Die Dinosaurier sind wir
DINOSAURIER und Menschen aus der Zeit der Vorgeschichte sind wieder in Mode gekommen. Das hat es schon einmal gegeben: Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts inszenierten zunächst die Literatur und dann der Comic jene „verlorenen“ Welten, in denen archaische Kreaturen und Wesen aus höher entwickelten Kulturen zusammenlebten. Inzwischen hat das Wissen über die Vor- und Frühgeschichte sprunghaft zugenommen. Das bedeutet, dass der Dinosaurier und der erste Mensch heute aus ganz anderen Motiven zu neuen Ehren kommen: weil die Menschen – mit ihrer „Antiquiertheit“ konfrontiert – sich mit diesen Geschöpfen identifizieren und sich fragen, ob sie demnächst nicht auch zu den ausgestorbenen Arten gehören werden.
Von SERGE TISSERON *
Waren es in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts die Entdeckungen vormals unbekannter Völker, so macht heutzutage die Gentechnik immer neue Schlagzeilen und lädt zu wildesten Träumen ein. Werden künftige Forschergenerationen neue, mit ungeahnten Fähigkeiten begabte Menschenwesen schaffen? Wird derzeit in den Labors ein Sprung der Menschheitsentwicklung vorbereitet, der dem vor 35 000 Jahren gleicht, als der Homo sapiens den Neandertaler abzulösen begann?
In den unerhört erfolgreichen Steinzeitromanen ihrer Ayla-Saga, die Jean M. Auel weltberühmt gemacht haben,1 beschreibt die Autorin einfühlsam das Leben einer Neandertaler-Gemeinschaft, die unserer modernen Welt auffallend ähnelt. Der Leser schlüpft in die Haut eines Neandertalers, der ein kleines, verwaistes Homo-sapiens-Mädchen aufnimmt und dessen ungeheure Fähigkeiten bestaunt. Jean Auel trifft den Nerv der Zeit. Denn wenn es stimmt, dass die Gentechnik dabei ist, das menschliche Wesen von Grund auf zu verändern, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass wir uns eines Tages so fühlen werden wie einst die Neandertaler.
Diese Angst ist umso lebendiger, als sie sich nicht aus Sciencefiction-Hirngespinsten speist. Erfahren viele Erwachsene nicht tagtäglich, was es heißen könnte, „aus dem Rennen“ zu sein? Wobei die Konkurrenten nicht neuartige, mit außerordentlichen Fähigkeiten begabte Kreaturen sind, sondern die eigenen Kinder. Ähnlich wie Auels Neandertaler versuchen sie, nicht den Anschluss zu verlieren, und werden doch das Gefühl nicht los, dass sie irgendwann auf der Strecke bleiben.
Aufmerksam versuchen sie, die neuen Technologien zu verstehen und „jung“ zu bleiben, doch alles geht ihnen zu schnell. Am liebsten würden sie ein allgemeines Moratorium erwirken – für die Bilderflut, die Wirtschaft, die Renten und die Datentechnologien. Einige würden sogar einen starken Mann wählen, würde der versprechen, die Zeit anzuhalten und diese beklemmende Flucht in die Zukunft zu stoppen. Schlichter ausgedrückt: Viele Leute suchen in solchen Steinzeitsagas einen – wenngleich verschobenen – Einblick in die eigenen Ängste.
Dinosaurier und Neandertaler interessieren uns auch, weil sie zwei uralte Fragen noch einmal stellen: Was war der Mensch, bevor er auf die Welt kam, und wer sind seine Vorfahren? Beginnen wir mit unser aller Vorgeschichte. Kinder können sehr wohl zwischen Pokémons oder Trollen und Dinosauriern unterscheiden. Dinosaurier hat es wirklich gegeben, sie waren vor den Menschen da, so wie die Babys vor den Kindern.
Täglich versichert uns die Werbung, man könne heute alt und jung, ja sogar männlich und weiblich zugleich sein. Aber niemand kann gleichzeitig Säugling und erwachsen sein. Diese Gleichzeitigkeit ist so unmöglich wie die von vorgeschichtlichen Ungeheuern und den Menschen. Wir müssen uns daran gewöhnen, sie nicht zusammenzudenken. Zudem sind die Dinosaurier auf rätselhafte Weise plötzlich verschwunden, ähnlich wie bei unserem Übergang vom Säugling zum Kind: An die erste Zeit, da wir der Sprache nicht mächtig waren, erinnern wir uns kaum.
Das Kind überträgt also Fragen über seine Abkunft, die es sich selbst stellt, auf den Dinosaurier. Dessen unbewegliche, massige Gestalt steht für die Unbeweglichkeit des Neugeborenen. Sein grenzenloser Appetit erinnert an jene frühkindliche Zeit, wenn der Säugling seinen Bezug zur Welt dadurch herzustellen sucht, dass er alles in den Mund nimmt, aber auch an die Angst, verschlungen zu werden. Auch in der Aufteilung der Dinsosaurier in Fleisch- und Pflanzenfresser spiegeln sich zwei widerstrebende Gefühle des Kindes: einesteils friedfertig und sozial zu sein wie die großen, in Rudeln lebenden Wiederkäuer, andernteils Fleisch fressend und räuberisch wie der Tyrannosaurus Rex.
Offensichtlich bieten die Dinosaurier kleineren Kindern die Möglichkeit, sich ihre eigene Vorzeit vorzustellen, die Zeit im Mutterleib. So jedenfalls kann man die Geschichte verstehen, die eine Grundschullehrerin erzählte: Nachdem sie in der Klasse über Schwangerschaften gesprochen hatte, forderte sie die Kinder auf, einen Fötus zu modellieren. Viele der von Kinderhand geformten Wesen waren zusammengekrümmt, wie auf dem Ultraschallbild. Einige hatten Stacheln auf dem Rücken, wie kleine Dinosaurier.
Dinosaurier rufen nicht nur das Geheimnis der eigenen Vorgeschichte in Kindern wach, sie haben noch mehr für sich: Ihre Gattung ist zwar ausgestorben, doch keine Gattung hat es zu vergleichbarem Nachruhm gebracht. Zu ihrer Zeit waren die Dinosaurier die Herren der Welt, so wie unsere Vorfahren. Und beide gingen nicht immer sanft miteinander um.
Kinder benutzen gerne Tiermetaphern, Erwachsene dagegen menschliche Metaphern. Die ersten Menschen sind wie unsere eigenen Vorfahren: weit entfernt und doch vertraut. Ihre Lebensweise ist uns fremd, ihre Gefühlswelt dagegen nahe. Doch warum ist dieses Menschheitstheater in so ferner Zeit angesiedelt, wo doch die Darstellung einer Familie im Mittelalter die gleiche fremde Vertrautheit wachrufen dürfte? Zuallererst, weil die Steinzeit ein Fundament für die gesamte Menschheit liefert, eine Art Plateau für alle, unabhängig von ihrem kulturellen Kontext – einen Beitrag zum globalen Bewusstsein gewissermaßen. Ein solcher Humanismus könnte bei Auel Pate gestanden haben, aber das erklärt noch nicht den phänomenalen Erfolg, der vielleicht eher daran liegt, dass viele Familien sich der eigenen jüngsten Geschichte kaum stellen können.
Bekanntlich stehen Familiengeschichten seit den 80er-Jahren im westlichen Kulturkreis hoch im Kurs. Viele Lehrer haben ihre Schüler aufgefordert, einen Stammbaum zu malen, um sie mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts vertraut zu machen. Die Kinder gingen mit Feuereifer an die Sache, ihre historischen und geografischen Fragen bereicherten ihre familiären Beziehungen, wenn auch leider viele Familien dem nicht folgten.
Häufig führte der Versuch zu Protesten, denn tatsächlich gibt es viele verborgene Familiengeheimnisse. Die Entschleierung der kollektiven Geschichte schreitet voran, wähend sich die Familiengeschichten widerstrebend winden. Quer durch alle Schichten gibt es Familien, die Gespräche und Fragen befördern, und andere, die ganze Teile der Familiengeschichte wegsperren.
Solange wir darauf warten müssen, dass all die Türen, hinter denen die Geheimnisse lauern, eines Tages aufgehen, bietet uns die Vorgeschichte neue Märchenstoffe. Die mitleidlose Welt der Dinosaurier und die Irrwege der letzten Vormenschen vermitteln die Schreckensvorstellung, man gehöre womöglich einer überholten Welt an – das schmerzliche Gefühl, als würden die ungelösten Lebensdramen unserer Vorfahren noch immer auf uns lasten.
dt. Marie Luise Knott
* Kinderpsychiater, Autor von „Die verbotene Tür“, München (Kunstmann) 1998.