Etwas abseits der Realität
INDIEN hat Konjunktur – zumindest wo es die Form des englischsprachigen Romans annimmt. Das hat, wie immer bei derartigen literarischen Moden, seine Vor- und Nachteile. Zwar gab es seit den mittlerweile ins Klassikerregal aufgestiegenen Namen Tagore, Narayan oder Raja Rao immer ein paar indische Autoren im Programm britischer und nordamerikanischer Verlage. Seit ein paar Jahren jedoch scheinen die englisch schreibenden Autoren aus Indien eine wahre Faszination auszulösen. Eine Flut indischer Romane kommt auf den Buchmarkt, die sich durchaus mit dem Boom der lateinamerikanischen Literatur in den Sechzigerjahren vergleichen lässt. Woher rührt dieser sagenhafte Erfolg des indischen Romans?
Von PIERRE LEPAPE *
Fangen wir mit den Schattenseiten an, jener Spielart des indischen Romans, die von der ersten bis zur letzten Seite den ästhetischen und kommerziellen Vorgaben der westlichen Verlagsindustrie genüge tut. Hier dient Indien einmal mehr als unerschöpflicher Fundus exotischer Bilder und kultureller Klischees, die nach den bewährten Rezepten der Massenkultur mit Gefühlen gewürzt werden. Selbst die Kritik an den kolonialen Verhältnissen läuft dabei meist ins Leere, weil diese in eine ferne, unspezifische Vergangenheit abgedrängt werden. Den größten Erfolg in diesem Genre hatte Vikram Seths monumentale Saga „Eine gute Partie“1 – die ausufernde Geschichte von vier Familien im Indien der Fünfzigerjahre. Das Buch enthält sämtliche Zutaten eines „Indertums“, das die Fantasmen und Vorurteile des postkolonialen Denkens bedient.
Erheblicher Werbeaufwand wurde um den Romanerstling des britisch-kaschmirischen Journalisten Hari Kunzru getrieben. Die britische Presse hat den Autor kürzlich als „ready-made literary star“ vorgestellt. Sein Buch „Die Wandlungen des Pran Nath“2 erzählt in farbenfrohem Cinemascope von den Abenteuern des Helden Razdan: Als Sohn eines englischen Abenteurers und einer reichen Inderin, die seinetwegen Ehebruch beging, begibt sich Razdan im England der Gegenwart auf die Suche nach seiner „gemischtrassigen“ Identität.
Das Thema der ethnischen Mischung ist auch in den besten indischen Romanen allgegenwärtig – etwa bei Anita Desai, die 1937 in Mussoorie am Fuß des Himalaja als Tochter einer deutschen Mutter und eines bengalischen Vaters zur Welt kam, oder in den Büchern von Ruth Prawer Jhabvala, die polnischen Ursprungs ist, einen Inder geheiratet hat und seither in den Vereinigten Staaten lebt. Ihr Roman „Hitze und Staub“ hat ihr 1975 den Booker Prize eingetragen. Autorinnen wie Desai, Jhabvala oder auch Bharati Mukherjee, die in Kalkutta geboren wurde und heute in Berkeley lehrt, behandeln das Problem der vielfältigen Identität auf hohem Niveau: Sie erweitern und differenzieren es, tragen es im Ton des intimen Bekenntnisses (Desai), als Sittenkomödie (Jhabvala) oder mit bitterem Humor gespickt (Mukherjee) vor und bringen so die gesamte individuelle und kollektive Thematik – vom kulturellen Konflikt über die Teilung Indiens, Exil, Geschlechtertrennung, Ablehnung des Anderen bis hin zu Zerstörung und Erneuerung – zwischen zwei Buchdeckel.
Nicht zufällig war gerade von drei Schriftstellerinnen die Rede. Denn es ist offensichtlich, dass die Renaissance des indischen Romans – im Gegensatz zum machistisch akzentuierten Boom des lateinamerikanischen Romans in den Sechzigerjahren – quantitativ und qualitativ von Frauen geprägt ist. Den erwähnten Autorinnen wären noch Nayantara Sehgal, Kamala Markanday und vor allem Shauna Singh Baldwin hinzuzufügen. Letztere ist in Montreal geboren, in Indien aufgewachsen und lebt heute in den Vereinigten Staaten. Für „What the Body Remembers“ (Anchor Books/Doubleday, 2001) wurde sie mit dem Commonwealth Best Book Award ausgezeichnet. Und schließlich fehlt in dieser Aufzählung noch die literarische Entdeckung der letzten Jahre: Arundhati Roy.
Mit dem internationalen Erfolg ihres ersten, 1998 erschienenen Romans „Der Gott der kleinen Dinge“3 wurde Arundhati Roy über Nacht weltberühmt. Anders als die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen hat sich Roy aber entschieden, in Delhi zu bleiben und von dort aus ihren literarischen und politischen Kampf weiterzuführen. Um einen Kampf handelt es sich tatsächlich, auch wenn „Der Gott der kleinen Dinge“, der im südwestlichen Bundesstaat Kerala und vor dem Hintergrund der dortigen Variante des Kommunismus spielt, vor allem durch seine erzählerische Virtuosität begeistert – aber ist es nicht der größte Sieg, die Engländer ausgerechnet in puncto Muttersprache zu übertreffen?
Roys politisches Engagement belegen unter anderem zwei Essays, die unter dem Titel „The Cost of Living“4 1999 erschienen sind. Der erste untersucht detailliert und packend den Umgang der indischen Behörden mit Bürgerrechten beim Bau der großen Staudämme. Darin beschreibt Roy die brutale Enteignung von Dorfbewohnern, die das Pech hatten, in Gegenden zu leben, die von der Verwaltung in Delhi zur Flutung freigegeben worden sind. Der zweite Essay ist ein ebenso energisches wie verzweifeltes Pamphlet über die atomare Aufrüstung in Indien. Hier wendet sich die Autorin dem geistigen wie wirtschaftlichen Desaster zu, das die Entscheidung für Kernwaffen bedeutet.
Nach den Attentaten vom 11. September veröffentlichte Arundhati Roy im britischen Guardian ihren wahrscheinlich bekanntesten Essay. Unter dem Titel „The Algebra of Infinite Justice“ (29. September) beschreibt sie Bush und Bin Laden als „Zwillinge“, die „allmählich eins und sogar austauschbar werden. (…) Beide sind gefährlich bewaffnet – der eine mit dem nuklearen Arsenal des obszön Mächtigen, der andere mit der glühenden, zerstörerischen Macht des absolut Hoffnungslosen. Feuerball und Eispickel. Keule und Axt. Man sollte nur nicht vergessen, dass der eine so wenig akzeptabel ist wie der andere.“5
Salman Rushdie, 1947 in Mumbai (Bombay) geboren, ist der erste nichtbritische Autor, der mit dem Booker Prize, dem angesehensten Literaturpreis Großbritanniens, ausgezeichnet wurde. Das war 1981, und der Roman hieß „Mitternachtskinder“6 . Im Stil einer monströsen Farce – ausdrücklich an Vorbildern wie Rabelais, Cervantes, Sterne, Grass und damit an die westliche Romantradition angelehnt – schreibt Rushdie den zwangsläufig brüchigen und unförmigen, immer wieder in sich zusammenfallenden Roman der Geschichte Indiens und Pakistans seit der Unabhängigkeit und der tragischen Teilung von 1947. Rushdie durchleuchtet das Ende des Traums von der Unabhängigkeit und Einheit der indischen Kultur und beschreibt, wie der Traum im Albtraum und im Massaker endete.
Salman Rushdie ist der Sohn indischer Muslime. Seine Familie musste im Zuge der Teilung von 1947 nach Pakistan flüchten. Rushdie hat keinen anderen Ausweg gefunden, als sich sein ureigenes, symbolisches, zugleich geeintes und zerrissenes Indien zu erschaffen. „Meine Geschichte und mein fiktives Land existieren. Doch wie ich selbst liegen beide etwas abseits der Realität. Ich finde diese Dezentrierung notwendig. Natürlich kann man über ihren Wert streiten. Dennoch habe ich den Eindruck, dass das, was ich sage, nicht nur auf Pakistan zutrifft.“
Rushdie war sich über die Hintergründe seiner großen Akzeptanz in Großbritannien stets bewusst. Noch bevor die iranischen Behörden die „Satanischen Verse“7 mit der Fatwa belegten und Rushdie damit zur weltweiten Symbolfigur der verfolgten Redefreiheit machten, hat er die Widersprüche seiner Situation als postkolonialer Schriftsteller dargelegt: Seit dem 17. Jahrhundert hat England mit seinen Sitten, Riten und Spielen auch seine Sprache exportiert. Das Englische galt auf dem Subkontinent als einigender Faktor und als Mittel zur Teilhabe an allem, was universell und modern war. In dieser Sprache offenbarten Englands passionierte und oft sehr gebildete Indienforscher den indischen Intellektuellen die Ausbreitung, Tiefe und außergewöhnliche Reichhaltigkeit der indischen Kultur, also einer Kultur, von der die Inder selbst nur mehr lokale, bruchstückhafte und einseitige Kenntnisse besaßen. Die englische Sprache war ein Vehikel der wiederentdeckten Einheit und das vermittelnde Medium, um die Traditionen Indiens in das große Weltkonzert der Kulturen einzubringen.
Das vielleicht beeindruckendste Beispiel dieser kulturellen Dezentrierung gab Anfang des 20. Jahrhunderts der Dichter-Prophet Rabindranath Tagore, der 1913 den Literaturnobelpreis erhielt. Tagore wurde 1863 in Kalkutta geboren. Er war stark vom pantheistischen Denken und von der Mystik der Liebe und der Schönheit der altindischen Upanischaden geprägt. 1901 gründete er die Visva-Bharati-Schule, in der Inder die Kultur Indiens an ihre Landsleute weitergeben. 1910 veröffentlichte Tagore in bengalischer Sprache „Gitanjali“, eine Sammlung von etwa hundert kurzen Gedichten, zu denen er auch Melodien komponierte. Tagore übertrug diese Gedichte selbst ins Englische. Dabei handelte es sich eher um eine Neufassung als um eine Übersetzung. Tagore wollte schließlich die britische Leserschaft erreichen, vereinfachte deshalb die hochkomplexe traditionelle Metrik und nahm Rücksicht auf die sittenstrenge Empfindsamkeit des protestantischen England.
Das Buch wurde sofort ein Riesenerfolg. Der Verlag MacMillan verkaufte Tagore in London und New York als Symbol einer geistig-moralischen Erneuerung. Der Dichter sollte helfen, den durch Materialismus und Wissenschaftsgläubigkeit drohenden Verfall der westlichen Werte aufzuhalten. In Frankreich übersetzte André Gide – natürlich nach der englischen Fassung – die Gedichtesammlung Tagores unter dem Titel „L‘Offrande Lyrique“.8 Das garantierte ihr eine Verbreitung, die auch der Erste Weltkrieg nicht unterbrechen sollte. Doch obwohl Tagore sein ganzes Talent auf die englische Version seiner Gedichte verwandte, beruhte seine Weihe zum universellen – also westlichen – Dichter auf einem Missverständnis, auf ideologischer Ausbeutung und der Banalisierung seines Denkens und seiner Dichtung. Das zeigt sich nicht zuletzt in dem Schweigen, das den Großteil seines reichhaltigen Werkes in bengalischer Sprache bis heute umgibt. Ein weiterer Beleg dafür ist die Tatsache, dass französische wie deutsche Verlage Tagore lange Zeit eher aus dem Englischen übersetzen ließen als aus dem bengalischen Original.
Tagore war ein militanter Antikolonialist und Vertrauter Gandhis. Er unterzog die indische Gesellschaft einer häufig scharfen Kritik, weil sie sich dem Modell des britischen Kapitalismus so willig fügte – etwa in dem großartigen Roman „Rakta-karabî“ („Red Oleanders“), der 1925 in London erschien, oder in der wunderschönen Novelle „Tschaturanga“, die unter dem Titel „A quatre voix“ 1925 mit einem Vorwort von Romain Rolland in Paris verlegt wurde. Tagore musste dabei seine eigene Sprache – und mit ihr einen wesentlichen Teil seiner Kultur – opfern, um diese Kultur allgemein zugänglich zu machen.
An diesem Dilemma hat weder die Entkolonisierung noch die unter dramatischen Umständen erlangte Unabhängigkeit von Indien und Pakistan etwas Grundlegendes verändert. Salman Rushdie beschreibt das folgendermaßen: „Die Eroberer mit der rosa Haut haben sich im Kriechgang nach Hause zurückgezogen; die Boxwallahs, die Memsahibs und die Bwanas haben ihre Parlamente, ihre Schulen, ihre Fernstraßen und die Cricketregeln zurückgelassen.“ Dabei haben sie noch etwas viel Wichtigeres dagelassen: das Englische als vorherrschende Literatursprache und die Metropole London, die auch für indische Literatenkreise als der einzige Ort gilt, an dem glaubwürdige literarische Weihen vergeben werden.
Bei all seinem kritischen Elan und seiner Schärfe bleibt auch Rushdie dieser Logik verhaftet. Saladin Chamcha, einer der Helden in den „Satanischen Versen“, hat viele Ähnlichkeiten mit Rushdie. Wie der Autor lebt Chamcha als indischer Einwanderer in London, weil er das politische, gesellschaftliche und intellektuelle Klima seines Landes so erstickend findet. Denn dieses Land hat zwar den Märchengrund seiner Kultur verloren, steht aber weiterhin im Bann seiner uralten blutrünstigen Dämonen. Um nun seine Entscheidung für London als Wahlheimat zu begründen, bleibt Chamcha nichts anderes übrig, als London einer anderen Heimat der englischsprachigen Literatur gegenüberzustellen: den Vereinigten Staaten.
Chamchas Sarkasmus vermag seine Verletzung nicht zu verbergen: „Unter den Dingen des Geistes hatte er am meisten die proteische und unerschöpfliche Kultur der englischsprachigen Völker geliebt; hatte gesagt, (…) Othello, ‚nur dies eine Stück‘, sei so viel wert wie der gesamte Ausstoß jedes beliebigen Dramatikers jedweder Sprache (…). So hatte er seine Liebe dieser Stadt geschenkt, London, und sie der Stadt seiner Geburt vorgezogen wie auch jeder anderen, hatte sich an sie herangeschlichen, verstohlen, mit wachsender Erregung, war zur Salzsäule erstarrt, wenn sie in seine Richtung blickte, hatte davon geträumt, derjenige zu sein, der sie besaß und dadurch, gewissermaßen, zu ihr wurde, so wie im Spiel ,Großmutter, wie weit darf ich reisen?‘ das Kind, das den berührt, der ,es‘ war (,dran ist‘, würden die jungen Londoner heute sagen), der diese teure Identität übernimmt (…). Hätten denn die Vereinigten Staaten mit ihrem Sind-Sie-jetzt-waren-Sie-je Ho Tschi Minh auch nur erlaubt, in ihren Hotelküchen zu kochen? Was hätte deren McCarran-Walter-Gesetz über einen zeitgenössischen Karl Marx zu sagen, der rauschebärtig vor ihren Toren stünde und ihre gelben Linien überschreiten wollte? O Großes London! Wahrlich arm wäre jener an Seele, der seine verblichene Pracht, sein neues Zaudern nicht den heißen Gewissheiten jenes transatlantischen Neuen Roms und seinem nazifizierten architektonischen Gigantismus vorzöge (…).“9
Wie dem auch sei: An die Stelle von London als Zentrum der internationalen Anerkennung für indische Schriftsteller treten heute mehr und mehr die Vereinigten Staaten. Einige der bekanntesten Autoren der „indischen Nouvelle Vague“ leben und publizieren längst hier, und nicht mehr in der mythischen Hauptstadt des Commonwealth: etwa Amitav Gosh, der 1956 in Kalkutta geboren ist und heute in New York lebt; Manil Sauri, 1960 in Mumbai geboren und heute Professor an der University of Maryland; oder Akhil Sharma, der 1971 in Delhi geboren ist, in Harvard studiert hat und in Manhattan lebt.
Einige Autoren haben es mit der Anpassung an die westliche Herrschaftslogik ziemlich weit getrieben. So hat etwa V. S. Naipaul, der Romancier aus Trinidad mit indischen Wurzeln, die Werte der „Rosahäutigen“ in Gänze übernommen und die alten kolonisierten Völker mit demselben wütenden, schulmeisterlichen und moralisierenden Blick gemessen wie die ehemaligen Kolonisatoren. Nicht zuletzt das wird ihm den Literaturnobelpreis 2001 eingetragen haben.
Der neue indische Roman ist bei all seiner Vielfalt auf faszinierende und einzigartige Weise Mikrokosmos und Makrokosmos in einem. Er ist ein Spiegel, der die Spaltungen, Partikularismen und provinziellen Nationalismen bündelt. Und zugleich ist er eine lebendige Zusammenfassung der Literaturen der Welt, ob aus dem Osten oder Westen, dem Norden oder Süden, aus vergangener Zeit oder aus unserer.
dt. Herwig Engelmann
* Schriftsteller, Autor u. a. von „André Gide, le messager“, Paris (Poche) 2001.