. Kein Wunder auch, dass der Irak, Nordkorea, Russland und der Iran die amerikanischen Vorbehalte gegen das Chemiewaffenübereinkommen fast Wort für Wort übernahmen.
Anfang dieses Jahres hatten es die Vereinigten Staaten dann geschafft. Nach einer mehrwöchigen Krise, die eine weitere Destabilisierung der Chemiewaffenorganisation bewirkte, musste OPCW-Direktor José Bustani gehen – wegen Inkompetenz und mangelnder Vertrauenswürdigkeit wie Washington verlauten ließ (siehe den Beitrag von Any Bourrier auf diesen Seiten).
Was das Raketentechnologie-Kontrollregime (MTCR) anbelangt, so handelt es sich dabei um nichts weiter als ein Gentlemen‘s Agreement, das nach Auskunft Washingtoner Experten nicht verhindern konnte, dass derzeit 28 Nationen über diese Technologie verfügen. Mehr noch: Da das geplante Raketenabwehrsystem der Vereinigten Staaten bei zahlreichen Verbündeten auf Vorbehalte stieß, beschloss das Weiße Haus, den Schutzschirm auf die wichtigsten Verbündeten einschließlich Russland auszuweiten. Ohne entsprechenden Technologietransfer wird dies kaum möglich sein.
Das Wassennaar-Abkommen – Nachfolgeregelung für das 1994 ausgelaufene Coordinating Committee on Multilateral Export Controls (Cocom), das den Technologietransfer in die Sowjetunion regelte – hat mit der schrittweisen Ausweitung auf nunmehr 33 Unterzeichnerstaaten seine ursprüngliche Schlagkraft verloren, zumal viele der Neumitglieder nicht zur Nato gehören. Überdies wird das Abkommen von den Vereinigten Staaten häufig instrumentalisiert, um den Verkauf sensibler Technologien an so genannte Schurkenstaaten zu unterbinden.
Nicht weniger beunruhigend ist die Bilanz bei den konventionellen Rüstungsgütern.5 Das internationale „Übereinkommen über das Verbot von Antipersonenminen“, das 1997 in Ottawa unterzeichnet wurde und am 1. März 1999 in Kraft trat, wurde von den Vereinigten Staaten aus verschiedenen Gründen nicht akzeptiert. Zum einen schützen sich die US-Streitkräfte entlang der entmilitarisierten Zone zwischen Nord- und Südkorea selbst mit Antipersonenminen, zum anderen wollen die Vereinigten Staaten auch weiterhin Antipanzerminen mit integrierter Antipersonen-Submunition exportieren. Hier zieht Washington mit Minenexporteuren wie der Volksrepublik China am selben Strang.
Auf Drängen von Nichtregierungsorganisationen fand im Juli 2001 in New York die „UNO-Konferenz über den unerlaubten Handel mit Kleinwaffen und leichten Waffen“ statt. Greifbare Ergebnisse liegen bis heute nicht vor. Jeder Fortschritt wird durch die mächtige US-Kleinwaffenlobby hintertrieben, die sich auf das verfassungsmäßige Recht zur Selbstverteidigung beruft. Die Regierung in Washington lehnt jede zwingende rechtliche Regelung ab, auch und gerade, was die Belieferung nichtstaatlicher Akteure anbelangt. Man will sich auf keinen Fall verbieten lassen, proamerikanische Guerillabewegungen zu unterstützen.
Hinzu kommt, dass das Weiße Haus und ein Teil der amerikanischen Öffentlichkeit den Vereinten Nationen seit jeher mit Argwohn begegnet. Profilierten sich die westlichen Streitkräfte im Golfkrieg noch als bewaffneter Arm des Völkerrechts in Gestalt des UN-Sicherheitsrats, so gingen dem Afghanistankrieg zehn Jahre später weder eine Kriegserklärung noch Konsultationen mit der UNO voraus. In seiner diesjährigen Rede zur Lage der Nation erwähnte Bush die UNO im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung mit keinem Wort. So wird sich die Organisation auf Konflikte konzentrieren müssen, an denen Washington kein Interesse hat, etwa den Kongo oder die Westsahara. In sicherheitspolitischen Fragen sind von der UNO nur noch Texte mit geringer Rechtsverbindlichkeit zu erwarten. Man denke nur an die elf Resolutionen, die die UN-Generalversammlung vor dem 11. September gegen den Terrorismus verabschiedet hat. Erfolg gleich null.
So bröckelt Stück für Stück die gesamte internationale Sicherheitsarchitektur aus der Zeit des Ost-West-Gegensatzes, deren Grundpfeiler das Gleichgewicht der Kräfte und das Prinzip der gesicherten gegenseitigen Vernichtung waren. Gewiss, die Vereinigten Staaten weisen heute zu Recht darauf hin, dass die Kontrollmechanismen gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zum Teil nicht mehr greifen. Nach Schätzungen des Pentagons sind 12 Staaten im Besitz von Atomwaffen, 16 verfügen über Chemiewaffen, 13 über Biowaffen und 28 über ballistische Trägersysteme. Doch welche Schlüsse man aus diesem Sachverhalt zieht, steht auf einem anderen Blatt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Einerseits beschuldigt Washington den Iran, trotz Unterzeichnung des Chemiewaffenübereinkommens Toxinwaffen zu entwickeln, andererseits äußert die US-Regierung Vorbehalte gegen Inspektionen vor Ort, wie sie die Konvention für solche Fälle vorsieht.6
Wie die erwähnten Beispiele zeigen, ist die im Gang befindliche Abwicklung des internationalen Sicherheitssystems keine Spezialität der Republikaner. Wenn es einen Unterschied zwischen Bush und seinem Vorgänger gibt, dann liegt der nicht in den Grundsatzfragen, sondern eher im Umgang mit den wichtigsten Verbündeten. Über die amerikanische „Sonderrolle“ aber herrscht voller Konsens. So kehrt in den Reden von Bushs Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice ständig die Formulierung wieder: „Die Sicherheit des Landes darf nicht von äußeren Zwängen abhängen.“
Eine ähnliche Situation hatten wir vor knapp einhundert Jahren, als der Kongress die vom damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson befürwortete Gründung des Völkerbunds ablehnte. Damals mochte sich das amerikanische Fernbleiben durch die isolationistische Grundhaltung des Landes rechtfertigen. Heute hingegen lässt der Hauptakteur der neuen Weltordnung keinen Zweifel, dass er sich durch internationale Abkommen nicht mehr die Hände binden lassen will, und das Trauma vom 11. September hat diese Befindlichkeit weiter verfestigt.
Eine Zeit höchster Ungewissheit hat begonnen. Die internationale Sicherheit hängt fortan von der unilateralen Haltung einer Supermacht ab, die nach und nach zu erkennen gibt, dass sie von völkerrechtlichen Verträgen nicht viel hält. Diese „emanzipatorische Haltung“ bezieht sich auch auf das internationale Strafrecht. Sie lässt sich nicht zuletzt an der Nichtanerkennung des Internationalen Strafgerichtshofs ablesen und an der Einrichtung von Sondergerichten, die die Taliban und die Mitglieder von al-Qaida aburteilen sollen und die einen völkerrechtsfreien Raum konstituieren.
Außer Zweifel steht auch, dass sich die USA als Weltpolizei verstehen. Im Fadenkreuz der Bush-Regierung sind dabei nicht in erster Linie die Länder, die mit dem Terrorismus in Verbindung stehen, sondern Staaten, denen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zur Last gelegt wird und die ein Bedrohungspotenzial ganz anderen Formats sind. Trotz der russisch-amerikanischen Vereinbarung vom 26. Mai über die künftig reduzierte Anzahl von Atomsprengköpfen erleben wir nicht das Ende der Abrüstung, sondern den Beginn einer neuen Weltunordnung.
dt. Bodo Schulze
* Pierre Conesa: Hoher Beamter, Autor von „Relations internationales illicites“, Revue internationale et stratégique, Sept. 2001. Olivier Lepick: Wiss. Mitarbeiter der „Fondation de la Recherche Stratégique“, Autor von „Les Armes biologiques, Que sais-je“, Paris 2001.