Was von Nasser übrig blieb
DIE Zeiten, als der Maghreb und der Nahe Osten von den Reden des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser widerhallten, sind lange vorbei. Damals blickte die arabische Welt gebannt nach Kairo. Spätestens nach der Suezkrise schien die Führungsrolle Ägyptens gefestigt und eine große gemeinsame Zukunft möglich. Heute wird das Erbe des Nasserismus auf seine Brauchbarkeit überprüft und von Nostalgikern wie von Demokraten beansprucht. Das Regime Mubarak lässt diese Rückbesinnung in Grenzen zu, dient sie doch als Ventil für die durch den Abbau sozialer Errungenschaften ausgelöste Unzufriedenheit.
Von KAMEL LABIDI *
Als am 23. Juli 1952 König Faruk durch einen Staatsstreich der Armee abgesetzt wurde, lag die wirkliche Macht in Ägypten noch in den Händen der britischen Kolonialverwaltung. Und eine kleine Schicht verfügte über den Reichtum des Landes, der vor allem in seiner Agrarproduktion bestand. Die Putschisten hatten weit mehr im Sinn als die Abschaffung der Monarchie: Sie wollten einen radikalen sozialen Wandel für ihr Land und alle arabischen Staaten. Die Bodenreform, die Umverteilung des nationalen Reichtums, die Verstaatlichung des Suezkanals 1956 und der Bau des Assuan-Staudamms verschafften Gamal Abdel Nasser, der Führerfigur im revolutionären „Komitee der freien Offiziere“, großen Einfluss und enormes politisches Prestige. Wie die Bilanz Nassers bis zu seinem Tod am 28. September 1970 zu bewerten sei, ist in Ägypten allerdings bis heute heftig umstritten.
Der charismatische Führer hatte in der gesamten Nahostregion, die damals nach Jahrzehnten kolonialer Erniedrigung die Unabhängigkeit anstrebte, große Hoffnungen geweckt. Den positiven Leistungen – dem Aufbegehren gegen die damaligen Kolonialmächte, den Erfolgen im Kampf gegen Armut und soziale Ungleichheit – stehen die dunklen Seiten seiner Herrschaft gegenüber: Nassers innenpolitische Machtstellung, die einer Alleinherrschaft gleichkam und die gnadenlose Unterdrückung kritischer Intellektueller und jeder Form von Opposition einschloss – vor allem der politischen Linken und der Muslimbruderschaft. Die Bewertung dieser Bilanz ist in den Debatten um Nasser auch heute noch der springende Punkt.
Hoda Abdel Nasser, die älteste Tochter des einstigen Staatschefs, lehrt heute Politologie an der Universität Kairo. Sie hat mit ihrem Vater eng zusammengearbeitet und ist von seiner politischen Vision noch immer fasziniert. Seit über dreißig Jahren sichtet und bearbeitet sie historisches Quellenmaterial, das Nassers Rolle als politischer Führer in ein besseres Licht rücken könnte. Sein Nachfolger als Staaatspräsident, Anwar as-Sadat, hatte ihm wie viele andere vorgeworfen, zur Zerstörung jener politischen Hoffnungen beigetragen zu haben, die Millionen von Arabern achtzehn Jahre lang gehegt hatten. Hoda Abdel Nasser weist diese Vorwürfe zurück: „Die Behauptung, er sei ein politischer Führer gewesen, der sich von niemandem etwas sagen ließ, ist nicht gerechtfertigt. Im Gegenteil: Er konnte zuhören, und er hat sich immer wieder selbst in Frage gestellt. Er hat sogar öffentlich vor dem schädlichen Einfluss des Lobbyismus unter seinen engsten Mitarbeitern gewarnt.“
Dass Nassers Tochter niemals Einsicht in die Protokolle der Kabinettssitzungen unter dem Vorsitz ihres Vaters erhalten hat, findet sie empörend. „Ich hatte Zugang zu den Dokumenten in den staatlichen Archiven des Westens, insbesondere der USA und Großbritanniens, die sich mit den Beziehungen zu Ägypten unter Nassers Präsidentschaft befassen. Aber bis heute durfte ich keinen Blick auf die Dokumente der ägyptischen Ministerien werfen. Nach fünfzig Jahren sollte es eigentlich keine Geheimdokumente mehr geben.“
Zugänglich sind dagegen die Berichte der Zeitzeugen, der Gefährten, Gegner und Opfer Nassers, und die vom britischen Foreign Office und vom US-Außenministerium veröffentlichten Dokumente. Doch offenbar lässt sich mit Hilfe dieser Quellen nicht vollständig aufklären, wie die Revolution der Freien Offiziere zu bewerten sei und wer wofür die Verantwortung trägt – das gilt vor allem für die vernichtende militärische Niederlage, die Ägypten im Juni 1967 durch Israel zugefügt wurde, aber auch für die Installation einer berüchtigten Militärherrschaft mit polizeistaatlichen Zügen.
Obwohl sich die Haltung der Machthaber zum nasseristischen Erbe im Lauf der Jahre verändert hat und mittlerweile deutlich mehr Meinungsfreiheit herrscht, ist eine unbefangene Debatte auch heute noch nicht möglich. Immerhin hat die Regierung, nach heftigen Protesten in der Presse und aus den Reihen der Intellektuellen, einen Gesetzesvorschlag zurückgezogen, der die Veröffentlichung von Regierungsdokumenten einschränken und den Zugang zu Akten verbieten sollte, die als „geheim aus Gründen der nationalen Sicherheit“ eingestuft sind. Inzwischen wurde ein Ausschuss gebildet, der die möglichen Nachteile einer solchen Regelung prüft. „Dieses Gesetz hätte die bestehenden Beschränkungen der Pressefreiheit noch verschärft“, meint Salama Ahmed Salama, ein renommierter regierungstreuer Journalist. „Es hätte dazu geführt, dass wir eine Gesellschaft werden, die ihre Geschichte und ihr nationales Erbe nicht kennt.“1
Der fünfzigste Jahrestag des Staatsstreichs, der Ägypten tief greifend verändert und dem Land einen nie dagewesenen Einfluss in der arabischen Welt und in der internationalen Politik verschafft hat, wirft seine Schatten voraus: In Büchern und Zeitungsartikeln, ja selbst in den Programmen der privaten Fernsehsender, wird Nasser gewürdigt und sein politisches Werk gelobt. Husni Mubarak, Ägyptens amtierender Staatspräsident, hält die Islamisten für die gefährlichsten Gegner – im Gegensatz zu seinem Vorgänger Anwar as-Sadat, der am 6. Oktober 1981 durch ein islamistisches Kommandounternehmen ermordet wurde und der vor allem die Nasseristen massiv unterdrückt hatte.
In Ägypten ist der Ausnahmezustand, der nach dem Anschlag auf Sadat erklärt wurde, noch immer in Kraft. Das Regime hat diesen Rechtsstatus zum gnadenlosen Kampf gegen die „Bewaffneten Islamischen Gruppen“ genutzt, zugleich aber alle gesellschaftlichen Kräfte entmachtet und vor allem die wenigen zugelassenen politischen Parteien zu bedeutungslosen Größen reduziert.2 Immerhin gelang es der Nasseristischen Partei (NADP) auch unter diesen Bedingungen, 1990 ein Gerichtsurteil zu erwirken, das ihr erlaubte, sich in Kairo als politische Kraft zu etablieren. Doch nach internen Streitigkeiten verließen führende Leute die Partei, die in der Folge an Einfluss verlor.
Kritisch oder bedingungslos
DAS Problem mit den Nasseristen ist, dass die meisten nie gelernt haben, in Gruppenzusammenhängen zu arbeiten“, meint Mahmud Kandil, ein Menschenrechtsaktivist und parteiloser Nasserist. „Sie sind nicht fähig, Nassers Ideen weiterzuentwickeln und sein politisches Experiment distanziert und kritisch zu bewerten. Mitte der 1990er-Jahre tobte der interne Machtkampf zwischen der alten Garde und den jungen Kräften so heftig, dass am Ende sogar die treuesten Anhänger enttäuscht und entmutigt waren. Das hat die NADP sehr geschwächt.“
Mohamed Fayek, unter Nasser Informationsminister und für die Beziehungen zu den Befreiungsbewegungen zuständig, ist heute Vorsitzender der arabischen Menschenrechtsvereinigung (AOHR) in Kairo. Seiner Ansicht nach „hat die nasseristische Bewegung sehr viele Anhänger, aber es bleibt das Problem, dass politische Parteien nicht ungehindert agieren können“. Für Fayek stellte sich die Frage der freiheitlichen Grundrechte an dem Tag, als er auf Befehl von Präsident Sadat ins Gefängnis musste: „Wenn ein Minister zu zehn Jahren Haft verurteilt wird, weil er seine Differenzen mit dem Präsidenten öffentlich ausgetragen hat und zurückgetreten ist, dann muss sich das Regime wohl in einer schweren inneren Krise befinden“, meint er im Rückblick. Und er gibt zu bedenken, dass es zu Nassers Zeiten um „die Verbrechen der Kolonialherren ging und nicht um Verstöße gegen die Menschenrechte, wie wir sie heute erleben“.
Refaat al-Said, Generalsekretär der National Progressive Unionist Party (NPUP), sieht das natürlich anders. Schließlich wurde er in verschiedenen „Gefangenenlagern der Revolution“ schwer gefoltert, weil er dem neuen Regime lediglich eine „kritische Zustimmung“ entgegenbrachte, während dieses „bedingungslose Zustimmung“ forderte. „Nasser behandelte uns wie Schulkinder“, erinnert er sich. „Wir sollten zuhören und gehorchen, er allein traf die Entscheidungen. Und für Kritik, Anregungen oder Verbesserungsvorschläge war er nicht zugänglich.“ So erinnert sich der alte Politiker, der das erste Mal unter König Faruk I. im Gefängnis gesessen hatte.
„Es ist unsere Pflicht zuzugeben, dass unter Nasser schwere Verstöße gegen die Menschenrechte begangen wurden: zum Beispiel als der Märtyrer Sajed Qutb am Galgen endete3 oder im Zuge der Hetzjagd auf die Kommunisten und Islamisten“, erklärt Hamdine Sabbahi, Parlamentsabgeordneter und Chef der (nicht zugelassenen) nasseristischen Partei Karama (Würde). „Dafür müssen wir uns bei den Familien der Opfer entschuldigen.“ Sabbahi, ehemals Vorsitzender des Studentenverbands an der Universität von Kairo, hat Nasser nicht mehr persönlich erlebt, aber auch er saß schon mehrfach wegen seiner politischen Überzeugungen im Gefängnis. „Die Revolution vom 23. Juli 1952 krankte daran, dass sie nicht wirklich vom Volk getragen war und dass ihre Politik vor allem auf Machtsicherung aus war – das machte sie verwundbar und führte zu schweren Rückschlägen.“
Heute spielen die Nasseristen in vielen gesellschaftlichen Gruppierungen eine wichtige Rolle: vor allem in der ägyptischen Menschenrechtsorganisation (EOHR), in den Gewerkschaften, im ägyptischen Anwaltsverein. Und sie können auf Unterstützung durch Gleichgesinnte rechnen, die wichtige Positionen in den regierungsnahen Medien und im Kulturapparat innehaben. Sie alle können sich relativ offen äußern, solange sie die Regel einhalten, dass weder Präsident Mubarak noch die Machthaber der Bruderstaaten offen kritisiert werden dürfen.
Die politische Polizei mag noch so viel Furcht und Schrecken verbreiten – selbst für seine Gegner gilt Gamal Abdel Nasser als bedeutende geschichtliche Führungsgestalt, als Rais, der die Ärmsten wie die intellektuelle Elite begeisterte. Unmittelbar nach Nassers Tod bekannte der Schriftsteller und Theaterregisseur Taufik al-Hakim, dass er einst den „herrlichen Bildern vom Siegeszug der Revolution“ und „der Verführungskraft“ ihres Protagonisten einfach nicht widerstehen konnte.4 Auch Abul Ela Madi, ein junger Ingenieur, der an der Spitze der islamistischen Studentenbewegung gestanden hatte und heute zu den Organisatoren des Ägyptischen Forums für Dialog und Kultur gehört, sieht unleugbare „positive Aspekte der Jahre unter Nasser“, die er so beschreibt: „Die gesellschaftlichen Reformen, die Einführung einer staatlich finanzierten Schulbildung und eines kostenlosen Gesundheitssystems ließen eine neue gesellschaftliche Führungsschicht entstehen, die von ganz unten kam.“ Von den Muslimbrüdern hat sich Ela Madi schon vor Jahren abgewandt.5
Die derart gerühmten sozialen Errungenschaften werden allerdings heute im Eiltempo abgebaut – eine Folge der Privatisierungskonzepte, auf die sich Ägypten seit mehr als zehn Jahren eingelassen hat, um den strengen Auflagen seiner internationalen Kreditgeber zu genügen. Dabei scheint der Staat neuerdings angesichts der wachsenden Unruhe in der Bevölkerung allerdings vorsichtiger zu Werke zu gehen.
Von Vergünstigungen wie niedrigen Mieten bei alten Wohnungsmietverträgen und Unterstützungszahlungen für bedürftige Familien oder Studenten sei „kaum noch etwas übrig“, berichtet der Menschenrechtler Mahmud Kandil, „und die verbliebenen staatlichen Einrichtungen und Betriebe sind in einem traurigen Zustand. Sie wurden Opfer der Privatisierung und der damit verbundenen Korruption – bei der auch Gewerkschafter mit den Neureichen gemeinsame Sache machen.“
Inzwischen kommt es nicht selten vor, dass bei Demonstrationen gegen die Regierungspolitik ein Nasser-Bild gezeigt wird, wie der Politikwissenschaftler Imed Schahin von der Amerikanischen Universität in Kairo bemerkt. Dazu hört man auf den Straßen oft nasseristische Parolen wie: „Erhebe stolz dein Haupt, mein Bruder!“
Als im April und Mai die israelische Armee gegen die Palästinenser vorging, erhielt die Verklärung der Nasser-Ära neuen Auftrieb. Überall sieht man bei Demonstrationen Nasser-Porträts, und alte Lieder von Umm Kalsum, Abdel Halim Hafis und Mohamed Abdel Wahab mit ihren nationalen Tönen werden wieder populär. Sie preisen Nasser als „Vorbild für den Nationalismus“ und rufen zur arabischen Einheit und zum Widerstand gegen Kolonialismus und israelische Besatzung auf. Überall hört man die Verszeilen von Abdel Wahab: „O Bruder, die Ungerechten sind zu weit gegangen. Nun sind Dschihad und Opfer eine Pflicht.“
Dazu meint Mahmud Abdel Fadil, ehemaliger Dekan des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften an der Universität Kairo: „Dass sich die Bevölkerung so stark für die Solidarität mit der Intifada engagiert, ist eine späte Wirkung der Julirevolution.“ Nasser sei es gelungen, „die Isolationisten kaltzustellen, die darauf beharrten, Ägypten müsse sich vor allem auf seine Wurzeln in der pharaonischen und mediterranen Kultur besinnen“. Abdel Fadil hält es für eine der wichtigsten Leistungen der Revolution vom 23. Juli 1952, bei den Eliten wie in allen anderen sozialen Schichten das Gefühl verankert zu haben, ihr Land sei unablösbarer Bestandteil der großen arabischen Nation und „wirtschaftliche Entwicklung und wirksames politisches Handeln nur innerhalb dieses Rahmens denkbar“.
Bei der Umsetzung der von Sadat eingeleiteten und von Mubarak forcierten Politik der infitah, der wirtschaftlichen Liberalisierung, dürfe man nicht vergessen, dass es in Ägypten „starke soziale Kräfte und einflussreiche Führungscliquen“ gebe, die nach wie vor „die Idee einer unabhängigen wirtschaftlichen Entwicklung verfolgen, wie sie Nasser vertrat“. Wie verbreitet nationalistische Gefühle sind, zeigt die Kampagne zum Boykott israelischer und US-amerikanischer Produkte, die von einem „Komitee zur Unterstützung der Intifada des palästinensischen Volkes“ getragen wird – mit Unterstützung verschiedener Berufsverbände und sozialer Vereinigungen.
Diese Stimmung findet sogar in der regierungstreuen Presse ihren Ausdruck. Aus verschiedenen politischen und intellektuellen Lagern kommt massive Kritik an der wachsenden wirtschaftlichen und militärischen Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten. Die habe vor allem zur Folge, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet und dass es vorbei ist mit der sozialen Mobilität – einer wichtigen Errungenschaft der Revolution von 1952.
„Man darf sich nicht wundern“, erläutert Abdel Fadil, „wenn Menschen, denen irgendwann die Bedeutung von sozialer Gerechtigkeit und Menschenwürde aufgegangen ist, sich nun gegen jeden Versuch wenden, die erworbenen Rechte wieder abzubauen. Und so verklären sie die alten Zeiten und vergessen dabei oft, welch unkontrollierte persönliche Macht Nasser besaß und wie er die demokratischen Prinzipien missachtete.“
In dieser Hinsicht haben sich die gegenwärtigen Machthaber allerdings als „Nassers Musterschüler“ erwiesen, meint der Historiker Scherif Junes von der Universität Heluan. Sie denken nicht daran, dem Widerstand von unten eine Chance zu geben und sich auf eine echte Demokratisierung der Verfassungsorgane einzulassen. In diesen Institutionen haben nach wie vor Männer das Sagen, die ihr politisches Handwerk noch zu Nassers Zeiten erlernt haben – in der Einheitspartei Arabische Sozialistische Union (ASU). „Selbst die Gewerkschaften stehen immer noch im Schatten der Machthaber“, meint Scherif Junes. „Genau wie zu Nassers Zeiten.“
Mit Hilfe des im Ausnahmezustand geltenden Notstandsrechts (eine weitere Hinterlassenschaft der Ära Nasser) kann das Regime zwar seine Kritiker in der Öffentlichkeit zum Schweigen bringen, doch die Entwicklung bestimmter politischer Strömungen im Untergrund ließ sich damit nicht verhindern. So waren etwa die ägyptischen Islamisten aller Richtungen – obwohl bis auf eine kurze Zeitspanne unter Sadat stets verboten und verfolgt – zur wichtigsten Oppositionskraft im Land geworden; sie sind weit stärker als die Nasseristen, die inzwischen immer häufiger versuchen, in ihrer Propaganda religiöse Töne anzuschlagen.„Der Staat gesteht den Islamisten kein Existenzrecht zu“, meint der Journalist Mohamed Sid Ahmed. „Nicht einmal ihre ganz gemäßigten Fraktionen, wie die al-Wasat-Partei, sind anerkannt. Das ist taktisch ungeschickt und letztlich dumm.“
Dass man den Studenten nach 1952 keine Gelegenheit gab, Freiheit und Demokratie zu erproben und zu erlernen, hat sich als ein schwerer Fehler erwiesen, der das Land teuer zu stehen kam. Der Rechtswissenschaftler Mohamed Nur Farhat, ehemaliger UN-Berater in Menschenrechtsfragen, ist überzeugt, dass durch dieses politische Vakuum die „Studentenschaft zur leichten Beute für Extremisten wurde, die sich für ihre Zwecke der Religion bedienten“. In den nachrevolutionären politischen Organisationen habe sich „Heuchelei und Opportunismus“ breit gemacht, sie seien zum „Sprungbrett für junge Opportunisten“ geworden. Daran krankt nach seiner Ansicht auch die heute regierende Nationaldemokratische Partei (NDP) von Präsident Mubarak.
In jüngster Zeit hat die Regierungspartei schwere innere Krisen durchlebt. Hinzu kamen eine Reihe von Korruptionsskandalen, in die Parlamentarier und Unternehmer verwickelt waren, die der Partei angehören. Aber an der Spitze der NDP stehen immer noch die machterprobten alten Kämpen. Im September soll der nächste Parteitag stattfinden, und man fragt sich, ob es eine Verjüngungskur geben wird. Als Kandidat für den Posten des Generalsekretärs, den derzeit Landwirtschaftsminister Jusef Wali innehat, gilt Gamal Mubarak. Der junge Geschäftsmann ist der Sohn des Staatspräsidenten.
Aber nicht allein der Mangel an Demokratie hat die Probleme geschaffen, an denen der Traum von Entwicklung, Unabhängigkeit und arabischer Einheit letzten Endes gescheitert ist. Eine entscheidende Rolle spielte auch die Militärführung, die auf der politischen Bühne stets überrepräsentiert war und ist. „Es wäre wichtig, hier ein Gleichgewicht zu finden“, meint Abdel Fadil, „ein gesundes Verhältnis von Armee und Zivilgesellschaft.“ Dass die Presse und die Intellektuellen derzeit kein Blatt vor den Mund nehmen müssen und auch im Parlament, das fest in der Hand der Regierungspartei ist, ein offener Ton herrscht, dürfte für das Regime die Funktion eines Überdruckventils haben. So können die Machthaber auf gelegentliche Beschwerden der legalen Opposition, sie fühle sich „wie in einem Käfig“, mit dem Hinweis antworten, dass Ägypten weit mehr Freiräume biete als andere „Bruderländer“.
Aber die Medien und namentlich der staatliche Sender „Stimme der Araber“ haben längst nicht den Einfluss auf die Meinung der Straße und auf die „Bruderländer“ wie zu Nassers Zeiten. Fasziniert sind die Ägypter heute vor allem vom Programm des Fernsehsenders al-Dschasira. Dass in den Studios von Katar Themen, die in Kairo noch immer tabu sind, völlig offen diskutiert werden, hat die Regierung veranlasst, die Grenzen des Erlaubten in den Medien zu erweitern und Persönlichkeiten zu Wort kommen zu lassen, die bis vor kurzem unerwünscht waren. Das gilt für unabhängige Islamisten wie Montaser Esajat, Selim al-Aua und Abul Ela Madi oder für den Chef der Nasseristenpartei Dia Eddin Daud und sogar für Hafes Abu Seada, den Generalsekretär der ägyptischen Menschenrechtsorganisation.
Die Führung beginnt zu begreifen, dass Zugeständnisse im Bereich der bürgerlichen Freiheiten der Preis sind, den sie für die Zustimmung zu ihrem heiklen politischen Kurs in Wirtschaft und Gesellschaft zahlen muss – als Ersatz für wirklich demokratische Optionen. Fünfzig Jahre nach dem Staatsstreich vom Juli 1952 triumphiert die liberale westliche Ideologie über Nassers Revolution, die dem Westen letztlich erfolglos entgegentrat und dessen regionale Alliierte schwächen wollte. Bislang zeigt sich in Ägypten aber kaum mehr als eine vorsichtige Öffnung. Weil das Regime es schwer hat, die Massen hinter sich zu bringen, muss es Unmutsäußerungen zulassen: Die bitteren Klagen der Millionen, die Opfer einer rasch fortschreitenden sozialen Ungleichheit geworden sind, und die Enttäuschung der Eliten, die lange Zeit verwehrte Rechte einfordern – für Ägypten, aber auch für Palästina.
dt. Edgar Peinelt
* Journalist, Kairo.