12.07.2002

Sklavenkinder

zurück

Sklavenkinder

Von IGNACIO RAMONET

WELTWEIT werden 211 Millionen Kinder im Alter von fünf bis vierzehn Jahren zur Arbeit gezwungen. Um die Öffentlichkeit für dieses Problem zu sensibilisieren, das vor allem die Entwicklungsländer betrifft, die reichen Länder aber nicht ausspart, hat die Internationale Arbeitsorganisation in Genf (ILO) den 12. Juni 2002 zum „Ersten Welttag gegen Kinderarbeit“1 erklärt.

Das Bild, das wir uns von der Kindheit machen, hat mit der tatsächlich gelebten Wirklichkeit der Kinder oft nicht viel zu tun. In vielen Länder ähnelt sie noch immer dem Albtraum, den Schriftsteller wie Charles Dickens und Victor Hugo oder Edmondo de Amicis2 im 19. Jahrhundert beschrieben haben.

Die Globalisierung brachte in dieser Hinsicht keine Verbesserung. Im Gegenteil: „In einer Welt mit global organisiertem freiem Kapital- und Warenverkehr können die südlichen Länder ihre Marktstellung nur dadurch sichern, dass sie den einzigen Bereich, in dem sie noch weitgehend wettbewerbsfähig sind, bis zum Anschlag ausreizen: die geringen Kosten der Arbeitskraft.“3 Würden diese Länder nicht auf Kinderarbeit setzen, die deutlich schlechter bezahlt wird als Erwachsenenarbeit, müssten viele Staaten mit ansehen, wie ihre Wettbewerbsfähigkeit zusammenbricht, ihre Exporte sinken und ihre Deviseneinnahmen schrumpfen.

Von der Ausbeutung Minderjähriger profitieren nicht zuletzt die multinationalen Konzerne, darunter die Tabakmultis Philip Morris und Altadis, die Bananenfirmen Chiquita und Del Monte und der Kakaohersteller Cargill. In Malawi zum Beispiel, wo die Tabakindustrie der größte Arbeitgeber ist, werden zehntausende Kinder bei der Ernte und der besonders gesundheitsschädlichen Trocknung der Tabakblätter eingesetzt. In Ecuador arbeiten Sieben- bis Achtjährige zwölf Stunden täglich auf den Bananenplantagen. In der Elfenbeinküste, dem weltgrößten Kakaoproduzenten, sollen es tausende Kindersklaven sein, die auf den Plantagen schuften.

Der Handel mit Kindersklaven machte weltweit Schlagzeilen, als man im April 2001 das unter nigerianischer Flagge fahrende Schiff „Etireno“ aufbrachte, das dutzende Kinder an Bord hatte, die aus Benin kommend in Gabun als Sklaven verkauft werden sollten. Nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks Unicef sollen in Zentral- und Westafrika über 200 000 Kinder und Jugendliche Opfer des Menschenhandels geworden sein.

Aber auch in den reichen Länder arbeiten knapp 2,5 Millionen Kinder unter 15 Jahren – und 11,5 Millionen Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren – unter häufig beschwerlichen und gefahrvollen Bedingungen in der Landwirtschaft und im Baugewerbe, in Textil- und Schuhfabriken: 120 000 sind es in den Vereinigten Staaten, 200 000 in Spanien, 400 000 in Italien und über 2 Millionen in Großbritannien.

ZWÖLF Jahre nach dem ersten UN-Weltkindergipfel vom September 1990 in New York fand im Mai dieses Jahres ein weiterer Gipfel statt, zu dem rund fünfhundert Minderjährige aus über einhundert Ländern nach New York eingeladen wurden. UN-Generalsekretär Kofi Annan eröffnete die Konferenz mit der ernüchternden Feststellung: „Wir haben elend darin versagt, die wesentlichen Rechte der Kinder zu schützen.“

Die Zahlen sind in der Tat niederschmetternd. Über eine halbe Milliarde Kinder müssen mit weniger als einem Euro pro Tag auskommen. Sie sind vom Elend am härtesten betroffen und werden Zeit ihres Lebens an den psychischen und körperlichen Folgen zu leiden haben. Über 100 Millionen Kinder besuchen aufgrund von Armut und Diskriminierung nie eine Schule. Jahr für Jahr sterben 11 Millionen Kinder unter fünf Jahren, 30 000 pro Tag, das heißt alle drei Sekunden eines.

Durch bewaffnete Konflikte verloren zwischen 1990 und 2000 über eine Million Kinder ihre Eltern oder wurden von ihrer Familie getrennt.

Mehr als 300 000 Minderjährige wurden als Soldaten rekrutiert, über 2 Millionen kamen in Bürgerkriegen ums Leben, über 6 Millionen wurden verwundet oder verstümmelt, 12 Millionen verloren ihre Unterkunft und rund 20 Millionen wurden von zu Hause vertrieben. Darüber hinaus fallen alljährlich mehr als 700 000 Kinder Menschenhändlern in die Hände und werden gegen ihren Willen unter Bedingungen der Sklaverei festgehalten. Als Gründe zitiert ein Unicef-Bericht die „Nachfrage nach Billigarbeitskräften und die steigende Nachfrage des Sexgewerbes nach Mädchen und Jungen“4 .

Besonders beklagenswert ist das Schicksal der Mädchen. Sie bekommen ale Arten von Diskriminierung zu spüren. 60 Millionen der rund 100 Millionen Kinder, die keine Schule besuchen, sind Mädchen. Zwischen 60 und 100 Millionen Mädchen wurden aufgrund ihres Geschlechts abgetrieben, getötet, unzureichend ernährt oder grausam vernachlässigt. Über 90 Prozent der Hausbediensteten – die häufigste Beschäftigung arbeitender Kinder – sind Mädchen im Alter von 12 bis 17 Jahren. In einigen Regionen Afrikas und Asiens sind fünfmal mehr Mädchen als Jungen HIV-positiv.

Angesichts dieser skandalösen Verhältnisse sollten wir noch einmal genau hinhören, was die dreizehnjährige Gabriela Azurdy aus Bolivien im Mai dieses Jahres vor den versammelten Staatschefs aus 70 Ländern und hunderten von Ministern aus 189 Ländern mit fester Stimme sagte: „Wir sind Opfer der Ausbeutung und des Missbrauchs aller Art, wir sind die Kinder der Straße, wir sind die Kinder des Krieges, wir sind die Waisen der Aids-Krankheit und unsere Stimmen werden nicht gehört. Damit muss Schluss sein. Wir wollen eine Welt, die unser würdig ist.“

Fußnoten: 1 Siehe Le Monde, 13. Juni 2002. 2 Italienischer Schriftsteller (1846–1908), veröffentlichte u. a. „Cuore: eine Kindheit vor hundert Jahren“, Berlin (Freese) 1996. 3 Bernard Schlemmer (Hg.), „L‘Enfant exploité“, Paris (Karthala) 1996. Fast 95 Prozent aller arbeitenden Kinder leben in den armen Ländern des Südens, die Hälfte davon in Asien. Bezogen auf die Bevölkerung liegt jedoch Afrika an der Spitze; hier arbeiten nach ILO-Angaben ein Drittel aller Kinder. 4 Unicef, „Kinder bewegen die Welt – Zur Situation der Kinder in der Welt 2002“, Frankfurt a. M. (Fischer) 2002.

Le Monde diplomatique vom 12.07.2002, von IGNACIO RAMONET