Gewalt als historisches Erbe
Seit Beginn dieses Jahres sind in Algerien bei Anschlägen von islamistischen Gruppen oder staatlichen Militärkommandos über 700 Menschen umgekommen. Während das Land am 5. Juli 2002 den 40. Jahrestag seiner Unabhängigkeit gefeiert hat, geht der blutige algerische Bürgerkrieg in sein zehntes Jahr. In der Bilanz dieser vierzig Jahre sind die Massaker des letzten Jahrzehnts nicht der einzige dunkle Punkt. Eine Funktionärskaste hat sich die Errungenschaften der algerischen Revolution wie auch die Reichtümer des Landes angeeignet. Dagegen ist die politische und soziale Situation für die breite Masse fast ausweglos geworden. Die Arbeitslosigkeit steigt, die Staatseinnahmen sinken rapide, die Armut grassiert, die öffentlichen Dienste versagen. Solche Verhältnisse produzieren Gewalt, deren Wurzeln allerdings bis in die Kolonialzeit zurückreichen.
Von MOHAMMED HARBI *
MANCHE selbst ernannten Experten sind überzeugt, die Flut der Gewalttaten in Algerien sei Ausdruck eines „Nationalcharakters“. Wie alle schlichten Vorstellungen besitzt auch diese Variante von kulturellem Determinismus eine trügerische Evidenz. Aber Gewalt ist keine Eigenschaft einer Gesellschaft, sondern Teil der menschlichen Existenz. Die Frage ist nur, unter welchen Bedingungen sie Macht gewinnen und das soziale Leben bestimmen kann. Des Weiteren fragt sich, welche Form die Gewalt jeweils annimmt, in der sich dann tatsächlich das kulturelle Erbe einer Gesellschaft zu verkörpern scheint.
Im christlichen Mittelalter glaubte man an die reinigende Wirkung der Scheiterhaufen und vierteilte Königsmörder. In der islamischen Welt steinigt man Frauen, die Ehebruch begangen haben. Und während des algerischen Unabhängigkeitskriegs wurden manche Muslime, die als „Verräter“ an ihrer Gemeinschaft galten, erdrosselt – nachdem man ihnen die Nase und das Geschlechtsteil abgeschnitten hatte. Die Soldaten verhielten sich in diesem Krieg nicht weniger barbarisch, wenn sie eine meschta, ein arabisches Dorf niederbrannten, ohne sich darum zu scheren, wer da in den Flammen umkam.
Auf lange Sicht prägen sich die spezifischen Formen der Gewalt zu einem Merkmal der jeweiligen Kultur aus, doch entscheidend sind die Umstände, unter denen sie sich so heftig entladen. Solche Entwicklungen lassen sich nur historisch entschlüsseln, und unter einem besonderen Blickwinkel, der das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten in der Zeit nach der Kolonisierung Algeriens ins Auge fasst. Bevor sie mit dem Modell des Nationalstaats in seiner französischen Fassung in Berührung kamen, hatten die Alge-rier, als Teil der islamischen Welt, bereits ein tributäres und segmentäres Modell dezentraler Staatlichkeit kennen gelernt. Dieses Modell erlaubte die Koexistenz einer zentralen Autorität und einer lokalen Selbstverwaltung (organisiert auf der Basis von Religionsgemeinschaften, Stämmen oder ständischen Vereinigungen). Auf diesem Prinzip basierte etwa das Osmanische Reich, das immerhin drei Jahrhunderte Bestand hatte. Albert Hourani arbeitete in seiner umfassenden Darstellung dieses Systems1 heraus, dass die Aktivitäten des Staates begrenzt waren, beschränkt auf die Städte, die Küsten, die Flusstäler und die zugänglichen Ebenen. Bevölkerungsgruppen, die sich den Abgabepflichten entziehen wollten, konnten in unwegsame Regionen ausweichen. Weite Bereiche des sozialen Lebens entzogen sich dem Zugriff der Herrscher, die weniger die Gesellschaft gestalten als vielmehr die Gebiete ihres Machtbereichs sichern wollten.
Wie es in einer solchen Despotie um die Rechte der Untertanen stand, kann man sich vorstellen. Die Idee des Individuums, von Rechten des Einzelnen gegenüber den Machthabern war unbekannt. Durchsetzbar waren allein Privilegien, die sich von einer sozialen Machtstellung ableiteten. Der Absolutismus der Machthaber wurde theoretisch durch die islamische Religion begrenzt: Auf sie konnte man sich in Notsituationen berufen, wenn man Steuern verweigern wollte.
In den letzten Jahren vor der französischen Eroberung hatte das Osmanische Reich in Algerien Mühe, seine Autorität zu behaupten. Nach Überfällen auf Reisende im Beylik Oran ordnete die Hohe Pforte harte Vergeltungsmaßnahmen an. Von religiösen Bruderschaften ausgelöste Aufstände machten die kleine Kabylei im Osten und das Gebiet von Mascara und Schelif im Westen unsicher. Um 1830 hatten sich 200 der 516 Stammesgemeinschaften in Algerien von den türkischen Machthabern losgesagt. Die Staatsmacht war der Gesellschaft bereits so entfremdet, dass sie der französischen Invasion nichts entgegensetzen konnte. Die Strafjustiz war ein politisch besonders wichtiges Attribut der Macht: Der Dey oder die Beis hatten außerhalb von Algier das Recht, die Todesstrafe zu verhängen. Entscheidendes Merkmal des Systems war das Fehlen politischer Gegenseitigkeit zwischen Herrschern und Beherrschten. Die Gesellschaft war also dazu verdammt, die tägliche Gewalt und Willkür hinzunehmen; damit musste auch die Achtung vor dem menschlichen Leben sinken.
Die mit der Kolonisierung einsetzende Gewalt besaß zwei Aspekte: Erstens entsprang die Kolonialmacht einem militärischen Eroberungsfeldzug, der weder durch das Kriegsrecht noch durch den Ehrenkodex der Armee eingeschränkt war. Das geht aus den Berichten französischer Offiziere hervor, wie aus dem Briefwechsel von Marschall Saint-Arnaud, wahre Anthologien von Massakern, Mord und Plünderung.
Die Gewalt hatte, zweitens, eine politische und wirtschaftliche Dimension. Die gewaltsame Reaktion der algerischen Bevölkerungsgruppen – legitimiert durch das Recht der Unterdrückten – speiste sich aus anderen Traditionen als den europäischen. Man hat diesen Kampf oft mythologisiert und versucht, den Emir Abd al-Kader (1808–1883) zur Symbolfigur einer selbstbewussten und gegen Frankreich geeinten algerischen Nation zu erklären. Doch aus der Geschichte ergibt sich ein anderes Bild: Die Gemeinschaften organisierten ihre Gegenwehr auf unterschiedliche Weise. Zum Beispiel proklamierte sich Ahmed Bey, der regionale Fürst im Osten des Landes, zum legitimen Nachfolger der osmanischen Herrschaft – für Abd al-Kader hatte er nur Verachtung übrig. Der Emir, der sich von den Seinen zum Sultan machen ließ, musste nicht nur gegen die Franzosen, sondern auch gegen Glaubensbrüder kämpfen, die ihre Eigenständigkeit verteidigten und sich gegen jede Form von Fremdherrschaft auflehnten. Mit der institutionellen Festigung der Kolonisation entwickelte sich auch ein Gegensatz zwischen Stadt und Land, vor allem in den Regionen des Südens. In den Städten entstand ein moderner ökonomischer Sektor, was zu einer Diversifikation der sozialen Schichten führte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nachdem auch im Hinterland der bewaffnete Widerstand aufgehört hatte, formierten sich verschiedene Bewegungen, die entweder für ein algerisches Nationalbewusstsein eintraten oder die staatsbürgerliche Gleichstellung mit den Europäern im Land forderten. Sie stellten ihre Forderungen in der Sprache der Politik.
Auf dem Land dagegen herrschte zwischen Kolonialmacht und Kolonisierten ein offenes Gewaltverhältnis. Die Masse der Landbevölkerung sah in den Kolonisten einfach Räuber, denen sie die Solidarität ihrer Gemeinschaft entgegenstellte – und diese fand ihren Ausdruck in der Sprache der Religion, nicht der Politik. Man hat den Konflikt gern als den Kampf der Muslime gegen die „Ungläubigen“ dargestellt, die sich allerlei Übergriffe zuschulden kommen ließen, Machtmissbrauch von Notabeln und Beamten. Doch anders als in den Städten gab es auf dem Land bis zum Mai 1945 keinen organisierten Widerstand, es kam lediglich hier und da zu Auseinandersetzungen zwischen Clans etwa um Wasser, Weideland und andere Streitobjekte.
Obwohl Fremdenfeindlichkeit und die Ablehnung jeder kulturellen Anpassung unter der Landbevölkerung sehr ausgeprägt sind, wäre es falsch, aus diesen Differenzen zwischen Stadt und Land – oder, vereinfacht, zwischen Küste und Landesinnerem – auf die Existenz zweier Algerien zu schließen. Die Vertreter der städtischen nationalen Bewegung, sogar die Anhänger des Rationalismus und des wissenschaftlichen Positivismus, vollzogen nie die Trennung von Traditionalisten und Kommunitaristen – als verbürgten diese die wahre Authentizität und eine Abkehr sei so etwas wie ein Muttermord. Diese etwas schizophrene Haltung der Eliten sollte im Unabhängigkeitskrieg noch eine Rolle spielen.
Die Formen der Gewalt in diesen Jahren sehen in den Städten nur wenig anders aus als zur gleichen Zeit im Süden Frankreichs – vorwiegend kriminelle Delikte, auch wenn die politische Dimension nie ganz fehlt. Auf dem Land dagegen ist die Gewalt eine Kraftprobe unter Menschen, die Recht und Gesetz in keiner Weise verinnerlicht haben. Es geht um Unterwerfung oder Konfrontation mit Militär und Polizei samt dem kolonialen Machtapparat – Dorfrichter, Feldwächter, Forsthüter und andere Funktionsträger, die dann im Unabhängigkeitskrieg ins Visier genommen werden. Die Antwort auf Unrecht und Machtmissbrauch geben Robin-Hood-Figuren wie Kaddur Benseimat und Grine im Aurès oder Umeri in der Kabylei, die in zahllosen Volksliedern als Helden besungen werden.
Der Unabhängigkeitskrieg brach zu einem Zeitpunkt aus, als die nationale Bewegung sich gerade in eine Krise befand. Eine aktionistische Gruppierung hatte die Führung übernommen und die Reihen der Bewegung füllten sich mit Leuten vom Land, die der Vorstellung, auch nichtmuslimische Europäer oder alteingesessene Juden könnten als Algerier gelten, zurückhaltend bis feindlich gegenüberstanden. So war die weitere Entwicklung der nationalen Bewegung von widersprüchlichen Forderungen bestimmt: Das eine Lager verfolgte nationalistische und bürokratische Pläne, das andere eher kommunitaristische. Das Prinzip der Staatsbürgerlichkeit, das nur eine Minderheit vertrat, konnte sich nur selten gegenüber der Vorstellung von den Pflichten der Gläubigen durchsetzen. Um zu begreifen, wie die Mobilisierung der Bevölkerung während des Unabhängigkeitskrieges funktionierte und wie die Feldkommandanten in diesem Kampf vorgingen, muss man sich auch in Erinnerung rufen, welche Glaubensvorschriften für die Gemeinschaft der Muslime im Dschihad gelten:
Als Märtyrer im Dschihad muss man bereit sein, sein Leben und seinen Besitz zu opfern. Alle Muslime sind verpflichtet, Unterstützung zu leisten. Deserteure müssen verfolgt werden. Von den Wohlhabenden sind Almosen einzutreiben, wenn nötig mit Gewalt. Wer sich dem Dschihad verweigert, muss verfolgt werden, sein Besitz ist zu beschlagnahmen. Muslime, die auf der Seite der Franzosen kämpfen, gelten als Abtrünnige und haben den Tod verdient; ihre Frauen und Kinder sind zu verschonen.
Allerdings galt noch eine weitere Glaubensvorschrift, an die Scheich Baschir al-Ibrahimi die Kämpfer am 7. Juni 1955 öffentlich erinnerte: Folter, Verstümmelung, Ermordung von Frauen, Kindern und Alten sind ebenso geächtet wie die Vernichtung der Ernten oder das Töten von Nutztieren. Im Allgemeinen hielten sich die Führer der Nationalen Befreiungsfront (FLN) und der Algerischen Nationalbewegung (MNA) – beide waren aus der Spaltung der „Bewegung für den Triumph der Demokratischen Freiheiten“ (MTLD) hervorgegangen3 – im Umgang mit der Zivilbevölkerung an diese Grundsätze, um den Zusammenhalt der Gemeinschaft und die Loyalität der Einzelnen zu sichern. So sollte der Einzelne der gemeinsamen Sache gewogen und der Zusammenhalt erhalten bleiben. Aber nicht alle Führer der Bewegung waren von diesen Restriktionen begeistert.
Während der Kämpfe gab es viele Verstöße gegen die religiösen Grundsätze. Die Fälle von Erdrosselung, Kastration und Verstümmelung erklären sich von selbst: aus dem Klima der Gewalt und der Natur des Menschen. Neben den Berichten über Morde an Europäern lieferte die Kolonialpresse der französischen Öffentlichkeit vor allem Schilderungen solcher grausamen Rituale, hinter denen die unzähligen Grausamkeiten in diesem barbarischen Krieg leicht zu verstecken waren.
Wenn wir das Problem der Gewalt als ein zentrales reflektieren, dann können wir seine politische Bedeutung allerdings nicht erfassen, wenn wir ignorieren, welche Glaubensgrundsätze die gesellschaftlichen Beziehungen bestimmen. Weil diese Dimension bisher tabuisiert war, mussten wir in jüngster Zeit wieder Gräueltaten erleben, die uns wie eine gespenstische Wiederkehr der Vergangenheit vorkommen. Es wird Zeit, dass sich die Algerier einer kritischen Selbstbefragung unterziehen. Autoritäre Regime sind nun einmal die Tradition des Landes, und seine Bevölkerung hat die Demokratie seit der kolonialen Epoche nur als ein System des Klassenwahlrechts und des Wahlbetrugs kennen gelernt.
Man darf auch nicht vergessen, welche Handlungsoptionen den damaligen Akteuren offen standen. Die Gründergeneration der FLN hätte trotz der ungünstigen sozialen Bedingungen die Möglichkeit gehabt, gewisse Entwicklungsdefizite auszugleichen. Doch sie zog es vor, den politischen Wettbewerb zugunsten einer autoritären nationalen Sammlungsbewegung abzuschaffen (denn genau dies war die FLN, und nicht eine Einheitspartei nach sowjetischem Vorbild, wie des Öfteren behauptet wird).
Und sie traf die Entscheidung, alle zivilen Institutionen der Revolution aufzulösen und deren Zuständigkeiten auf die Armee zu übertragen. Nun sitzen auf diesen Posten die Militärs aller Rangstufen, die ideologisch indifferent sind und die jederzeit die Perspektive und das politische Lager wechseln werden, wenn es der Erhaltung ihrer Macht dienlich ist.
Verarmung der politischen Kultur
AUF diese Weise wurden Errungenschaften, die vor und nach 1962 auf dem Weg zu einer modernen Gesellschaft bereits erreicht waren, weitgehend zunichte gemacht. Der Unabhängigkeitskrieg hat für Algerien einen gewaltigen Verlust an Menschen und sozialer Substanz bedeutet, vor allem unter der städtischen Bevölkerung. Fast alle tragenden Kräfte des politischen Lebens landeten in Straflagern und Gefängnissen oder im Exil und wurden durch Leute ohne politische Erfahrung ersetzt. Aber auch die bürgerkriegsähnlichen Konflikte zwischen FLN und MNA kosteten viele Opfer. Das Gleiche geschah bei den Säuberungen, etwa während der Krise der Einheitspartei (1962/63), als die alte Riege der Unabhängigkeitskämpfer ausgeschaltet wurde.
Das Ergebnis war eine furchtbare Verarmung der politischen Kultur. Und dies obwohl die entscheidende Aufgabe bewältigt und der Kolonialismus besiegt war und sich alle einig waren, dass es nun darum gehe, die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen für die Sicherung und Vollendung der Unabhängigkeit zu schaffen. Das war natürlich nicht möglich, ohne die alten autoritären Strukturen aufzubrechen. Für weitergehende Perspektiven gab es innerhalb der FLN zwei konkurrierende Konzepte. Die Linke setzte auf Selbstverwaltung und Modernisierung von unten, forderte eine Reform der Partei und die Zulassung von organisierten Fraktionen, sogar die Umwandlung in eine Art Labour Party, in der die Gewerkschaften bestimmenden Einfluss haben sollten. Die Militärs um Houari Boumedienne setzten dagegen auf eine Modernisierung von oben, verordnet von der Staatsführung. Einigkeit herrschte nur über die Säkularisierung der Gesellschaft und die Einführung der Gleichberechtigung der Geschlechter.
1965 setzte sich das von Boumedienne geführte Lager durch: Die Armee sicherte sich eine Vormachtstellung im Staat und sorgte mit Hilfe ihrer politischen Polizei dafür, dass sie in Wirtschaft und Verwaltung umfassenden Einfluss ausübte. Seither führt der Weg in die Führungsclique des Landes nur über eine Karriere in der Armee. Die Islamisten, die unter dem ersten Staatspräsidenten Ahmed Ben Bella noch froh sein konnten, dass in den Schulen der Koran unterrichtet wurde, sahen sich plötzlich auf einflussreichen Posten in den Bildungs- und kulturellen Institutionen. Was die Säkularisierung anging, setzte Boumedienne ganz auf einen geistigen Wandel durch die wirtschaftliche Entwicklung.
Doch die Privatisierung des Staates vertrug sich nicht mit der Verstaatlichung der Wirtschaft. Die „Industrialisierungsfraktion“ innerhalb des Regimes musste feststellen, dass ihre Vorhaben zunehmend durch Korruption und Günstlingswirtschaft behindert wurden. Jean Leca hat beschrieben, wie bestimmte Familien „die Leitung der Staatsbetriebe kontrollieren, indem sie ihre Leute einschleusen und ein System der vertikalen Abhängigkeiten schaffen, das dazu dient, sich materielle Vorteile zu verschaffen“4 . Nach Boumediennes Tod (1978) musste sich die Nomenklatura der FLN etwas Neues einfallen lassen: Die Umverteilungskapazitäten des Staates waren erschöpft. Bis dahin war die Sache auch deshalb halbwegs gut verlaufen, weil Algerien nach dem gescheiterten Staatsstreich von Oberst Tahar Zbiri von 1967 zehn ruhige Jahre erlebt hatte. Diese Stabilität verdankte das Regime nicht allein seiner Zwangsherrschaft (obwohl auch in dieser Zeit die politisch motivierten Anschläge und Repressionsmaßnahmen weitergingen), sondern vor allem einem Kompromiss, der darin bestand, bestimmte Erwartungen der Bevölkerung (was die Löhne, das Schulwesen, die medizinische Versorgung usw. betraf) zu erfüllen. Der neue Präsident Chadli Bendjedid (1979–1992) mochte diese Regelungen dann nicht länger garantieren. Wie anfällig die Wirtschaft war, zeigte sich, als der Ölpreis ins Bodenlose fiel. Die Zeiten der folgsamen, gut versorgten und „staatsabhängigen“ Bürger waren vorüber. Mit einem Mal stand das Problem der Gewalt – auf den Straßen und im politischen Untergrund – wieder im Vordergrund. Auf Streiks, Aufstände in den Städten, Aktivitäten der islamistischen Untergrundbewegung von Mustapha Bouyali folgte schließlich die große Rebellion der Kabylen in den 1980er-Jahren. Diese Spannungen verstärkten sich bis zu den tragischen Ereignissen im Oktober 1988. Ob es sich damals um spontane Erhebungen handelte oder ob einige Zauberlehrlinge, die die FLN endlich zu Reformen bewegen wollten, ihre Hand im Spiel hatten – die Grundfesten des Staates wurden jedenfalls nachhaltig erschüttert. Das rief erneut die Armee auf den Plan, die bis heute, abgesehen von den Islamisten und der Bewegung für die kulturelle Autonomie der Kabylei, die einzige politische Kraft in Algerien ist.
Die Wiederkehr der Gewalt jener Zeit – „Widerstandskämpfer“, die die alten grausamen Rituale praktizieren und eine militärische Repression, die Folter und Massaker einsetzt wie einst die Kolonialtruppen – ist wohl das Schicksal eines Systems, das niemals Demokratie gekannt hat und, schlimmer noch, die Menschen nicht zu Staatsbürgern erzieht. In den Augen der Algerier haben die Machthaber jede Legitimität verloren, sie verfolgen keinen Plan jenseits der Bewahrung ihres Reichtums und ihrer Privilegien. Und so ist der Alltag dieses tief verstörten Volkes geprägt von dem Oszillieren zwischen Fatalismus und ohnmächtigen Gewaltausbrüchen.
Das ist kein Zufall. Algeriens Gesellschaftssystem kennt keine tradierten stabilen Vermittlungsinstanzen, auch wenn sich die Zahl der Parteien vervielfacht hat. Und die hohe Arbeitslosigkeit, die zunehmende Abgrenzung der gesellschaftlichen Schichten gegeneinander, die soziale Ungleichheit, der Niedergang des Mittelstands – all dies sind nicht gerade Faktoren der Stabilität. Die Arbeiterschaft? Die Frauen? Sie halten sich an die kommunitaristischen Bewegungen, um ihre Anliegen deutlich zu machen.
Tatsächlich deutet die „Liberalisierung“ des politischen Systems mit ihren inszenierten Wahlen darauf hin, dass es weiterhin nur um Machterhalt und Klientelwirtschaft in neuer Gestalt gehen soll. Algerien braucht endlich wieder Ordnung und Sicherheit, um den sozialen und politischen Aufgaben der Zukunft gewachsen zu sein. Der beste Weg zum Frieden wäre ein Grundlagenvertrag zur Einführung der Demokratie auf der Basis eines Mehrparteiensystems. An diesem Projekt sollten die Militärs beteiligt sein – aber ebenso die Islamisten, auch wenn sie der Moderne, wie man sie sich wünschen mag, sehr feindlich gegenüberstehen.
Es gibt viele Stimmen, die einen solchen Plan für allzu riskant halten, aber für die Säkularisierung der Gesellschaft könnte er nur vorteilhaft sein. Und auf jeden Fall wäre dies der Preis, den die Sicherung der Demokratie eben kostet. Denn wie will man die demokratischen Werte in der Bevölkerung verankern und verbreiten, wenn es sich nur um eine Demokratie von Gnaden der Armee handelt, die auf Gewaltmittel zurückgreift, um eine Sache zu verteidigen, die sie im Grund ablehnt?
dt. Edgar Peinelt
* Historiker. Zuletzt erschien „Une vie debout. Mémoires politiques. Tome I: 1945–1962“, Paris (La Découverte) 2002.