12.07.2002

Wo sind die Kinder der Immigration?

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Wo sind die Kinder der Immigration?

WENN in Frankreich über innere Sicherheit diskutiert wird, wie aus Anlass der letzten Präsidentschaftswahlen, geht es explizit oder implizit vor allem um die Einwanderer und die Bewohner der Trabantenstädte. Die Banlieues gelten als Sicherheitsrisiko und Unruheherde ersten Ranges. Die Wahlbeteiligung in diesen Bezirken ist extrem niedrig. Für Franzosen maghrebinischer Herkunft ist die Teilhabe an der politischen und gesellschaftlichen Macht, in welcher Form auch immer, noch lange keine Selbstverständlichkeit. Im Parlament wie in den Medien ist diese sowohl ethnisch als auch sozial definierte Gruppe stark unterrepräsentiert.

Von RABAH AÏT-HAMADOUCHE *

La Grande Borne: Die lange Mauer erstreckt sich so weit das Auge reicht. Die großräumig angelegte Siedlung bei Grigny (Essonne), 30 Kilometer südlich von Paris, liegt eingezwängt zwischen der Autobahn A 6 und der Nationalstraße 445. Aus der Vogelperspektive sieht die Siedlung fast wie ein poetischer Irrgarten aus: ein harmonisches Labyrinth aus kleinen Wohnblocks, Plätzen, Grünflächen und riesigen Skulpturen. Im Verständnis ihres Architekten Emile Aillaud war diese städtebauliche Utopie der Sechzigerjahre vor allem auf Kinder zugeschnitten. Am Boden angekommen, ist die hässliche Wirklichkeit unübersehbar: balkonlose alte Gebäude in Reih und Glied ausgerichtet, hier und da ein Stückchen Rasen in grauer Betonwüste, überall die gleichen Anzeichen des Verfalls.

Die berüchtigte Anlage des sozialen Wohnungsbaus, eine Stadt in der Stadt, wartet mit beeindruckenden Zahlen auf, die sich zu einer explosiven Statistik addieren: 90 Hektar, 3 600 Wohneinheiten, 15 000 Einwohner, 52 registrierte Nationalitäten. Ein Viertel der Bevölkerung ist arbeitslos; jeder zweite Bewohner ist jünger als 25 Jahre und jeder vierte ausländischer Herkunft; mehrere hundert Mieter sind von Zwangsräumung bedroht.

Als Epizentrum des sozialen Elends schleppt die „Angst einflößende Stadt“1 ihren schlechten Ruf wie eine schändliche Krankheit hinter sich her. Arbeitslosigkeit, Ungewissheit, das Gefühl von Unsicherheit und Ausgrenzung sind für die Einwohner das tägliche Brot. Hier hat sich eine Parallelgesellschaft2 etabliert, die eigenen Verhaltensregeln, Riten und Gesetzen folgt. Man muss die Regeln kennen, um in Frieden leben zu können. La Grande-Borne ist nicht das Frankreich von ganz unten; eher ein Frankreich, das neben dem offiziellen existiert, eine separate Gruppe innerhalb der nationalen Gemeinschaft, die auf Abstand gehalten wird.

Ein Schild auf der Place du Damier, über die man die Siedlung erreicht, stimmt den Besucher ein: „Vorsicht, Autofahrer! In dieser Zone leben fast 8 000 Kinder.“ Am frühen Abend kann man sie beim Spielen beobachten. Drei Familien – Asiaten, Araber und Europäer – haben die Bänke rund um den Spielplatz belegt. Jede Familie bleibt für sich, stumm wie die Ölgötzen sitzen sich die Leute gegenüber. Es herrscht Misstrauen – ein Zeichen fortgeschrittenen sozialen Zerfalls. Die rapide Ghettoisierung der Stadt, der die französischstämmigen Franzosen scharenweise den Rücken gekehrt haben, hat das Gefühl des Ausgestoßenseins massiv verstärkt. Die zahlreichen Immigranten – manche sind schon sehr lange in Frankreich, mehrheitlich sind sie afromaghrebinischer Herkunft – bekommen besonders stark zu spüren, was es heißt, in ein mentales wie auch räumliches Ghetto gesperrt zu sein.

Zu den unsicheren Lebensverhältnissen kommt die „symbolische Gewalt“ des alltäglichen Rassismus. „Viele der weißen Kinder der Siedlung fühlen sich wie im Belagerungszustand. Sie leben hinter ihren geschlossen Fensterläden, solche Angst haben sie vor uns“, sagt Abdel, ein junger Vater tunesischer Herkunft. „Seit dem 11. September ist es noch schlimmer geworden. Der Araber, der schon immer als Dieb verdächtig war, gilt jetzt als Terrorist.“ Dennoch ist Solidarität zwischen Familien, die sich seit Jahren kennen, durchaus noch kein Fremdwort: Von Zwangsräumung bedrohte Mieter und Familienmütter haben sich zu Interessengemeinschaften zusammengeschlossen, Nähklubs und zahlreiche andere Orte der Geselligkeit wurden gegründet. Doch für viele, ob Franzosen oder Immigranten, ist La Grande-Borne eine soziale Endstation und verkörpert einen Status des Elends,3 dem sie nie mehr entrinnen können.

In der ersten Runde der letzten französischen Präsidentschaftswahl erwies sich die extreme Rechte mit 14,6 Prozent der abgegebenen Stimmen als zweitstärkste Kraft, vor Jacques Chirac (12,5 Prozent), aber weit hinter Lionel Jospin (25 Prozent). Beim zweiten Wahlgang stimmte die Siedlung massiv für Chirac (86 Prozent) und gegen Le Pen (14 Prozent). Die Wahlbeteiligung stieg von 30 auf immerhin 44 Prozent.

Le-Pen-Wähler ausfindig zu machen erweist sich als ein Ding der Unmöglichkeit. Mangels Beweisen haben einige Zeitungen das Gerücht in die Welt gesetzt, die Beurs hätten für den Chef des Front National votiert. Vincent Geisser, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Forschungsinstitut für Fragen der arabischen und muslimischen Welt (Iremam), weist diese Behauptung als völlig unbelegbares Hirngespinst zurück,4 das auf der gängigen Islamfeindlichkeit beruhe und diese durch den Versuch einer Schuldzuweisung noch verstärke: „Alle Untersuchungen zeigen, dass viele Franzosen muslimischer Herkunft die extreme Rechte ablehnen. Der Front National hat sie ausdrücklich im Visier, leugnet ihre Geschichte als Migranten und repräsentiert letztlich die Erben der einst französischen Kolonie Algerien. Festzustellen ist hingegen eine marginale strukturelle Bereitschaft zur Wahl von Le Pen, die, genau wie bei den jüdischen Le-Pen-Stimmen, aus den aktuellen Animositäten zwischen zwei Gemeinschaften entspringt. Jeder gibt Le Pen seine Stimme, um den anderen zu treffen.“

Es bestätigt sich indes, dass die Wählerschaft der so genannten Schlafstädte, die einen überproportionalen Anteil von Immigranten aufweisen, immer empfänglicher für Themen der Sicherheit wird. Und dies aus gutem Grund: Die neu zugewanderten Familien werden im Allgemeinen am häufigsten zu Opfern der „Randale“, die von demolierten Briefkästen über verwüstete Treppenhäuser bis zu mutwillig zerstörten Autos reicht. Das institutionalisierte Abfackeln von Fahrzeugen an besonderen Tagen – zum Beispiel dem 14. Juli oder dem 25. Dezember – hinterlässt ein Klima hilfloser Wut.

Kader, arbeitsloser Familienvater algerisch-marokkanischer Herkunft, meint dazu: „Die Unsicherheit ist wie ein unsichtbarer, aber allgegenwärtiger Druck, der dazu führt, dass die Situation irgendwann explodiert, einfach so, ohne ein Wort. Die Leute hier können ihr Unbehagen nicht artikulieren und drücken es durch Gewalt aus. Aber die Unsicherheit, das ist auch ein Elend, deren Opfer die Kinder sind, die etwa in offene Aufzugschächte fallen.“

Die Bewohner der Siedlung haben der kriminellen Minderheit, die ihnen den Alltag zur Hölle macht, längst die Solidarität aufgekündigt. Ihrem Überdruss entspringen neue, radikale Töne, weil sie ihre Komplexe überwinden wollen. Manche machen sich die von Le Pen benutzten Stereotype zu eigen, indem sie ihre soziale Stigmatisierung verinnerlichen.5 Ohne die repressive Stimmung gutheißen zu wollen, äußern sogar die „großen Brüder“ – die Dreißigjährigen – ihre Besorgnis über die heranwachsende Generation, die weder Regulative noch Respekt vor dem anderen mehr kennt und zudem von Geld und Macht fasziniert ist. „Auch wenn die Unsicherheit nachgelassen hat, seit die Bullen nicht mehr so sehr provozieren, wir haben die Schnauze voll“, wettert einer von ihnen. „Ich möchte nicht erleben, dass man mir mein Auto stiehlt oder anzündet. Aber die Rechten an der Macht – da wird einem auch angst und bange. Wenn sie Gummigeschosse einsetzen,6 kann das böse enden.“ Im Sommer soll in unmittelbarer Nähe eine Polizeistation eröffnet werden.

Azzedine, ein 27-jähriger Franzose algerischer Herkunft, und der 24-jährige, aus Tunesien stammende Safouan, tragen dunkle Kleidung und verspiegelte Sonnenbrillen: die perfekte Uniform für wilde Jungs, vor denen die kleinen Leute Angst haben. In der Rue du Minotaure halten sie eine baufällige, nach Urin stinkende Halle besetzt. Die beiden Aussteiger, die schon sehr früh durch die Maschen des Schul-systems7 gefallen sind, haben schon immer hier gewohnt. Politik? Nein danke. „Warum sollten wir wählen? Ob Le Pen oder Chirac, das ändert nichts an unserem Leben. Die Politiker wollen nicht wahrhaben, dass wir in einem Ghetto leben. Sie wollen nicht kapieren, dass unsere Gewalt aus dieser Situation entsteht, die nichts ist als ein reiner Überlebenskampf. Ein einziges Mal haben sie uns als Franzosen anerkannt, das war in Verdun, wo wir uns in der ersten Reihe haben niedermetzeln lassen. Frankreich passt die Immigration nicht, das kriegen wir jeden Tag zu spüren. So wie nun mal die Dinge liegen, heißt es einfach: jeder für sich.“

Said, ein Franzose algerischer Herkunft, der seit fünf Jahren als Erzieher in der Siedlung arbeitet, macht die Sache zu einer Frage der Ehre: „Ich gehe so lange nicht wählen, wie meine Eltern, die eingewandert sind, aber seit immerhin dreißig Jahren hier leben und Steuern zahlen wie alle anderen, bei den Kommunalwahlen nicht wählen dürfen. Dabei hat Frankreich ihnen das Leben versaut. Man interessiert sich nicht für uns. Nie ist jemand hergekommen, weder vor der Wahl noch zwischen den beiden Wahlgängen, obwohl wir doch das Hauptziel der Le-Pen-Ideologie sind. Uns kommt man immer nur mit ‚Mund halten‘ für die Eltern und ‚Quatscht nur immerzu‘ für die Kinder.“

Nach Einschätzung der Immigranten- und Vorstadtbewegung (MIB) gehen die meisten der eingewanderten Franzosen, die im Umkreis der Großstädte leben, nicht zur Wahl – die meisten stehen angeblich nicht einmal auf den Wahllisten. Wie die Nichtimmigranten aus ähnlichen sozialen Schichten haben sie eine starke Abneigung gegen die institutionelle Politik.

In diesem Zusammenhang hatte das kollektive Trauma vom ersten Wahlgang am 21. April eine kathartische Wirkung. Robert, der als Gruppenbetreuer im Sportzentrum arbeitet, erinnert sich, wie manche jungen Beurs es mit der Angst bekamen: „Die Ausweisung hing wie ein Damoklesschwert über ihnen, sie waren total in Panik.“

Jibril ist 21 Jahre alt und senegalesischer Herkunft. Er beschreibt sein „bürgerliches Erwachen“ so: „Niemand hat geglaubt, dass Le Pen gewinnen würde, und trotzdem sind alle meine Freunde früh aufgestanden, um Chirac zu wählen.“ Auch der kaufmännische Angestellte Mansour, 24 Jahre alt und algerischer Abstammung, wird diese Wahlen nie vergessen. „Am 5. Mai hat mich meine Mutter morgens geweckt, damit ich wählen gehe, obwohl wir vorher nie über Politik gesprochen haben.“

Die französischen Immigranten, zumal die maghrebinischer Herkunft, wollen es auf gar keinen Fall länger hinnehmen, dass andere in ihrem Namen sprechen. In einer Zeit, da der Rassismus offenbar entschuldbar wird, finden sie es unerträglich, wenn man ihnen das Wort nimmt, verstärkt dies doch nur ihr Gefühl, illegitime Bürger zu sein. So bildet sich langsam ein Bewusstsein heraus, kommt ein gemeinsames Nachdenken über die Zukunft zustande.

Recht auf Gleichgültigkeit

EIN leichtes Beben war schon seit mehreren Jahren zu spüren, aber der 21. April hat einen neuen Impuls gesetzt. Franzosen per Immigration sehen sich nicht mehr im Nirgendwo zwischen den Küsten des Mittelmeers, sondern in Frankreich“, sagt Farhad Khosrokhavar, Studienleiter an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS).

Dieser neue Elan hat sich in den letzten Monaten auch am israelisch-palästinensischen Konflikt entzündet. An der zweiten Intifada hat sich die Politisierung ebenso kristallisiert wie am Anliegen der Verteidigung des irakischen Volkes. Die Franzosen maghrebinischer Herkunft fühlen sich von diesem Kampf unmittelbar betroffen: Für sie geht es um die „gute Sache“, die das negative Bild, das sie belastet, kompensieren kann. „Das sind meine muslimischen Brüder“, sagt Ali, glühender Muslim von 27 Jahren, der wie viele seiner Glaubensgenossen für den Kommunisten Olivier Besancenot gestimmt hat. Die Begründung: „Jospin ist Zionist.“

Auf der Identität stiftenden Grundlage des Islam, der in La Grande-Borne fest verankert ist, haben die Ereignisse im Nahen Osten eine breite Mobilisierung bewirkt. Einige der Jüngeren setzen zwar Israelis und Juden gleich und lassen judenfeindliche Ressentiments erkennen, doch daraus kann man weder auf breiten Antisemitismus noch auf eine Tendenz zum Kommunitarismus schließen. Der Soziologe Azouz Begag nimmt an, dass die Mehrheit der Neubürger nichts anderes will als „das Recht auf Gleichgültigkeit“.

„Auch wenn sich viele einem förmlichen Islam zuwenden, wäre es falsch, von einer Kehrtwendung zu sprechen, die in die geschlossene Gemeinschaft zurückführt. Die meisten der Maghrebiner Frankreichs sind für die Integration. Beweis dafür ist auch der hohe Prozentsatz von Mischehen8 in dieser Gruppe.“

Die Kritik richtet sich gegen die Linke, und vor allem gegen sie richtet sich auch diese neue Radikalität; ihr wirft man vor, als Regierungspartei die „Kinder der Immigration“ instrumentalisiert und die Ausgrenzung, die Segregation und die Gewalt nicht deutlich beim Namen genannt zu haben.

Es bedeutet den Abschied von einer sozialistischen Partei, die sich in Fragen des Wahlrechts für Immigranten, des Status der Illegalen (sans-papiers) und der doppelten Bestrafung als zu kleinmütig erwiesen hat.

Eine psychologische Grenze wurde überschritten. Das Wahlverhalten der Bürger per Immigration beginnt sich zu normalisieren. Das ist als Zeichen der Integration zu werten. Abdelkader Belbahri, Soziologe und Forscher an der Universität von St. Etienne, unterstreicht: „Dass ein großer Teil der traditionellen Linkswähler für Chirac gestimmt hat, hat in den Augen vieler Franzosen per Immigration das Tabu gebrochen, niemals rechts zu wählen. Zumal sie der Sozialistischen Partei vorwerfen, israelfreundliche Positionen zu vertreten und zudem die Vorstädte mit ihren Problemen verrotten zu lassen, während sie dauernd das Schreckgespenst der Unsicherheit beschwörten. Letztlich wirft man der Linken vor, den Einwanderern der zweiten Generation auf der Ebene der Politik keine Möglichkeit der Integration eröffnet zu haben. Chirac hat das sehr wohl verstanden und Tokia Saifi in seine Regierungsmannschaft geholt.“

Grigny ist schon seit 1945 eine kommunistische Hochburg und Gegenstand der Rivalitäten zwischen Sozialisten und Kommunisten. Auch hier werden kritische Stimmen laut, obwohl fünf Vertreter maghrebinischer Herkunft im Stadtrat sitzen. Zu ihnen gehört auch die arbeitslose Basma Ben Said, 27 Jahre alt und Stadträtin seit 1995. Sie kritisiert die Wahltaktik des Bürgermeisters mit harschen Worten: „Die vom Bürgermeisteramt haben mich geholt, um die Stimmen der Araber in der Stadt zu kriegen, nur weil man mich kennt. Bei den letzten Kommunalwahlen haben sie mir eine Stelle als stellvertretende Bürgermeisterin versprochen, um mich bei der Stange zu halten. Aber nach den Wahlen haben sie mich sofort beiseite gedrängt, wegen meiner Herkunft, die in ihren Augen die Einwohner von Grigny abschreckt. Und was noch schlimmer ist: Die maghrebinischen Stadträte wurden auf die Hinterbänke verwiesen und haben überhaut keinen richtigen Einfluss. Deswegen denke ich, ich gehe besser zur Rechten.“

In der Stadt organisieren sich mehrere Stadtteilbewegungen nach dem Toulouser Modell der „Motivierten“. „Sie haben uns einreden wollen, als Immigranten müssten wir automatisch Sozialisten oder Kommunisten wählen, aber jetzt ist Schluss mit dieser Jammerhaltung. Die typische Beur-Haltung, wie sie im Fernsehen verbreitet wird, hat sich erledigt. Wir lassen nicht mehr alles mit uns machen, je nachdem woher der Wind weht“, erklärt Mohamed Ourzik bitter. Die informelle Protestbewegung, die er ins Leben gerufen hat, hat immerhin dazu geführt, dass sich über 400 Personen in die Wählerlisten eingetragen haben. „Bei uns gibt es keinen Unterschied der Herkunft, aber wir sind – entsprechend der gesellschaftlichen Zusammensetzung der Stadt – in der Mehrheit maghrebinischer Herkunft. Wir fordern volle Staatsbürgerschaft, um aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Es ist eine Bewegung zur intellektuellen Befreiung. Wir haben Vorschläge zu machen – zum Thema Bildung, zum Thema Sicherheit, zum Thema Diskriminierung und zu anderen aktuellen Fragen.“

Mohamed Moustamid, ein marokkanischer Tanzlehrer, bestätigt diese veränderte Geisteshaltung: „Um anerkannt zu werden, brauchen wir politische Repräsentation. Ich habe für mich beschlossen, zusammen mit anderen jungen ‚Motivierten‘ bei den nächsten Kommunalwahlen etwas auf die Beine zu stellen. Um uns Gehör zu verschaffen, brauchen wir die Nähe zum Bürgermeister.“

Mit solcher emanzipatorischen Logik ist der Verein „France et liens“ bei den jüngsten Parlamentswahlen in Grigny mit der Liste „Black, blanc, beur“ (Schwarz, weiß, maghrebinisch) gegen Julien Dray angetreten, dessen Glaubwürdigkeit aufgrund seiner Haltung zum Thema innere Sicherheit sehr gelitten hatte. „Man fühlt sich verraten, wir fühlen uns da nicht mehr vertreten“, erklärt der Spitzenkandidat der Wahlliste, der 26-jährige Student Farid Diab, „wir wollen als unübersehbare politische Kraft im Wahlkreis präsent und aktiv sein, und zwar auf Dauer. Aber damit das klar ist: Wir sind keine Kommunitaristen, wir treten vielmehr für ein gemeinsames Handeln der verschiedenen Kulturen und Generationen ein.“

Knapp zwanzig Jahre nach dem berühmten „Marsch der Beurs“ von Marseille nach Paris (1983), bei dem die Kinder der maghrebinischen Immigranten erstmals lautstark das Ende der Diskriminierung forderten, findet heute eine neue Generation von Franzosen zum Bewusstsein ihrer politischen Kraft. Wird dieser Wunsch nach staatsbürgerlicher Betätigung von Dauer sein? „Es ist ein Anfang“, meint Djelloul Attig, Lehrer und Stadtrat. „Ich habe den Eindruck, dass man beginnt, unsere Stimme als positiven Beitrag wahrzunehmen.“

dt. Grete Osterwald

* Journalist

Fußnoten: 1 Caroline Mangez, „La cité qui fait peur“, Paris (Albin Michel) 1999. 2 Amar Henni und Gilles Marinet, „La cité hors-la-loi“, Paris (Ramsay) 2002. 3 Pierre Bourdieu, „Das Elend der Welt“, Konstanz (UVK Univerlag) 1998. 4 Das 1905 erlassene Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat untersagte es, die ethnische oder religiöse Zugehörigkeit in der Statistik festzuhalten. 5 Siehe Norbert Elias und John L. Scotson, „Etablierte und Außenseiter“, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1993. 6 Am 16. Mai 2001 autorisierte der Innenminister den Einsatz von „Flashballs“ für die örtliche Polizei. Es handelt sich dabei um kleine Pistolen mit Kautschukmunition, die tödliche Wirkung haben können. 7 Stéphane Beaud und Michel Pialoux, „La troisième génération ouvrière“, Le Monde diplomatique, Juni 2002. 8 30 000 Ehen wurden 1999 zwischen Franzosen und Einwanderern geschlossen. Das sind 10 Prozent aller Ehen gegenüber 5 Prozent vor zwanzig Jahren. Die Zahl der gemischten Ehen zwischen Franzosen unterschiedlicher Abstammung ist nicht erfasst (Quelle: INED).

Le Monde diplomatique vom 12.07.2002, von RABAH AÏT-HAMADOUCHE