12.07.2002

Der Suezkanal wird verstaatlicht

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Der Suezkanal wird verstaatlicht

ABENDS gegen sieben senkte sich allmählich die Nacht über den gewaltigen Mohammed-Ali-Platz, auf dem die Volksmenge geduldig wartete, eingerahmt von den dichten Reihen der Polizeikräfte. Ein leichter Wind ließ alle aufatmen, die wie wir eine Woche mit dem denkbar drückendsten Wetter in Kairo überstanden hatten. Von dem Balkon, auf dem Nasser seine Rede halten sollte, konnten wir hinuntersehen auf die kaum zwanzig Meter entfernte Stelle, an der Abdel Latif, ein Mitglied der Muslimbruderschaft, im Oktober 1954 gestanden hatte, als er acht Schüsse auf Nasser, den „Agenten des anglo-amerikanischen Imperialismus“ abgab. Den schien die Erinnerung daran nicht zu quälen: Mit einem flüchtigen Lächeln ging er an uns vorbei, trat auf das Podium und nahm das Mikrofon in die Hand. Seine Rede besaß von Anfang an einen ganz eigenen Ton – er sprach wie ein Geschichtenerzähler, vertraulich, ein wenig grob. Die Menge war sofort begeistert und reagierte auf jeden kleinen Scherz. Wir hatten uns auf einen tragischen Monolog eingestellt, und nun wurden uns lustige Geschichten geboten. „Ich werde euch jetzt erzählen, wie ich mich mit den amerikanischen Diplomaten herumschlagen musste …“

Da stand er, der strenge Oberst, und gab den Alleinunterhalter, den Spaßmacher, benutzte die Sprache der einfachen Leute aus den Armenvierteln. Seine Zuhörer brüllten vor Lachen. „Ein amerikanischer Diplomat hat mal zu mir gesagt: Wenn Mr. Allen1 ihnen die Stellungnahme des US-Außenministeriums zu den Waffenlieferungen aus der Tschechoslo-wakei2 übergeben will, werden Sie ihn hinauswerfen. Und wenn er nach Hause kommt, ohne die Sache erledigt zu haben, wird ihn Foster Dulles an die Luft setzen. Der Mann ist wirklich nicht zu beneiden.“

Der Redner führt eine Kömödie auf, er spielt die Rolle des listigen Goha3 , der sich mit den Riesen aus der Fremde angelegt hat. Neben mir tuscheln die ägyptischen Journalisten miteinander, völlig überrascht von diesem neuen Stil. „Kuais aui“, höre ich sie murmeln – großartig! Dieser eher unbeholfene und publikumsscheue Mann scheint gerade zu entdecken, wie man zum Volk sprechen und die Lacher auf seiner Seite haben kann. Unten auf dem Platz, der jetzt eine dunkle Fläche geworden ist, hat sich diesmal kein wütender Enthusiasmus breit gemacht, sondern es kommt immer wieder großes Gelächter auf. Und dann ändert sich doch der Tonfall. Als er von seinen Streitigkeiten mit Eugene Black, dem Präsidenten der Weltbank erzählt, sagt Nasser plötzlich den merkwürdigen Satz: „Mr. Black erinnerte mich damals an Ferdinand de Lesseps“. Er spricht den Namen wie „di Lissips“ aus, mit einem Zischen.

Dann folgt eine bittere, zornige Tirade gegen den „Kolonialismus der Gläubigerländer“ – vorgetragen mit starker Stimme. Die Menge reagiert zunächst zurückhaltend. Offenbar erwartet sie, dass ihr nach dem Spott über die Amerikaner nun prosowjetische Positionen schmackhaft gemacht werden. Aber was soll der Verweis auf den Erbauer des Suezkanals? Nassers Rede nimmt hier eine interessante Wendung: „Was uns dieses imperialistische Unternehmen, dieser Staat im Staate vorenthält, während wir kaum genug zum Leben haben, das werden wir uns zurückholen …“ Oben auf dem Balkon wie unten auf dem Platz beginnt man zu applaudieren, erstaunt und völlig überrascht. „Und ich gebe hiermit bekannt, dass, während ich hier spreche, im ägyptischen Gesetzblatt die Verordnung zur Verstaatlichung der Suezkanal-Gesellschaft erscheint und Regierungskräfte die Geschäftsräume des Unternehmens beschlagnahmen.“ Neben uns auf dem Podium und unten im großen dunklen Rund bricht ein Begeisterungssturm los. Selbst Journalisten, die wir als skeptische Beobachter der Regierungspolitik kennen, steigen jetzt auf ihren Stuhl und schreien ihre Freude heraus. Nasser, der sich plötzlich ein Lachen nicht verkneifen kann – sein Überraschungseffekt hat perfekt gewirkt – fährt fort: „Der Kanal wird die Finanzierung des Staudamms sichern. […] Vor vier Jahren hat König Faruk von hier aus das Land verlassen, und ich nehme heute im Namen des Volkes die Kanalgesellschaft in Besitz. […] Noch heute Abend wird die Verwaltung unseres ägyptischen Kanals in den Händen von Ägyptern liegen, von Ägyptern …“ Seine letzten Worte und sein Lachen gehen unter im allgemeinen Freudentaumel, im Klatschen und Schreien. Während er vom Podium abtritt, schauen sich die wenigen Ausländer auf dem Balkon verblüfft an. Wer hatte schon einmal einen Staatsmann erlebt, der sich so heiter in ein so gefährliches Abenteuer stürzt?

Seit einer halben Stunde, laut Operationsplan genau in dem Augenblick, als im Radio Nassers Satz „Mr. Black erinnerte mich an Fedinand de Lesseps“ übertragen wurde, hatten Kommandos der ägyptischen Streitkräfte die Zentrale der Kanalgesellschaft in Kairo und ihre Niederlassungen in Ismailia, Port Said, Port Taufik und Suez besetzt. Wer hätte den Ägyptern die Umsetzung eines so präzisen Einsatzplans zugetraut? Der Geschäftsführer der Kanalgesellschaft, ein Herr Ménessier, war einer „Einladung“ des Governeurs von Ismailia gefolgt und durfte dort im Radio die Rede und ihre Wirkung erleben. Unterdessen hatte sich ganz Alexandria auf der Uferstraße versammelt und feierte. Mittendurch kurvten Lastwagen, mit Lautsprechern bestückt, aus denen unüberhörbar Nassers Rede tönte. Manche in der feiernden Menge machten sich allerdings Sorgen, weil auf der Reede der britische Kreuzer „Jamaica“ vor Anker lag, der zu einem „Höflichkeitsbesuch“ eingelaufen war. „Es war ein mutiger Schritt“, vertraute mir ein Freund aus Alexandria an, „aber nun brauchen wir Gottes Hilfe …“

Wie hoch die Wogen der Begeisterung in der Bevölkerung schlugen, konnte man zwei Tage später feststellen, als der bikbaschi, der Oberst, der plötzlich zum Nationalhelden geworden war, erneut in Kairo auftrat. Nun ließ sich der stets so finstere Gamal Abdel Nasser, der scheue Technokrat und ehemalige Offizier im Generalstab, von der ekstatischen Masse forttragen – mit rudernden Armen, wie ein Schiffbrüchiger in aufgewühlter See. Oder wie ein Boxweltmeister, der von seiner Heimatstadt empfangen wird. Und überall, in den Cafés an der Straße und in bürgerlichen Kreisen, war man sich einig: „Das hat er gut gemacht, er hat es allen gezeigt. Auf einen solchen symbolischen Akt hat die Nation seit langem gewartet, das muss man unterstützen.“

WIR haben solche Äußerungen von Mitgliedern der Wafd-Partei gehört, von Sympathisanten der Muslimbrüder, sogar von Landbesitzern, die Opfer der Bodenreform geworden waren, und von fast der gesamte Riege der Oppositionspolitiker. Bei den Kommunisten und ihrem Anhang kannte die Begeisterung keine Grenzen. Vorbehalte waren nur von den Älteren zu hören, von Menschen über fünfzig, von Leuten, die britische Zeitungen lasen und mit Erschrecken zur Kenntnis nahmen, wie heftig in London die Reaktion auf Nassers Coup ausfiel. „Was soll man machen?“ – das bekam ich damals in vielen Gesprächen zu hören. Aber Angst schienen auch sie nicht zu haben.

Im britischen Unterhaus und im französischen Parlament hatten unterdessen die Herren Eden, Lloyd, Mollet und Pineau ihren Auftritt. Sie beschimpften Nasser als einen „neuen Hitler“ „unverschämten Dieb“ und „verzweifelten Möchtegerndiktator“ und gaben ihm zu verstehen, dass er diesen Kampf nicht gewinnen könne. Aber zugleich erhielt ich damals in Kairo von Major Ali Sabri, dem engsten Mitarbeiter des Ministerpräsidenten, die folgende, erstaunlich gelassene Einschätzung: „Was soll eigentlich die ganze Aufregung? Die Suezkanal-Gesellschaft war ein ägyptisches Unternehmen, das wir jetzt verstaatlicht haben. Ist Frankreich dabei irgendein Schaden entstanden? Die Anteilseigner werden entschädigt, und zwar zu besten Konditionen. Die freie Schifffahrt auf dem Kanal garantieren wir ohne Wenn und Aber. Früher konnte es uns eigentlich egal sein, was dort geschah, es brachte ja nichts ein. Das ist jetzt anders. […] Was immer ihr euch an Sanktionen ausdenkt – einen Boykott des Kanals, das Einfrieren von Auslandskonten –, wird euch mehr kosten als uns. Und die Amerikaner werden sich nicht anschließen. […] Die Angestellten der Kanalgesellschaft? Wir haben nicht vor, sie zur Zwangsarbeit zu verurteilen. Wer kündigen will, kann gehen, mit den üblichen Fristen. Im Interesse der Klienten wollen wir natürlich vermeiden, dass alle auf einmal den Dienst quittieren und damit den Betrieb sabotieren. […]“

dt. Edgar Peinelt

Auszug aus: Simone und Jean Lacouture, „L‘Egypte en mouvement“, Paris (Le Seuil) 1956

Fußnoten: 1 George V. Allen war als Staatssekretär im State Departement zuständig für den Nahen Osten. Außenminister war John Foster Dulles. 2 In den USA löste es große Empörung aus, als Ägypten im September 1955 Waffenkäufe von der Tschechoslowakei ankündigte. 3 Goha ist der ägyptische Eulenspiegel. 4 Unter dem Druck der USA zog die Weltbank im Juli 1956 ihre Zusagen über Kredite zum Bau des Assuan-Hochdamms zurück. Die Sowjetunion finanzierte die Fertigstellung des Projekts.

Le Monde diplomatique vom 12.07.2002