09.08.2002

Die zweite Apartheid heißt Aids

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Die zweite Apartheid heißt Aids

Zehn Jahre nach der Befreiung droht in Südafrika eine erneute Apartheid, die mehr Menschenleben fordern könnte als der burische Rassismus. Von den 45 Millionen Einwohnern tragen bereits 5 Millionen das Aidsvirus in sich. Jahr für Jahr sind 250 000 Neuinfektionen und ebenso viele Aidstote zu beklagen. Dabei hat das Massensterben erst begonnen. Doch die Gesundheitsbehörden verweigern die wirksamen Medikamente. Daraufhin haben die HIV-Positiven beschlossen, um ihr Leben zu kämpfen. Ihre Aktionen geben dem Kampf des südafrikanischen Volks für Würde und Gleichheit neue Impulse.

Von PHILIPPE RIVIÈRE

ALS der Ehrengast des Morgens fragt, was sie über Aids wissen, überschlagen sich die Kinder der Grundschule von Dobsonville in Soweto mit Antworten: „Das ist ein Virus“, sagt einer der Schüler. „Die Leute sind ganz dünn, und dann sterben sie“, meint ein anderer. „Man muss Präservative nehmen“, meint ein dritter errötend. Seit einigen Monaten ziert ein Wandbild die Schule. Zwischen einem roten Band und einem Präservativ prangen die allgegenwärtigen Sprüche der Präventionskampagne: „Aids ist unter uns. Es ist eine Realität“, „Enthaltsamkeit – Treue – Kondome“, „Ein Freund bleibt auch mit Aids ein Freund“, und der eher rätselhafte Spruch: „Liebt sie genug, sprecht darüber“. Obwohl also die Kinder schon in jungen Jahren mit solchen Botschaften geradezu bombardiert werden, sind sie perplex, als Merce Makhalemele ihnen mitteilt, sie sei seit zehn Jahren HIV-positiv: Sie ist doch so schön und hat gerade so schön zu den Liedern getanzt! Wie sollte sie krank sein?

Merces Geschichte ist so traurig wie banal. „Als ich meinem Mann während meiner zweiten Schwangerschaft mitteilte, ich sei HIV-positiv, hat er mich beschimpft und geschlagen. Ich musste vierzehnmal genäht werden. Dann hat er mich mit unserem Sohn Thaban hinausgeworfen. Am nächsten Tag kam er in den Laden, in dem ich als Geschäftsführerin arbeitete, und sagte, ich solle meine Sachen abholen, weil er mit einer HIV-Positiven nicht leben könne. Ein Kollege muss den Chef angerufen haben, denn noch am gleichen Abend war ich meine Stelle los.“ Ohne Bleibe und ohne Arbeit begann für Merce Makhalemele ein Abenteuer anderer Art. „Von meinem Vater habe ich erfahren, dass tausende andere Menschen unser Schicksal teilen.“ Seither widmet sie sich der Aufgabe, das stille Virus sichtbar zu machen, an Schulen, bei internationalen Konferenzen, in den Medien.

Im Chris-Hani-Baragwanath-Hospital holte sich Merce Makhalemele Rat bei der jungen Kinderärztin Glenda Gray und dem Gynäkologen James McIntyre, die damals gerade eine kleine Abteilung für perinatale HIV/Aids-Forschung eröffnet hatten. Neun Jahre später zählt die Abteilung 40 Wissenschaftler. „Ich muss ständig neue Leute einstellen“, seufzt Glenda Gray. Allein im Jahr 2001 betreute sie 13 313 schwangere Frauen und Kleinkinder. Das Forschungszentrum engagiert sich auch in der Nevirapin-Affäre, die Südafrika derzeit erschüttert. Das Zentrum bietet, vom obersten Stockwerk des höchsten Gebäudes von Soweto aus, einen Ausblick über die Betondächer der White City, die einst die Familien weißer Polizisten vor Molotowcocktails schützten. Jenseits der Hügel reihen sich die „Streichholzschachteln“ der 1–1,5 Millionen Townshipbewohner. Rechnet man die Testergebnisse unter schwangeren Frauen hoch, so sind dort bereits 30 Prozent der jungen Erwachsenen mit HIV infiziert.

Nevirapin – ein antiretrovirales Medikament der zweiten Generation – wird sechs Stunden vor der Geburt verabreicht. Es verringert das Risiko, das Virus auf das Neugeborene zu übertragen, die statistische Wahrscheinlichkeit sinkt von 30 auf 15 Prozent. Agnes Fiamma ist Mitarbeiterin am Zentrum und meint: „Wenn wir den Frauen das Risiko einer Ansteckung bei der Geburt erklären, akzeptieren fast alle einen Aidstest, um gegebenenfalls mit Nevirapin behandelt zu werden.“ Doch was für Ärzte und werdende Mütter selbstverständlich ist, stößt bei der südafrikanischen Regierung auf erbitterten Widerstand. Diese hat seit den ersten Versuchen, die Mutter-Kind-Übertragung zu verhüten, nicht nur Nevirapin, sondern sämtliche antiretroviralen Wirkstoffe im öffentlichen Gesundheitswesen verboten – es sei denn, das Pflegepersonal hat sich aus Versehen infiziert.

Seit März dieses Jahres kursiert in Führungskreisen des regierenden African National Congress (ANC) ein 120-seitiges, die Nevirapin-Behandlung diffamierendes Dokument. Die anonymen Autoren werfen den Forschern Mord vor und behaupten, die Nevirapin-Befürworter würden von pharmazeutischen Labors bezahlt. Eine abstruse Beweisführung macht den angeblich giftigen Inhibitor AZT für den Tod des 36-jährigen Präsidentensprechers Parks Mankahlana verantwortlich, der als erbitterter Gegner antiretroviraler Medikamente aufgetreten war. „Bei dem Ausmaß der Epidemie kann doch gar kein Zweifel bestehen, dass viele Politiker HIV-positiv sind“, meint Gail Johnson, Adoptivmutter des neunjährigen Nkosi, der die Weltöffentlichkeit auf der Durban-Konferenz im Juli 2000 so rührte. „Jedes Mal, wenn einer von ihnen stirbt, geht das Gerücht um, er sei an Aids gestorben. Vielleicht stimmt es ja, aber was soll‘s. Das Problem ist, dass die Sache langsam zur nationalen Zwangsvorstellung wird, weil niemand offen darüber sprechen will.“

Fünf Millionen Südafrikaner haben sich infiziert, aber nur 10 Prozent von ihnen wissen es. Angesichts solcher Zahlen konnte es nicht ohne Konsequenzen bleiben, dass Staatspräsident Thabo Mbeki und andere hochrangige ANC-Funktionäre mit „wissenschaftlichen Dissidenten“ kokettiert haben, die den Zusammenhang zwischen HI-Virus und Aids leugnen. Erst unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft und kritischer Stimmen in Südafrika, vor allem der Nelson Mandelas, sah sich der Präsident im April dieses Jahres genötigt, auf Abstand zu den so genannten Dissidenten zu gehen.

Edwin Cameron, Professor für Rechtswissenschaften und ehemaliger Richter am Verfassungsgerichtshof, gibt zu Bedenken: „Die zweieinhalbjährige Blockade hat uns weit zurückgeworfen, eine Tragödie, weil Aids nun verstärkt als Schande wahrgenommen wird. Wir waren gerade so weit, dass Minister, Abgeordnete, Mitglieder der Provinzregierungen, Unterhaltungs- und Popstars, Fußballspieler und andere Meinungsführer offen über ihre HIV-Infektion sprachen. Doch als der Präsident öffentlich Zweifel anmeldete, verfestigten sich die Hemmungen wieder. Alles was sich an Grauen, Scham und Stigmatisierung um die Krankheit rankte, wurde erneut lebendig. Dabei ist der Kampf gegen die Mauer des Schweigens ganz wesentlich ein Kampf für elementare Menschenrechte.“

Bekannte Persönlichkeiten lassen sich privat behandeln, weil sie fürchten, dass man sie wegen Rassismus und mangelnder Loyalität anprangert, während sich in der Bevölkerung Unwissenheit und Verwirrung breit macht. Am 8. Jahrestag der ersten demokratischen Wahlen, die als Tag der Freiheit am 27. April gefeiert werden, übertrug das Fernsehen ein Telefongespräch zwischen Staatspräsident Mbeki und dem Millionär Mark Shuttleworth an Bord der internationalen Raumstation. „Das neue Südafrika“, frohlockte der Präsident, „hat allen unseren Mitbürgern neue Möglichkeiten eröffnet, sogar die Möglichkeit, in den Weltraum zu fliegen.“

Unten auf der Erde bereiten sich derweil die Kinder in den Schulen Sowetos tanzend auf den Tag der Freiheit vor. Frau Gandhi Mahlamvu setzt sich unter einem der wenigen Bäume der Township in den Schatten. Vor 28 Jahren wurde sie im Viertel Kliptown geboren, heute überlebt sie dank der mageren Rente ihrer Großmutter: „Die Leute besuchen keine Informationsveranstaltungen. Sie halten das für Zeitverschwendung: Grippe oder Aids, man ist halt krank. In der Zionskirche wird gepredigt, man könne durch Beten wieder gesund werden. Die Leute sagen auch, die sangomas – die traditionellen Heiler – hätten wirksame Kräuter gegen die Krankheit.“ Und die Ärzte? „Ich hoffe, dass sie irgendwann ein Mittel finden. Ich habe von AZT gehört, ich glaube, so hieß das.“ Und der Nevirapin-Prozess? Die antiretroviralen Medikamente? „Ich weiß nicht. Wir wissen so wenig.“

In den Townships herrscht große Verwirrung, doch Gandhi lässt sich nicht entmutigen. Tag für Tag begibt sie sich in den Shacks auf die Suche nach Aidskranken, die sich vor ihren Mitmenschen verstecken, um unerkannt zu sterben. „Sobald du sagst, dass du HIV-positiv bist, behandeln dich die Leute als minderwertiges Lebewesen. Du kannst dein Haus nicht mehr verlassen, nicht mehr auf die Straße. Viele begehen Selbstmord. Andere behaupten, sie hätten Diabetes und würden deshalb so abmagern. Eigentlich treibt uns die Armut in die Klauen des HI-Virus. Zu Hause haben wir nichts, und dann kommt so ein Typ mit vollen Taschen.“

Nach Auskunft von Soziologen und Ärzten ist das Verhältnis zwischen den Geschlechtern häufig von Tauschbeziehungen beherrscht. Wenn das Taxi unerschwinglich ist, sind viele Mädchen mangels öffentlicher Verkehrsmittel versucht, einen „Transportminister“ anzuheuern. Je nachdem besitzen sie außerdem einen „Finanzminister“ und einen „Freizeitminister“. An den Schultoren warten Sugar Daddys mit Geschenken: Markenklamotten, Handys und dergleichen mehr. Machismus und sexuelle Gewalt haben durch die Apartheid beklemmende Ausmaße erreicht. Die Journalistin Charlene Smith zitiert die Zahl von jährlich einer Million Vergewaltigungen – bei einer Bevölkerung von 43,8 Millionen. Auch deshalb konnte sich die Epidemie so schnell ausbreiten.1

Die Ausbreitung von HIV/Aids setzte zwar später, dafür aber umso rasanter als in anderen Ländern ein. Die Zahl der Waisen geht in die hunderttausende und soll Schätzungen zufolge auf eine Million im Jahr 2005 und 2,5 Millionen im Jahr 2010 ansteigen.2 Und das allein in Südafrika! Alarmierende Zeitungsberichte sehen bereits gewalttätige Kinderbanden marodieren und fragen sich, wie das Land einen solchen Schock verkraften soll. Indes verdecken die „Gefahren“ oft die konkreten Lebensumstände der Betroffenen. Die meisten Waisenkinder haben große Mühe, auch nur eine Sterbeurkunde für ihre Eltern oder ihre eigene Geburtsurkunde zu beschaffen, berichtet Linda Aadnesgard, die in Pietermaritzbrug, der kleinen Hauptstadt von KwaZulu-Natal, ein Hilfsprogramm für Waisen leitet: „Für die Verwaltung existieren sie einfach nicht. Und ohne Papiere haben sie weder ein Anrecht auf Sozialhilfe noch auf kostenlosen Schulbesuch.“

Viel Energie ist nötig, um die wachsenden Probleme zu bewältigen. Es wird immer schwieriger, eine Wohnung zu finden, den Apotheken gehen oft die Arzneimittel aus, Polizisten weigern sich, Anzeigen wegen Vergewaltigung aufzunehmen, die Behörden stellen Papiere vielfach erst nach gerichtlichen Klagen aus, Anträge auf Sozialhilfe verschwinden im Labyrinth der Verwaltung. So beginnen die HIV-Positiven sich zu organisieren und stellen Forderungen, die weit über die Frage der Aidsbehandlung hinausgehen. Ob es um den Wiederaufbau öffentlicher Gesundheitsdienste geht, um das Recht auf ein Grundeinkommen in Höhe von 100 Rand (10 Euro) oder um das Recht auf Arbeit – überall kämpfen die HIV-Positiven an vorderster Front.

Chefarzt Paul Kocheleff leitet die HIV-Abteilung der beiden Krankenhäuser in Pietermaritzburg, das eine in der Stadt, das andere in der Township: „1990 waren in KwaZulu-Natal erst 1 Prozent der Schwangeren positiv. Heute liegt die pränatale Prävalenzrate bei 36 Prozent. Die Hälfte unserer Betten ist mit Aidskranken belegt.“

Die Straße führt an den fruchtbaren Feldern der weißen Großfarmer von Natal vorbei und windet sich durch die ockerfarbene Hügellandschaft der Küste entgegen. Keine der zahllosen Hütten, die über das Land verstreut liegen, blieb von der Krankheit verschont. Unter den jungen Erwachsenen dürfte die Infektionsrate bei 80 Prozent liegen. „Hier sterben die Menschen wie die Fliegen“, sagt der Volksmund. Und dabei hat die Sterbekurve, die der Infektionskurve mit einem Abstand von 5 bis 10 Jahren folgt, ihren Scheitelpunkt noch nicht erreicht.

Paul Kocheleff sieht dringenden Handlungsbedarf. Bei der derzeitigen Organisationsstruktur sei das Gesundheitssystem nicht in der Lage, hunderttausende neuer Patienten zu verkraften: „Die Kliniken, Gesundheitszentren und Ambulanzen setzen ihre Ressourcen nicht effektiv ein. Die speziellen Aufnahmestellen für Aidskranke sind völlig überlaufen mit Patienten, die bloß ein Rezept wollen. Das Ausmaß der Epidemie zwingt uns zu innovativen Lösungen. Wir wollen den Gemeinden die Prophylaxe der häufigsten opportunistischen Erkrankungen und den regelmäßigen Check klinischer Basisindikatoren übertragen. Sie sollen nur die schwierigeren Fälle an uns überweisen.“ Ziel ist der „Aufbau eines Versorgungsnetzes, das wesentliche Teile der Bevölkerung erreicht, wenn die antiretroviralen Medikamente endlich freigegeben werden“.

Für die ärmsten Länder bisher unerschwinglich, stehen diese Arzneimittel im Zentrum der Globalisierungsdebatte. Sind Patente wichtiger als das Recht auf Leben? Nach welchen „Dringlichkeitskriterien“ soll es erlaubt sein, Generika herzustellen oder einzuführen oder den Wettbewerb zwischen den Herstellern auszunutzen, um die Kosten zu senken? Im April 2001 verlor der südafrikanische Pharmaverband PMA einen Prozess gegen die Regierung, die mit Unterstützung der „Treatment Action Campaign“ (TAC) ein Gesetz zur Einführung von Generika vorbereitete. Doch ein Jahr nach der Niederlage der Multis ist der Entwurf noch immer nicht verabschiedet. Dem Großversicherer Medscheme, der im Vorgriff auf die zu erwartende Rechtslage schon heute die Verwendung generischer Medikamente fördert, drohte der Pharmaverband gar mit einer Klage vor der Wettbewerbskommission.

Zackie Achmat,3 seit Gründung der TAC vor knapp vier Jahren an der Spitze der Organisation, empört sich: „In ganzen zwei Zeilen teilte das Gesundheitsministerium mit, dass das Gesetz noch einmal das parlamentarische Prozedere durchlaufen müsse. Wir verlieren weitere zwei Jahre.“ Achmats Organisation erhält überall im Land großen Zulauf. „Wir werden manchmal als Splittergruppe ehemaliger Trotzkisten hingestellt, was einige von uns auch sind.4 Aber diese Kampagne ist vor allem eine Bewegung von unten, die von den Kirchen, den Gewerkschaften, dem medizinischen Personal und etlichen ANC-Mitgliedern unterstützt wird. In der Provinz Kapstadt, in Gauteng (Provinz von Johannesburg und Pretoria) sowie in KwaZulu-Natal haben wir tausende von Mitgliedern. In Gugulethu, einer Township am Rand von Kapstadt, leitet die Tochter des Pastors unsere Versammlungen, und sie beginnen mit Gebeten.“

In der Mandela-Ära (1994–1999) setzte sich im ANC die wirtschaftsliberale Strömung um Mbeki gegen einen eher staatsinterventionistischen Flügel durch, der statt Privatisierungen, Budgetdisziplin und Marktwirtschaft ein Programm der Verstaatlichungen und ehrgeizige Sozialinvestitionen forderte. Die liberale Wirtschaftspolitik führte zwar zu einer sprunghaften Steigerung des Sozialprodukts, ließ jedoch auch die Arbeitslosigkeit in die Höhe schnellen. „Die Epidemie wird die gravierenden Einkommensunterschiede zusätzlich verschlimmern“, meint Paul Hartdegen von der südafrikanischen Niederlassung der Geschäftsbank J. P. Morgan. Der Verfasser eines detaillierten Berichts über die wirtschaftlichen Auswirkungen von Aids präzisiert: „Ärmere Haushalte werden einen ständig wachsenden Teil ihres verfügbaren Einkommens für Gesundheitskosten aufwenden. Auf der anderen Seite achten die Arbeitgeber darauf, dass die Krankenversicherungsbeiträge einschließlich der Behandlungskosten für ihre Beschäftigten in engen Grenzen bleiben. Die belasten etwa die Produktionskosten in den Goldminen lediglich zu 0,5 Prozent des Weltmarktpreises.“ Dass Aids vor allem die Schwächeren und Ärmeren trifft, ist bekannt; diese Studie belegt, dass umgekehrt die Krankheit auch eine wesentliche Ursache von Ungleichheit ist.

Haben die Armen ein Recht auf die gleichen Medikamente wie die Reichen? Im Land der Apartheid hat diese schlichte Frage der TAC einen besonderen Klang. Warum sind die existierenden Behandlungsmöglichkeiten, die in Privatkliniken bereits Anwendung finden, in den öffentlichen Krankenhäusern verboten? Wie hätte ein öffentliches Gesundheitssystem auszusehen, das es mit den katastrophalen Verhältnissen aufnehmen könnte? Nathan Greffen koordiniert die Kampagne auf nationaler Ebene: „Dass wir den Patienten auch wissenschaftlich-medizinische Kenntnisse vermitteln, wird weithin verkannt. Die Leute, die bei uns waren, stellen im Krankenhaus höhere Ansprüche, sie wissen, welche Medikamente sie brauchen. Außerdem sind sie besser darauf vorbereitet, mit ihrer Krankheit umzugehen. Seit ‚Ärzte ohne Grenzen‘ in Khayelitsha im August 1999 mit ihrem Programm zur Verhütung der Mutter-Kind-Übertragung begann, stiegen unsere Mitgliederzahlen sprunghaft an. Die meisten von ihnen sind positiv.“

In den Achtzigerjahren siedelte das Regime die Bewohner mehrerer Townships von Kapstadt in einen riesigen Slum inmitten der Dünen um. Weit ab vom Schuss gelegen, besitzt die Ansiedlung mit ihren 500 000 Einwohnern keinerlei Infrastruktur, mit Ausnahme eines kleinen „Supermarkts“, einer Tankstelle und einer Klinik im „Stadtzentrum“. Dort, im einzigen gemauerten Gebäude des Orts, teilen sich die TAC und „Ärzte ohne Grenzen“ ein Büro.

Als der Arzt Eric Goemaere vor drei Jahren den Container „TB“ (Tuberkulose) hinter der Klinik bezog, stellte er in der Bevölkerung „völlige Unwissenheit“ fest. HIV-Infektion und Aids war für sie ein und dasselbe: „Solange ich nicht krank bin, habe ich mich nicht infiziert“, lautete der gängige Fehlschluss. Der Belgier betreute als Mitglied von „Ärzte ohne Grenzen“ das Programm zur Verhütung der Mutter-Kind-Übertragung, weil das Klinikpersonal aus Argwohn gegenüber antiretroviralen Arzneimitteln untätig blieb. Nach einer Reihe therapeutischer Versuche ist Goemaere heute in der Lage, Schwerstkranken eine Behandlung vorzuschlagen. „Derzeit sind 220 Personen in Behandlung. Jeden Monat tritt eine Kommission aus Ärzten und Vertretern der Bevölkerung zusammen und wählt 15 neue ‚Klienten‘ aus. Aufnahmekriterien sind ihr Gesundheitszustand, ihre soziale Funktion und ob sie regelmäßig in die Klinik kommen.“

Eric Goemaere zeigt uns zwei Arzneimittelschachteln, die eine mit 200 mg Nevirapin, die andere eine Mischung aus 150 mg Lamivudin und 300 mg Zidovin. Das Etikett trägt den Markennamen Far-Manguinhos, Aktivisten der TAC haben die Generika aus Brasilien importiert. „Einige der damit behandelten Patienten sind aus der Hölle zurückgekehrt. Ihre virale Belastung liegt jetzt unterhalb der Messbarkeitsschwelle. Wir feiern diese Woche den ‚Club der seit einem Jahr Behandelten‘. Ohne unsere Therapie wären sie heute allesamt tot. Wenn die Behandlung bei uns funktioniert, kann sie überall funktionieren. Das Wichtigste jedoch ist, wie sich dieser Erfolg auf die Community auswirkt. In Khayelitsha ist derzeit ein T-Shirt mit der Aufschrift ,HIV-positiv‘ Mode. Die Leute sprechen offener darüber, es gibt jetzt 22 Selbsthilfegruppen.“ Im Bewusstsein ihrer Vorreiterrolle werben die meisten „Klienten“ von Khayelitsha in Schulen, Fabriken oder im Fernsehen für Aidsprävention.

Angesichts der wirtschaftlichen und gesundheitlichen Apartheid zeichnet sich in Südafrika eine zweite Volkserhebung ab. Manche glauben, sie habe schon begonnen, die TAC-Kampagne werde zum Katalysator der sozialen Erneuerung. Die Epidemiologin Quarraisha Abdool Karam koordinierte unter Mandela den Kampf gegen Aids. In der Medizinischen Hochschule von Durban erklärt sie, sie sei „seit langem wieder einmal optimistisch. Man findet sich nicht damit ab, das Volk sterben zu sehen, für das man gekämpft hat. Die Aidstherapien sind heute viel verträglicher und unendlich viel billiger.“ In zehn Jahren vielleicht wird Aids der Geschichte angehören.

dt. Bodo Schulze

Fußnoten: 1 Über den Zusammenhang zwischen Vergewaltigung und HIV-Infektion siehe Charlene Smith, „Proud of Me“, Johannesburg (Penguin Books) 2001 (www.speakout.org.za). 2 Zu diesen Prognosen: „Impending Catastrophe Revisited“, Jenry J. Kaiser Family Foundation, Johannesburg 2001 (www.lovelife.org.za). 3 Dazu das Interview mit Zackie Achmat, Vacarme, Paris, April 2002. 4 Belinda Beresford, „The Heart of the Aids Protest“, The Mail and Guardian, Johannesburg, 12.–18. April 2002.

Le Monde diplomatique vom 09.08.2002, von PHILIPPE RIVIÈRE