Startschuss für ein Hindernisrennen
AUF dem 37. Gipfel der Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU) in Lusaka wurde vor einem Jahr die Afrikanische Union (AU) gegründet. Mit diesem Schritt, der seit den Anfängen der OAU beschworen wurde, vollendet sich die Geschichte der panafrikanischen Idee, jedenfalls auf dem Papier. Der erste AU-Gipfel im südafrikanischen Durban (8. bis 10. Juli) muss zeigen, ob sich die neue Union in Zeiten der Marginalisierung Afrikas zu einer echten übernationalen Organisation entwickeln kann.
Von MWAYILA TSHIYEMBÉ *
Der Traum von einem geeinten Afrika entstand um die Wende zum 20. Jahrhundert in Amerika. Die panafrikanische Idee lebte von dem Wunsch, die afrikanischen Kulturen zu rehabilitieren, die Würde der Schwarzen wiederherzustellen und die Rückkehr ins „Mutterland“ zu propagieren. Eine der ersten Leitfiguren der Bewegung war Henry Sylvester William aus Trinidad. Gestützt auf Mitstreiter aus Nigeria, Sierra Leone, Gambia und den britischen Antillen hatte er die afrikanische Kultur kennen gelernt und ihre Probleme studiert. 1900 organisierte er die erste panafrikanische Konferenz in London, deren Hauptresolution sich gegen den Landraub in Südafrika durch Briten und Afrikaaner wandte und die Verhältnisse an der „Goldküste“, dem heutigen Ghana, kritisierte.
Burghart DuBois, Mitbegründer der „National Association for the Advancement of Colored People“ (NAACP), organisierte 1919 in Paris den ersten „Panafrikanischen Kongress“. Die Teilnehmer forderten einen „Internationalen Schutzkodex für die Eingeborenen Afrikas“, der das Recht auf Land, Bildung und freie Arbeit sichern sollte. Auf dem 4. Kongress 1927 in New York polemisierte DuBois gegen die Pläne von Marcus Garvey (noch eine Schlüsselfigur des frühen Panafrikanismus), der sich als Verfechter eines „schwarzen Zionismus“, für die „Rückkehr nach Afrika“ einsetzte. Garvey gründete die Schifffahrtslinie „Black Star“ und mobilisierte über drei Millionen Afroamerikaner, doch sein Traum endete 1925 mit einem Finanzskandal. Auf dem 5. Kongress (1945 in Manchester) ließ George Padmore aus Trinidad ein Manifest absegnen, das proklamierte: „Kolonisierte und unterdrückte Völker der Erde, vereinigt euch!“ Unter Padmores Ägide ging die Fackel des Panafrikanismus auf die Generation der späteren afrikanischen Führer über: Jomo Kenyatta (Kenia), Peter Abrahams (Südafrika), Haile Selassie (Äthiopien), Namdi Azikiwe (Nigeria), Julius Nyerere (Tansania), Kenneth Kaunda (Sambia) und Kwame Nkrumah (Ghana).
Im Zuge der Ost-West-Konfrontation und der antikolonialen Bewegungen zerfiel der Panafrikanismus auf dem 6. und 7. Panafrikanischen Kongress (1953 und 1958) in zwei Strömungen. Die „maximalistische“ Variante strebte eine grundsätzliche Neuordnung der geopolitischen Gegebenheiten an, die man auf der Berliner Konferenz (1884–1885) festgelegt hatte. Damals wurde die „Balkanisierung“ Afrikas beschlossen, das Ergebnis war ein Mosaik aus europäischen Einflusszonen. Nun sollte Afrika auf der internationalen Bühne als eigenständiger Akteur auftreten – mit dem Fernziel „Vereinigte Staaten von Afrika“. Die Hauptbedingung sei die ökonomische, politische und militärische Einheit, verkündete Kwame Nkrumah, Ghanas erster Staatspräsident. Seine Losung lautete: „Afrika muss sich zusammenschließen.“1 Sie wurde 1961 von der Casablanca-Gruppe adoptiert, der neben Ghana auch Ägypten, Marokko, Tunesien, Äthiopien, Libyen, Sudan, Französisch-Guinea, Mali und die Provisorische Regierung der algerischen Republik angehörten.
Der Plan scheiterte an zwei Schwierigkeiten, die Nkrumah wie auch Gamal Abdel Nasser (Ägypten) unterschätzt hatten. Da waren zunächst die alten Kolonialmächte. Obwohl sie geschwächt aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen waren, und obwohl sie sich der neuen amerikanisch-sowjetischen Führung unterordnen mussten und von den Vereinten Nationen zur Aufgabe ihrer Kolonien gezwungen wurden, besaßen sie nach wie vor erhebliche Möglichkeiten, die afrikanischen Einigungsbestrebungen zu hintertreiben. Denn jedes Projekt dieser Art stand in unmittelbarem Widerspruch zu ihren vitalen Interessen (Rohstoffe, Energie, Klientelismus, Wirtschaftsbeziehungen).
Zudem hegten Nkrumah und die Casablanca-Gruppe die naive Hoffnung, das „fortschrittliche“ Lager, allen voran die Sowjetunion und die Volksrepublik China, würde ihr Ansinnen ebenso unterstützen wie die USA, die so gern von individueller Freiheit und Selbstbestimmung redeten. Doch die Unterstützung des fortschrittlichen Lagers beschränkte sich auf Verlautbarungen, und Washington schlug sich auf die Seite der verbündeten Kolonialmächte, um die weltweite Expansion des Kommunismus zu stoppen.
Die andere Strömung vertrat bescheidenere Ziele und mündete in die „Organisation der Afrikanischen Einheit“. Diese Strategie basiert auf dem unveräußerlichen Recht jedes Staates auf Unabhängigkeit. Ordnungsprinzip ist die „Unverletzlichkeit der aus der Kolonialzeit stammenden Grenzen“, ihr oberster Grundsatz die Respektierung der staatlichen Souveränität und die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Diese Strategie machte sich die 1961 gegründete Monrovia-Gruppe zu Eigen, in der die Staatspräsidenten der Elfenbeinküste und dess Senegal, Félix Houphouët Boigny und Léopold Senghor, den Ton angaben.
Als 1963 die Organisation der Afrikanischen Einheit in Addis Abeba gegründet wurde, war die Spaltung in unterschiedliche Strategien sanktioniert. Das erklärt, weshalb die Bilanz der OAU – gemessen an den in Artikel 2 ihrer Charta formulierten Zielen – insgesamt negativ ausfällt. Man wollte den zwischenstaatlichen Zusammenhalt stärken und die Politik der Einzelstaaten aufeinander abstimmen, doch der Lagos-Plan von 1980 scheiterte ebenso wie die 1994 gegründete Afrikanische Wirtschaftsgemeinschaft2 . Das Ziel, die Souveränität, territoriale Integrität und Unabhängigkeit der Mitgliedstaaten zu garantieren, wurde gründlich verfehlt. Dies erweist sich heute in der Unfähigkeit, die Konflikte in Liberia, Somalia, Sierra Leone, Ruanda, Burundi und der Demokratischen Republik Kongo zu regeln.
Zudem sind die meisten Mitgliedstaaten mit ihren Beitragszahlungen im Rückstand. Bis 2001 waren die Außenstände auf 50 Millionen Dollar angewachsen, sodass sich die OAU fortwährend zu Bettelgängen und Zahlungsappellen genötigt sieht. Einen gewissen Erfolg hatte die OAU nur als Tribüne für politische Forderungen. So gelang es, die internationale Gemeinschaft für die Ausrottung des Kolonialismus und die Unterstützung der Befreiungsbewegungen zu mobilisieren, wobei die UN und die Bewegung der blockfreien Länder eine wichtige Multiplikatorrolle spielten.
Gleichung mit mehreren Unbekannten
MIT der Gründung der Afrikanischen Union im Juli 2001 hoffte man, die Unzulänglichkeiten der OAU zu überwinden. Wie in Absatz 6 der Präambel steht, wurde die AU mit dem Ziel geschaffen, Antworten auf die Globalisierung zu finden, die den Besonderheiten und dem Entwicklungsniveau Afrikas Rechnung tragen. Die Ratifizierung ging problemlos über die Bühne, war aber nur der Startschuss für ein mühsames Hindernisrennen, das der AU bevorsteht. Obwohl ihre Ziele und Organe nun schwarz auf weiß vorliegen, bleibt die Union eine Gleichung mit mehreren Unbekannten. Denn die Spaltung in Maximalisten und Minimalisten ist noch immer nicht aus der Welt; daran hat weder die Auflösung des Ost-West-Gegensatzes noch die Abdankung der „Väter der Nation“ etwas geändert. Um die Fehler der OAU nicht zu wiederholen, ist es deshalb unbedingt notwendig, Sinn und Zweck der politischen und wirtschaftlichen Union zu klären.
Die AU-Gründungsurkunde sieht die Schaffung einer Reihe von Institutionen vor, die sich in vieler Hinsicht an das Vorbild der Europäischen Union anlehnen: Unionskonferenz, Kommission, panafrikanisches Parlament, Afrikanischer Gerichtshof, Streitbeilegungsprozeduren, Wirtschafts- und Sozialrat. Über die genaueren Modalitäten ist man sich aber noch uneinig, weshalb auf dem Gründungsgipfel von Lusaka die Konstituierung dieser Organe noch aufgeschoben wurde.3 Deren Kompetenzen bedürfen der weiteren Präzisierung, denn ohne eine angemessene Strategie institutioneller Innovation wird Afrika nicht handlungsfähig werden (siehe Kasten rechts).
Unerlässlich scheint auch eine glaubwürdige Strategie der Konfliktverhütung und -bewältigung, die über den von der OAU 1993 beschlossenen „Mechanismus“ hinausgeht. Nur so ist zu gewährleisten, dass die Afrikanische Union das in ihrer Gründungsurkunde festgeschriebene Recht zur Intervention in die inneren Angelegenheiten eines Mitgliedstaats effektiv wahrnehmen kann. Voraussetzung dafür ist ein „Beschluss der Unionskonferenz“ und das Vorliegen „schwer wiegender Sachverhalte wie Kriegsverbrechen, Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Zudem räumt die Gründungsurkunde auch den einzelnen Mitgliedstaaten das Recht ein, „die Union um Intervention zu ersuchen, um Frieden und Sicherheit wiederherzustellen“.
Die AU braucht ein Konzept für Friedensstreitkräfte nach dem Prinzip: Jede nationale Armee – notfalls auch nur die der jeweiligen regionalen Führungsmacht – stellt dem Konfliktverhütungs- und -bewältigungsorgan der Region ein Truppenkontingent zur Verfügung, das für friedenserhaltende oder friedenserzwingende Einsätze ausgerüstet ist. Zudem müssen die Mitgliedstaaten die Mittel für regionale Generalstäbe stellen.4 Diese wiederum sind mit einem gesamtafrikanischen Generalstab koordiniert, der direkt der Kontrolle der Unionskonferenz untersteht. Dieses Stationierungsprinzip soll die Kosten niedrig halten. Darüber hinaus gilt es, die Kooperation mit den bestehenden subregionalen Militärinstitutionen zu regeln, also mit dem französische Recamp-Programm, dem „African Center for Security Studies“ der USA und dem „British Military Advisory and Training Team“.
Substanz wird die politische Union nur gewinnen, wenn sie auf einer soliden Wirtschaftsunion aufbaut. Die in der Gründungsurkunde vorgesehenen Finanzinstitutionen – Afrikanische Zentralbank, Afrikanischer Währungsfonds, Afrikanische Investitionsbank – werden beweisen müssen, dass sie fähig sind, einen gemeinsamen Wirtschaftsraum zu koordinieren. Würden die skizzierten institutionellen Neuerungen stringent verwirklicht, könnte die Afrikanischen Union ein integrierter regionaler Entwicklungsrahmen werden, von dem die Väter des Panafrikanismus nicht zu träumen wagten.
dt. Bodo Schulze
* Leiter des „Institut Panafricain de Géopolitique“, Universität Nancy II.