09.08.2002

Wem der Kaschmirkonflikt nützt

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Wem der Kaschmirkonflikt nützt

IN rascher Folge reisen Vertreter der US-Regierung nach Indien und Pakistan, um eine Entschärfung des Kaschmirkonflikts zu erreichen. Die Rivalität zwischen den beiden südasiatischen Atommächten ist in einer Weise eskaliert, die den „Antiterrorkrieg“ in Afghanistan und im Westen Pakistans behindert. Doch bei seiner letzten Reise ist Außenminister Powell mit seinem Plan, zu den nächsten Wahlen in Kaschmir internationale Beobachter zu entsenden, in Neu-Delhi auf taube Ohren gestoßen. Damit tritt das Dilemma der Südasienpolitik Washingtons erneut klar zutage: Wie kann die US-Regierung den Indern Zugeständnisse abhandeln, die es dem pakistanischen Verbündeten erlauben, das strategische Bündnis mit den USA innenpolitisch durchzuhalten?

Von KURT JACOBSEN und SAYEED HASAN KHAN *

Indien nimmt für sich traditionell in Anspruch, seine Außenpolitik sei an „ethischen Grundsätzen“ orientiert. In Wirklichkeit aber betreibt das Land eine zynische Machtpolitik und ist nur an kurzfristigen Vorteilen interessiert. Die Folge könnte eine regionale Katastrophe, eines Tages vielleicht sogar ein globaler Atomkrieg sein. Der Kaschmirkonflikt, der bereits zu zwei größeren Kriegen geführt und insgesamt 60 000 Menschen das Leben gekostet hat, ist nach indischer Lesart allein den bösen Absichten Pakistans zuzuschreiben. In Wahrheit handelt es sich in Kaschmir jedoch um eine Rebellion der muslimischen Mehrheit, die sowohl die indische Politik als auch die Agitation der islamistischen Gruppen ablehnt.1 Internationale Vermittlungsangebote hat Indien stets ausgeschlagen, da sich nur in bilateralen Verhandlungen erreichen lässt, worum es der Regierung in Neu-Delhi in erster Linie geht: eine Demonstration der Stärke. Neu ist das Verhalten nicht. 1949 annektierte Indien zwei Drittel Kaschmirs, 1961 geschah dasselbe mit Goa2 , und Ende der Achtzigerjahre gab es wiederholt blutige Interventionen in Sri Lanka.

Gestern wie heute instrumentalisiert Indien den Kaschmirkonflikt für innenpolitische Ziele.3 Es sei daran erinnert, dass die derzeitige Koalitionsregierung unter Atal Bihari Vajpayee (Bharatiya Janata Party, BJP) ihre Finger im Spiel hatte, als im März dieses Jahres Dutzende Hindus und Hunderte, ja vielleicht Tausende Muslime bei den Massakern in Gujurat ums Leben kamen. Nach Ansicht eines örtlichen Beobachters „gibt es Hinweise auf die Existenz eines organisierten Netzes, das auf Befehl Aufstände initiiert“, und die sind ohne Frage im Sinne der Regierungspartei BJP.4 Dann aber verschwand das schreckliche Ereignis rasch wieder aus den Schlagzeilen, als die Regierung Rache für den Anschlag der kaschmirischen Guerilla auf das indische Parlament im Dezember 2001 ankündigte.

In der Tat ist die derzeitige Krise ein Paradebeispiel für die „Theorie vom Krieg als Ablenkung“. Arundhati Roy resümierte mit gewohnter Prägnanz: „Kaschmir ist für die indische wie für die pakistanische Regierung kein Problem, sondern im Gegenteil eine stets verfügbare Lösung von spektakulärer Wirksamkeit.“5 Terroristen sind für eine wacklige Regierung oft die besten Freunde, und Vajpayee ist zweifellos nicht so dumm, an seine kriegstreiberische Rhetorik zu glauben.6

Überdies rechnet sich der indische Ministerpräsident mit seinem gefährlichen Spiel strategische Vorteile auf der internationalen Bühne aus. Es dürfte ihm nicht missfallen, dass sich seit einigen Wochen hochrangige US-Beauftragte in der Region die Klinke in die Hand geben, um den „bewaffneten Arm Indiens“ zurückzuhalten und Pakistan zu effektiven Schritten gegen die kaschmirischen Rebellen aufzufordern. Seit dem 11. September kann sich Vajpayee auf eine engere militärische Zusammenarbeit mit den USA verlassen, denn Washington betrachtet Indien nicht nur als – wenn auch unfolgsamen – Verbündeten im Kampf gegen den Terrorismus, sondern langfristig auch als mögliches Gegengewicht zu China. Die Attentate von New York und Washington haben die bilateralen Beziehungen erneut beflügelt, die sich seit dem Ende der Bipolarität bereits nachhaltig erwärmt hatten.

Den Anstoß dazu gab US-Präsident Clinton bei einem Gipfeltreffen 1994. Ein Jahr später kam der damalige US-Verteidigungsminister William Perry zu Gesprächen nach Neu-Delhi, und Clintons fünftägiger Staatsbesuch im Jahr 2000 wurde ein rauschender Publicityerfolg. Unter der Bush-Administration nahm die militärische Annäherung seit dem 11. September konkretere Formen an. Washington hob die Sanktionen auf, die eine Antwort auf die indischen Atomversuche 1998 gewesen waren, intensivierte die gemeinsamen Patrouillen mit der indischen Marine in der Meerenge von Malakka, organisierte im Mai dieses Jahres gemeinsame Bodenmanöver und genehmigte den Export von Hochleistungsrechnern für Indiens ziviles Weltraumprogramm. Nach Aussage des US-amerikanischen Generalstabschefs Richard Myers hat die „bilaterale militärische Zusammenarbeit ein beispielloses Niveau erreicht“7 .

Die Klimaveränderung seit dem Ende des Kalten Krieges ist in der Tat frappierend, wenn man sich das erstaunlich kurzsichtige Verhalten der amerikanischen „Falken“ in den Jahren zuvor vergegenwärtigt. Sie hatten versucht, Indien in ihren Kampf gegen den Kommunismus einzuspannen, und konnten deshalb die regionalen Konfliktlinien häufig nicht richtig lesen. Vor der Unabhängigkeit Indiens hatten Nehru und Gandhi die Sympathie der US-Bevölkerung gewonnen, und die Regierung in Washington hatte die Briten gedrängt, das Land in die Unabhängigkeit zu entlassen. Doch als sich dann der Kalte Krieg intensivierte und Nehru im Rahmen seiner Neutralitätspolitik „freundschaftliche Beziehungen“ zu beiden Blöcken anstrebte, reagierte Washington ungehalten. Zwar war der indische Staatschef der Ansicht, die USA übertrieben die kommunistische Gefahr ein wenig und heizten den Rüstungswettlauf in Südasien unnötig an, doch war die Neutralität Indiens anfangs eher dem Westen zugeneigt. Erst die Waffenlieferungen der USA an Pakistan, die 1953 anliefen, veranlassten Neu-Delhi, sich der Sowjetunion zuzuwenden.

Damals wie heute hat die Kaschmirfrage die US-Strategie kompliziert. Eisenhower wollte das Problem lösen, erreichte aber nichts. John F. Kennedy hatte andere Sorgen, und Lyndon B. Johnson entdeckte seine Sympathie für den pakistanischen Staatschef Ayub Khan. Während er Indiens Forderung nach dem F-104-Jäger ablehnte, lieferte er Pakistan seit 1961 gleich ganze Geschwader dieses Kampfflugzeugs. Als sich Indien daraufhin erwartungsgemäß bei der Sowjetunion um MIG-Jäger bemühte, ließ sich Moskau nicht zweimal bitten. Besonders irritiert reagierte Neu-Delhi, als die Pakistaner das US-Militärgerät im Indisch-Pakistanischen Krieg von 1965 einsetzten.

Für Verstimmung sorgte natürlich auch die Atomwaffenfrage. 1966 kündigte Indira Gandhi den Nichtverbreitungsvertrag, weil er den „Armen“ strikte Regeln auferlege, während die „Reichen“ nichts unternähmen, ihr Nukleararsenal abzubauen.8

Indien misstraute den amerikanischen Absichten nicht zu Unrecht. Nixon kalkulierte bei seinen Annäherungsversuchen an China mit dem Wohlwollen des pakistanischen Militärdiktators Yahya Khan und sah im dritten Indisch-Pakistanischen Krieg von 1971 keinen Anlass, Druck auf Pakistan auszuüben. Die Annäherung an China hieß auch, dass die USA den Indern im Fall eines chinesischen Angriffs nicht beistehen würden. Deswegen unterzeichnete Indira Gandhi noch im selben Jahr einen Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion, ohne allerdings allzu enge Bande zu knüpfen, um bessere Beziehungen zu den USA für die Zukunft nicht von vornherein auszuschließen. Zunächst jedoch avancierte die Sowjetunion zum Haupthandelspartner. Es folgte der mit Sanktionen beantwortete Atomversuch von 1974, der Indiens Stellung gegenüber China und Pakistan festigen sollte.

1979 gewährten die USA dem pakistanischen Diktator Zia ul-Haq Militärhilfe, um den afghanischen Widerstand gegen die Sowjetunion zu stärken. Indira Gandhi wiederum sah keinen Grund, den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan zu verurteilen, und wagte es gar, das Vorgehen der Sowjets mit gewissen US-Aktionen in Zentralamerika zu vergleichen. Damit waren die indisch-amerikanischen Beziehungen auf ihrem Tiefpunkt angelangt.

Strategische Allianzen zwischen ungleichen Partnern

IM Grunde erwarteten sich die USA nicht viel von Indien. Auf der regionalen Prioritätenliste rangierte das Land hinter China und Pakistan. Ein US-Botschafter erklärte 1975 lakonisch: „Amerikas Interesse an Indien ist im Wesentlichen humanitärer und kultureller Natur.“9 Und der damalige amerikanische UN-Botschafter Daniel Patrick Moynihan meinte irritiert, außer Demokratie habe Indien kaum mehr als „ansteckende Krankheiten“ zu bieten.

Angesichts der schwindenden Bedeutung Russlands nach dem Ende des Kalten Kriegs bahnte Indien engere Beziehungen zu den USA an, um den Einfluss Chinas und Japans in der Region einzudämmen. Nach Jahren ungezügelter Staatsausgaben unter Rajiv Gandhi und den drastischen Ölpreissteigerungen nach dem Golfkrieg sah sich Indien im Juli 1991 genötigt, den Internationalen Währungsfonds um Hilfe anzugehen und die Wirtschaftspolitik auf Sparkurs zu bringen. Als sich der Chef der indischen Kongresspartei, Narasima Rao, und die Staatsregierung für eine Öffnung des indischen Markts aussprachen, rieben sich die US-amerikanischen Investoren die Hände.10 Von 128 Millionen Dollar im Jahr 1991 stiegen die amerikanischen Direktinvestitionen auf 544 Millionen Dollar in 1993, das US-Handelsministerium erklärte Indien noch im selben Jahr zum „wichtigen Schwellenland“. Seither haben sich die USA zum Haupthandelspartner und führenden Auslandsinvestor Indiens entwickelt.

Inzwischen erhebt Indien Anspruch auf Anerkennung als regionale Führungsmacht in Südasien und träumt von einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Doch so spektakulär die Annäherung zwischen Neu-Delhi und Washington auch sein mag, die USA müssen auf Ausgewogenheit achten, da sie in Pakistan mehr denn je stabile innenpolitische Verhältnisse brauchen. Gerade wegen der aktuellen Zuspitzung des Kaschmirkonflikts und der Gefahr eines offenen Krieges beteiligt sich Pakistan derzeit kaum noch an den für die USA überaus wichtigen Antiterror-Operationen.

Zudem ist Washington auch auf eine kooperative Haltung Chinas angewiesen, auch wenn gewisse Kreise der US-Rechten Peking nach wie vor als strategischen Rivalen sehen, dessen Wirkungskreis es einzudämmen gelte. Überdies strebt Washington das Einfrieren der Produktion und Ausfuhr spaltbaren Materials an. Daher der Versuch, Indien zu bewegen, den Nichtverbreitungsvertrag sowie das Raketentechnologie-Kontrollabkommen zu unterzeichnen und auf weitere Atomversuche zu verzichten – ein Ansinnen, das Neu-Delhi höflich, aber bestimmt ablehnte.

Von einer strategischen Allianz, die sich manche in Indien erhoffen, sind die indisch-amerikanischen Beziehungen also noch weit entfernt. Eine gute Nachricht für Moskau, denn damit wird Russland in absehbarer Zukunft der wichtigste Waffenlieferant Indiens bleiben.

dt. Bodo Schulze

* Kurt Jacobsen ist Forscher an der Universität Chicago und der London School of Economics, Sayeed Hasan Khan arbeitet als Journalist in Karatschi, Neu-Delhi und London.

Fußnoten: 1 Dazu Roland-Pierre Paringaux, „Keine demokratische Lösung für Kaschmir in Sicht“, Le Monde diplomatique, Januar 2002. 2 Goa, der kleinste indische Bundesstaat, war bis 1961 eine portugiesische Kolonie. 3 Indira Gandhi musste ihre politischen Manöver ebenso wie ihr Sohn Rajiv mit dem Leben bezahlen, die eine 1984, der andere 1991. Beide ermutigten sie die Extremisten unter den Sikhs beziehungsweise den Tamilen, um die Opposition zu spalten. Dazu Barabara Crossette, „India Facing the Twenty-First Century“, Bloomington (Indiana University Press) 1993. 4 Dazu Ryaz Ahmad, „Gujurat Violence: Meaning and Implications“, The Economic and Political Weekly, Bombay, 18. Mai 2002, sowie Jan Breman, „Communal Upheaval as Resurgence of Social Darwinism“, The Economic and Political Weekly, Bombay, 20. April 2002. 5 The London Observer, 2. Juni 2002. 6 Dazu Ashley Tellis, „India‘s Emerging Nuclear Posture“, New Delhi (Oxford University Press) 2001. 7 „US and India Finding New Common Ground and Friendship“, The New York Times, 10. Juni 2002. 8 Kritikern zufolge sind Pakistan und Indien wegen fehlender US-Unterstützung ihrer zivilen Atomprogramme genötigt, ihren radioaktiven Abfall wiederaufzubereiten und verstärkt Plutonium einzusetzen. 9 Lloyd Rudolph und Susanne Hoecher Rudolph, „The regional Imperative: The administration of US Foreign Policy Towards South Asian States Under Presidents Johnson and Nixon“, Atlantic Highlands, New Jersey (Humanities Press) 1980. 10 Selig Harrison und Geoffrey Kemp, „India & America after the Cold War“, Bericht der Carnegie Endowment Study Group, Washington D.C., 1993.

Le Monde diplomatique vom 09.08.2002, von KURT JACOBSEN und SAYEED HASAN KHA