12.07.2002

Wie das Wahlprogramm, so die Politik

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Wie das Wahlprogramm, so die Politik

Von SERGE HALIMI 

MIT den Wahlkämpfen des Frühjahrs ist in Frankreich eine gesellschaftliche Gruppe wieder ins Blickfeld gerückt, die von den politisch Verantwortlichen und Kommentatoren längst als inexistent behandelt worden war: die „Arbeiter“. Gleichzeitig scheint jedoch mit diesen Wahlen die Frage nach der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel endgültig aus der Diskussion gestrichen worden zu sein, die sich politisch nennt.

Dieser offensichtliche Widerspruch geht zunächst die Linke an. Sie müsste schließlich ahnen, dass ein Zusammenhang besteht zwischen den immer härteren Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen, die mit wenig Lohn auskommen müssen, und der Tatsache, dass immer mehr Bereiche des Gemeinschaftslebens den Finanzmärkten und der Rendite ausgeliefert sind.

Doch wenn man sich mit dem gesellschaftlichen Eigentum ohnehin nur noch befasst, um zu prüfen, wie man sich seiner am besten entledigen kann, ist man ganz selbstverständlich dazu „gezwungen“, der Schaffung von Shareholder-Value stets den Vorrang zu geben. Eine Entscheidung, die dann notgedrungen dazu führt, aus den Löhnen die wichtigste Anpassungsvariable zu machen, da ja die „Attraktivität“ des „Standortes Frankreich“ davon abhängt, dass die „Kosten der Arbeit“ dort genauso „wettbewerbsfähig“ sind wie anderswo. Nur im Wahlkampf besinnt man sich darauf, dass Frankreich nicht bloß ein Standort ist, sondern ein Land, in dem Menschen leben; dass die Kosten der Arbeit für die einen der Lebensstandard der anderen sind und dass diese Gruppe größer ist, auch wenn sie weniger verhätschelt wird.

Wer dies ausspricht, läuft allerdings Gefahr, für intellektuell etwas zurückgeblieben erklärt zu werden. So hat ein Politologe, der eher aufgrund seiner Medienpräsenz bekannt ist als durch die Originalität seiner Analysen, beispielsweise vor kurzem erklärt: „Die Politiker müssen sich endgültig von der revolutionären Politik verabschieden, von jener jahrhundertealten Religion, die bis Anfang der 80er-Jahre tonangebend war und den Bürgern versprach: Wir werden euer Leben verändern.“1

Wenn man an der Fakultät für politische Wissenschaften sein komfortables Auskommen hat, fällt dieser Abschied sicherlich leichter als anderswo. Doch selbst im Umfeld des gescheiterten linken Präsidentschaftskandidaten Lionel Jospin werden die Stimmen rar, die immer noch behaupten, er habe gut daran getan, einen Wahlkampf zu führen, der so genau die Empfehlungen des eben zitierten Politikwissenschaftlers befolgte; eine Wahlkampagne nämlich, die so „wenig revolutionär“ war, dass der Kandidat verkündete, „Frankreich geht es besser“, und – damit dies auch so bleibe – ein Programm vorschlug, „das nicht sozialistisch ist“.

Nun ist die Rechte mit ihren gewohnten Glücksbringern im Gepäck an die Macht zurückgekehrt (ganz nach dem Motto: „Was für die Unternehmen gut ist, ist auch für die Lohnabhängigen gut“) und bereitet sich darauf vor, eine „ganz und gar nicht sozialistische“ Politik zu machen.

Früher einmal war die Linke sich darüber im Klaren, dass die Reichen ihren Reichtum einsetzen, um sich mehr politischen Einfluss zu erkaufen, und dann wiederum ihren politischen Einfluss nutzen, um ihren Reichtum zu mehren. Weshalb sie versuchte, Ungleichheiten einzuebnen und das „Geld an der Macht“2 zu bekämpfen. Doch wenn das Wahlprogramm des sozialistischen Kandidaten Jospin „nicht sozialistisch“ war, so war es seine vorherige Regierungspolitik ebenso wenig.

Für die Linke, die nun in der Opposition ist, könnte sich diese Bilanz als misslich erweisen. Das wurde gleich am Abend der ersten Runde der Parlamentswahlen deutlich. Kurz nacheinander sprachen Laurent Fabius im ersten und Dominique Strauss-Kahn im zweiten Fernsehprogramm. Die beiden Finanzminister früherer Jospin-Regierungen konfrontierten den neuen Sozialminister François Fillon, der zwischen den beiden Sendern hin- und herpendelte, mit dem Vorwurf, er wolle den staatlichen Mindestlohn nicht über das gesetzlich festgelegte Minimum hinaus anheben. Der jedoch konterte umgehend: „Sie haben den Mindestlohn 1999 nicht angehoben und im Jahr 2000 auch nicht. Und 2001 haben Sie ihn gerade mal um 0,29 Prozent nach oben korrigiert.“

Einige Wochen zuvor war es der Generalsekretärin der Kommunistischen Partei, Marie-George Buffet, ähnlich ergangen. Auch sie diskutierte mit Fillon, diesmal im dritten Fernsehprogramm, und fragte ihn halb misstrauisch, halb bedauernd: „Werden Sie privatisieren?“ Und auch diesmal ließ die Antwort nicht auf sich warten: „Wir werden privatisieren. Wir werden aber sicher weniger privatisieren als die Regierung, der Sie angehört haben, weil es gar nicht mehr so viel zu privatisieren gibt.“

Sicherlich haben einige Minister des ehemaligen linken Regierungsbündnisses gauche plurielle es zwischen zwei Reisen ins brasilianische Porto Alegre gar nicht bemerkt, dass das umfassende Privatisierungsprogramm, das die französische Rechte im Juli 1993 angekündigt hatte, inzwischen fast komplett umgesetzt war – und zwar mehr aufgrund ihres eigenen Eifers als desjenigen der konservativen Regierungen Balladur und Juppé. Das Theorieorgan der Sozialistischen Partei war sogar stolz darauf: „In Sachen Privatisierung hat die gauche plurielle in drei Jahren mehr geleistet als jede andere französische Regierung.“3

Im Januar 2002 plädierte Laurent Fabius sogar für den Rückzug des Staates aus der Strom- und Gasgesellschaft EDF-GDF und für eine weitergehende privatwirtschaftliche Beteiligung an der französischen Telekom. Bis 1988 verstaatlichte die französische Linke zwar nicht unbedingt immer, doch zumindest privatisierte sie nie. Die Rechte verhielt sich, zumindest bis 1986, nicht viel anders. Dafür ist in den letzten fünfzehn Jahren der Anteil der Staatsunternehmen an den insgesamt zur Verfügung stehenden Arbeitsplätzen um die Hälfte geschrumpft.4

Soziale Forderungen wurden in der Vergangenheit häufig im Umfeld von Staatsbetrieben artikuliert, die einen höheren gewerkschaftlichen Organisierungsgrad aufwiesen als die anderen. Dort fanden auch die großen Streiks statt, die Einschnitte in der Geschichte des Landes markieren (z. B. der Kohlestreik von 1963, der 1968er Streik bei den damals noch staatlich geführten Renault-Werken und der Streik der Eisenbahner und des Pariser Nahverkehrs im Jahr 1995).

Möglicherweise wird also die kurzsichtige Verwaltung des Vermögens der Privatisierungskandidaten durch die Jospin-Regierung verheerende Folgen für die künftige Entwicklung fortschrittlicher sozialer Kämpfe haben. Und zu wessen Gunsten? Während die französische Linke sich weigerte, die niedrigsten sozialen Mindeststandards Europas anzuheben, kamen ihre Steuergeschenke häufig den oberen Gesellschaftsschichten zugute (und einigen sozialistischen Spitzenpolitikern): Senkung der progressiven Einkommensteuer, Abschaffung der Auto-Vignette, die sowohl fortschrittlich als auch ökologisch war, Verwandlung des Standortes Frankreich zu einem europäischen Paradies für Stock-Options.

Insgesamt scheint sich die soziologische Struktur der Sozialistischen Partei, wie Dominique Strauss-Kahn es mit erfrischendem Zynismus ausdrückte,5 ihrer Ideologie angepasst zu haben. Der sozialistische Abgeordnete Henri Emmanuelli stellte das bereits letztes Jahr fest: „Künftig wird sich der Einfluss der gauche plurielle in der Tendenz am Quadratmeterpreis orientieren, während er sich bislang umgekehrt proportional dazu verhielt.“6

Die Parlamentswahlen haben diese Analyse bestätigt: Während die Rechte in Paris geschlagen wurde, eroberte sie den Arbeitervorort Argenteuil. Irgendetwas stimmt allerdings nicht in diesem Kalkül, sowohl gesellschaftlich als auch wahlarithmetisch, denn schließlich ist die Linke jetzt wieder in der Opposition. Zumindest wird sie nun genügend Zeit und Muße haben, sich zwei Fragen zu stellen. Die erste Frage ist die nach ihrem eigenen Umfeld. Wer stellt ihre eigentliche Basis dar, unterstützt sie und verbreitet ihre Themen? Sind es die Meinungsmacher7 , die alle überzeugt sind, dass es dem Land schon gut gehen wird, wenn es nur ihnen selbst noch besser geht? Oder die Bevölkerung, vor der sich eine gewisse Linke aufgrund der pathologischen Neigungen, die sie ihr unterstellt, in Acht zu nehmen scheint (Angst vor „Öffnung und Reformen“, Fremdenhass, Irrationalität, Unverständnis für die „Komplexität der Wirklichkeit“)?

Die zweite Frage, die sich stellt, ist diejenige nach den „äußeren Zwängen“. Im vergangenen Monat hatte Francis Mer, der ehemalige Arbeitgeber und Minister von Jean-Pierre Raffarin, kaum ausgesprochen, dass „der Stabilitätspakt kein in Stein gemeißeltes Dogma“ sei, als die Sozialistin Elisabeth Guigou ihm entrüstet antwortete: „Das höre ich zum ersten Mal, dass ein Wirtschafts- und Finanzminister die Verpflichtungen in Frage stellt, die Frankreich eingegangen ist.“ Dabei war diese von Jacques Chirac angenommene monetaristische Zwangsjacke von Lionel Jospin heftig kritisiert worden, als dieser noch der Vorsitzende der Sozialistischen Partei war.

Der Lernprozess der Linken hat gerade erst begonnen. Doch wenn er zu Ende geführt wird, ohne dass die neue Opposition darin andere Perspektiven entwickelt als die marktgerechte Globalisierung, die soziale Unsicherheit, die daraus hervorgeht, und den „in Stein gemeißelten“ Zirkelschluss der Vernunft, dann kann der politische Wechsel ruhig noch auf sich warten lassen.

dt. Miriam Lang

Fußnoten: 1 Siehe Pascal Perinneau in Le Nouvel Observateur, 6. Juni 2002. Wenige Tage zuvor hatte Perinneau einen Artikel mit der Überschrift „Willkommen, Präsident Bush“ mitunterzeichnet und dadurch bewiesen, dass die „jahrhundertealten Religionen“ keineswegs alle so verwerflich sind, zumindest nicht dann, wenn sie aus Amerika kommen (Le Figaro, 25. Mai 2002). 2 Vgl. Pierre Mendès-France in „L‘Etat fort face à l‘argent fort“ in Notre Temps, Paris 1929. Siehe „Quand la gauche essayait“, Paris 2000. 3 Laurent Bouvet in La Revue socialiste, Nr. 4, Juli 2000. Der Autor zeigte sich auch erfreut, als bei der Einführung der 35-Stunden-Woche „die Forderungen der Unternehmer berücksichtigt wurden, da die Gegenleistungen für die Zustimmung der Arbeitgeber zur 35-Stunden-Woche zu einer substanziellen Verbesserung in Sachen Flexibilität der Arbeit in den Unternehmen geführt haben.“ 4 Les Echos, 21. November 2000. 5 Siehe „Flamme bourgeoise, cendres prolétariennes“, Le Monde diplomatique, Februar 2002. 6 Libération, 27. März 2001. 7 Alain Minc hat im Jahr 2002 bereits 4,4 Millionen Euro verdient. Beim ersten Fernsehprogramm TF1 hat Anne Sinclair 230 000 Stock-Options auf dieses Unternehmen in einem ungefähren Wert von 7 Millionen Euro erworben (Challenges, 16. Mai 2002 und AFP-Meldung vom 31. Mai 2002).

Le Monde diplomatique vom 12.07.2002, von SERGE HALIMI