Einwandern, auswandern
PORTUGAL hat sich zu einem Rangierbahnhof der Migration entwickelt. Fremde kommen, Einheimische gehen. Früher waren es die Bewohner der ehemaligen Kolonien, die in Portugal zu lächerlich niedrigen Löhnen Arbeit fanden. Heute kommen die billigen Arbeitskräfte aus Osteuropa, etwa aus der Ukraine. Viele von ihnen sind hoch qualifiziert, finden aber nur illegale Arbeit. Zugleich arbeiten immer noch vier Millionen Portugiesen in den reicheren EU-Ländern, wo sie weit mehr Geld verdienen als zu Hause. Doch hier sind sie die Ukrainer, denn ihre Löhne liegen deutlich unter denen ihrer einheimischen Kollegen.
Von HERVÉ DIEUX *
Sie machen einen verlorenen Eindruck und würden sich am liebsten unsichtbar machen, doch die zerknitterten Plastiktüten der großen Billigeinkaufsmärkte, die sie immer mit sich herumschleppen, verraten die Existenz, die sie führen: Wir sind Arbeitsemigranten.
Ihre diskrete Anwesenheit verraten auch noch andere Dinge. Zum Beispiel die russischsprachigen Blättchen, die in den Kiosken von Cais do Sodré unweit des Tejo aufgetaucht sind, oder Werbeplakate in kyrillischer Schrift. Und eine Bank weiß und sagt es in aller Deutlichkeit: „Den Deinen nahe sein – die Überweisung macht‘s“.
Die nächtlichen Gestalten auf dem Rossio, dem berühmten Platz in Lissabon, Szene aller politischen Unruhen und Umwälzungen, kommen längst nicht mehr nur aus den ehemaligen, nach der Nelkenrevolution unabhängig gewordenen afrikanischen Kolonien. Heute sind sie auch aus Rumänien und Moldawien, aus Russland und der Ukraine. Auf der Suche nach einem besseren Leben haben sie ganz Europa durchwandert und immer nur Ausbeutung und Angst gefunden.
„Die Ukrainer stellen, nach den Kapverdiern und Brasilianern, die drittgrößte Ausländergruppe im Land, sie kommen noch vor den Guineern und Angolanern“, sagt Tatjana Komlischenko Gomes, die in einem Lissaboner Personalunternehmen damit beschäftigt ist, ihre Landsleute in der Industrie und vor allem in der Baubranche unterzubringen. Dabei ist es besonders auffallend, dass die Zuwanderer – und besonders die Ukrainer – in der Regel einen hohen Bildungsstand und eine gute Ausbildung haben. Zum Beispiel ein ukrainisches Ehepaar: beide sind Ärzte, doch die Frau arbeitet in einer Kunststofffabrik, der Mann als einfacher Arbeiter auf dem Bau.
„Portugal ist ein Rangierbahnhof der Migration und insofern repräsentativ, als es das Modell einer Entwicklung ist, die auf intensiver Ausnutzung menschlicher Arbeitskraft beruht. Für Europa eine einmalige Situation: Wir haben nämlich eine beträchtliche Abwanderung und gleichzeitig eine massive Zuwanderung“, erklärt Carlos Trindade, ein Funktionär der größten portugiesischen Gewerkschaft CGTP-IN. Tatsächlich haben sich die großen Auswanderungswellen – die dazu führten, dass sich während der langen Agonie des Salazar-Regimes ganze Regionen entvölkerten – zu Anfang der Neunzigerjahre offenbar leicht abgeflacht. Dennoch leben immer noch vier Millionen Portugiesen im Ausland,1 das entspricht 80 Prozent der im Lande lebenden aktiven Bevölkerung, die nach der letzten Volkszählung vom Frühjahr 2001 gerade die Zehn-Millionen-Grenze überschritten hat.
Dennoch, eine Trendwende ist erkennbar. Seit 1993 ist die Migrationsbilanz positiv, zumal jetzt, da die osteuropäischen Einwanderer dabei sind, den traditionellen Zustrom von Arbeitskräften aus dem portugiesischsprachigen Ausland zahlenmäßig zu übertreffen. Das Lohnniveau lockt die einen her und treibt die anderen fort. Zehntausende von unterqualifizierten Portugiesen versuchen alljährlich ihr Glück in Deutschland, der Schweiz, Frankreich und sogar im Baskenland. Verwunderlich ist das nicht: Der Durchschnittslohn in Deutschland beträgt glatt das Dreifache dessen, was in Portugal zu verdienen ist (2 250 gegenüber 648 Euro). Und der gesetzlich vorgeschriebene Mindestlohn liegt in Portugal – wo Verbraucherpreise und Mieten mittlerweile auf europäisches Durchschnittsniveau geklettert sind – noch bei 339 Euro, das heißt bei etwa der Hälfte des in Griechenland garantierten Mindestlohns von 616 Euro.
„Formaljuristisch gilt ein Portugiese, der in einem anderen EU-Staat arbeitet, nicht mehr als Arbeitsemigrant, aber diese Sichtweise ist eigentlich nicht haltbar: denn er wird nach wie vor nach Strich und Faden ausgebeutet. Die Arbeitgeber nutzen die niedrige Arbeitslosenquote aus und haben inzwischen einen Austauschprozess auf dem Arbeitsmarkt in Gang gesetzt: die Einheimischen, die gewerkschaftlich organisiert sind, lassen sie aus dem Land gehen und empfehlen zugleich den Rückgriff auf die Immigranten“, berichtet Trindade voll Empörung. Denn die makroökonomischen Daten werden auch hier so gelesen, wie es gerade ins Geschäft passt. Das ersetzt Analysen und die Entwicklung eines gesellschaftlichen Plans. Mit den hohen Wachstumsraten, die Portugal in den letzten zehn Jahren zu verzeichnen hatte, und einer der niedrigsten Arbeitslosenquoten Europas hat das Land sich ein ehrgeiziges Ziel gesteckt: Bis zum Ende der dritten – und gewiss auch letzten – Förderungsperiode durch den europäischen Strukturfonds (2000–2006) soll das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen auf 80 Prozent des EU-Mittels steigen.
Doch wer die Statistiken der Europäischen Kommission liest, wird feststellen, dass bei der Verteilung der Zuschüsse aus den Strukturfonds, den so genannten Kohäsionsfonds, in den letzten fünfzehn Jahren etwas nicht ganz richtig gelaufen ist. Unter den Regionen eines Landes lässt sich das Lebensniveau sehr viel schwerer angleichen als unter den verschiedenen Ländern; und im Falle Portugals kommt neben dem beträchtlichen Lohngefälle noch ein weiteres Problem hinzu: das Ungleichgewicht zwischen den Regionen vergrößert sich weiter.2 Wenn Portugal in der Entwicklung „hinterherhinkt“, so liegt das keineswegs ausschließlich an mangelnden ausländischen Investitionen, wie die Befürworter einer weiteren Öffnung für ausländisches Kapital glauben machen wollen. Obwohl der Umfang dieser Investitionen (2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in 1998) die Mittel aus dem europäischen Strukturfonds übersteigt (rund 2 Prozent pro Jahr), liegt er doch immer noch niedriger als der Beitrag, den die Auslandsportugiesen durch direkten Geldtransfer leisten (rund 3 Prozent in 1998).
Die Bauindustrie baut auf billige Immigranten
MIT dem Boom in der Baubranche versucht Inacio Mota cla Silva von der Arbeitsaufsicht (IGT) die rasche Zunahme osteuropäischer Arbeitskräfte auf diesem Sektor zu erklären: Im Großen und Ganzen befinden wir uns heute in einer ähnlichen Situation wie unsere europäischen Partner in den Aufbaujahren nach dem Krieg. „Die Interessen der allmächtigen Baulobby lassen sich offenbar nur schwer damit vereinbaren, dass wenigstens die grundlegendsten Arbeitsschutzmaßnahmen auch für Immigranten umgesetzt werden und dass man minimale Standards bei ihrer Unterbringung durchsetzt, die noch immer jämmerlich ist.“3
Aber wie wird das Migrationsphänomen und seine Entwicklung von denen betrachtet, die sich nicht selbstgefällig in die Tasche lügen? Julia Franco und João Diogo Lima, Leiter eines gemeinnützigen berufsbildenden Vereins – der vor allem Sprachkurse für osteuropäische Zuwanderer anbietet –, stellen unmissverständlich fest: „Im Allgemeinen bescheinigt die portugiesische Gesellschaft den Emigranten aus Osteuropa ein hohes Berufsethos und gute Arbeitsmoral. Die Folge ist, dass wir sie als billige Arbeitssklaven betrachten. […]. Und während es in Portugal an qualifizierten Kräften mangelt, lässt man ihr Potenzial brachliegen – obwohl viele von ihnen Ingenieure, Ärzte oder Techniker sind.“ Was noch schlimmer ist: „Wenn ihnen nicht irgendwelche Anwälte noch ein paar Euros abluchsen, indem sie ihnen vorgaukeln, sie würden ihnen eine Aufenthaltsgenehmigung verschaffen, oder wenn sich nicht diverse Subunternehmer mit ihrem Lohn aus dem Staub machen, dann werden sie Opfer ihrer eigenen mafiosen Organisationen.“ Sergej, 25 Jahre alt, hat seine Frau und die kleine Tochter in der Ukraine zurückgelassen. Er ist Elektriker und hat auf eine dieser Kleinanzeigen geantwortet, von denen es in den Zeitungen seiner Heimat wimmelt und die Portugal als ein friedliches, sonniges Eldorado präsentieren. „Die Reise dauert vier Tage und endet in Spanien“, erzählt Sergej. „Dort müssen wir der lokalen Mafia 300 Dollar bar auf die Hand zahlen, damit sie uns nach Portugal bringt und uns Arbeit beschafft. Häufig hat die Mafia mit dem Chef vorher ausgekungelt, dass der den Arbeiter nach einem Monat entlässt. Dann taucht ein anderer Mafioso auf und bietet dem Arbeitslosen an, ihm hundert Dollar zu leihen, und wieder beginnen Erpressungen, Drohungen und Gewalt.“
Sergej hatte nicht das „Pech“, so rasch wieder entlassen zu werden. Fünf Monate arbeitete er im Süden des Landes, in der Algarve, sechs Tage die Woche, zehn Stunden am Tag, als Mechaniker in einem großen US-amerikanischen Unternehmen. Für 80 000 Escudos im Monat (ungefähr 400 Euro). Und ohne Arbeitsvertrag: Sein Chef hat sich stets geweigert, das Arbeitsverhältnis auf eine reguläre, gesetzliche Grundlage zu stellen, denn dann hätte sich Sergej dem erpresserischen Zugriff seiner Herren entziehen können. Der Chef sieht ohne Zweifel einen Vorteil darin, mit diesem Personalunternehmen zusammenzuarbeiten, das ebenso brutale wie marktgerechte Methoden praktiziert. Gegenwärtig versteckt sich Sergej in Lissabon, in der Anlaufstelle eines Hilfszentrums. Er hat keine Arbeit, keine Papiere, und er hat beschlossen, nicht zu zahlen. Womöglich riskiert er damit sein Leben. Er ist nicht der Einzige, wie er sagt: „80 bis 90 Prozent der Ukrainer, die hier leben, haben Angst.“4
Am 17. Juli vergangenen Jahres konnte auf der Avenida da Republica gerade noch das Schlimmste verhindert werden. Ein 29-jähriger Ukrainer, erst wenige Tage zuvor in Portugal eingetroffen, hatte auf dieser belebten Straße Lissabons 45 Minuten lang einen Cafébesitzer als Geisel genommen; vor dem Lokal bildete sich ein Auflauf von etwa 200 Menschen. Es dauerte eine Weile, bis seine von Schreien und Tränen unterbrochenen Forderungen übersetzt waren. Eine Gruppe von Landsleuten hatte ihn seiner wenigen Ersparnisse beraubt; offenbar um sein Leben fürchtend, wollte er nach Hause in die Ukraine und vor allem wollte er, dass die Polizei käme. Als die schließlich erschien, um seinen friedlichen Abzug auszuhandeln, musste sie ihn vor der Menge schützen, die ihn zu lynchen drohte.
António Vitorino, EU-Kommissar für Justiz und Inneres, hatte während der portugiesischen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2000 feierlich verkündet: „Die Bewahrung und Entwicklung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, aber auch die Vertiefung des Schutzes der Grundrechte werden beim Aufbau Europas in den nächsten Jahren unzweifelhaft eine der großen Herausforderungen darstellen.“5 Anscheinend hat man ihn in seinem eigenen Land nicht recht verstanden. Denn die einzige wichtige Entscheidung, die bislang von der portugiesischen Regierung angesichts der nie dagewesenen Einwanderungswelle getroffen worden ist, war die einmalige Legalisierung von Illegalen – eine Maßnahme, die zum Ende des Jahres 2001 auslief.
„Verfügbarkeit“, Disziplin und Leistungsbereitschaft – das sind die Eigenschaften, die den osteuropäischen Arbeitskräften unisono bescheinigt werden. Und wie man aus privaten Gesprächen häufig erfahren kann, zeigt die portugiesische Gesellschaft diesen Einwanderern gegenüber durchaus ein gewisses Mitgefühl. Dadurch bleiben ihnen Manifestationen fremdenfeindlicher Ablehnung weitgehend erspart, wie sie Sinti und Roma oder Emigranten aus Afrika zu spüren bekommen; manchmal scheint es sogar, dass die Osteuropäer mitunter eine Art „positive Diskriminierung“ erfahren. Dies wiederum schürt die Ressentiments, insbesondere in der zweiten Generation der afrikanischen Einwanderer, die sich auflehnt gegen die Bedingungen, unter denen ihre Eltern leben und arbeiten. Diese „Ureinwanderer“ sind die eigentlichen Verlierer: eine Generation, die sich betrogen fühlt und für eine wirkliche Integration keine Perspektive sieht.
dt. Passet/Petschner
* Journalist