09.08.2002

Tütenwald und Fahrradhuhn

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Tütenwald und Fahrradhuhn

Von Gibraltar bis Accra, über Marokko, Mauretanien, Mali, Senegal, Burkina Faso, Togo und Ghana, durch Wüsten und Sumpfgebiete, Vogelparadiese und Savannen. Die mehr als 10.000 Kilometer lange Strecke in einem betagten „Pijo“ (Peugeot) quer durch Westafrika zu fahren, ist keinesfalls eine Heldentat und nicht einmal ein gefährliches Abenteuer. Aber es ist eine sehr ungewöhnliche, wunderbare Erfahrung – mit sonderbaren Ritualen bei jedem Grenzübertritt, mit beglückenden Begegnungen und mit einer Entdeckung: Das Lebensgefühl afrikanischer Menschen, die man im chaotischen Verlauf einer unberechenbaren Reise trifft, kann den Luxus gewohnten, aber ängstlichen und verdrossenen Europäer auf ganz neue Gedanken bringen.

Von CHRISTIAN DE BRIE *

WER gut geschützt in seinem bequemen Wagen über das endlose Teerband durch Frankreich und Spanien in Richtung Algeciras rollt, behält ein bestimmtes Bild von Europa in Erinnerung: die immer gleichen Abfolgen von Autobahnkreuzen, Mautstellen, Parkplätzen und Raststätten, die, zum Verwechseln ähnlich und in aseptische Musik getaucht, mit tausend nutzlosen Produkten werben. Eine virtuelle Reise wie ein Videospiel.

Jenseits der Straße von Gibraltar macht die spanische Enklave Ceuta – die „zweite Säule des Herkules“, wie die Geografen der Antike sagten – den Eindruck eines altmodischen, verfallenen Kolonialkontors, in dem lauter gehetzte Gangsterbosse vom Typ Pépé le Moko1 ihr Unwesen treiben. Kleine Weiße, kleine Rentner, kleine Geschäfte – eine Freihandelszone der Armen, aber auch die Schleuse, die den Weg nach Süden öffnet, beginnend mit einzeln erstandenen Zigaretten und Benzin in Flaschen. Am Rand der Städte oder Dörfer grüßen Plastiktüten zu jeder Jahreszeit wie abgestorbene Blätter, flattern und wirbeln durch die Luft, lassen sich einen Augenblick auf Feldern oder Brachland nieder und bleiben schließlich im Geäst der Bäume hängen, ehe ein Windstoß sie losreißt und erneut zum Tanzen bringt.

Im Untergeschoss des hübschen, unauffälligen Konsulats von Mauretanien in einem gehobenen Wohnviertel von Rabat hat ein Visumsbevollmächtigter seinen Sitz. Jung, elegant, mit gewichtiger Miene steht er den Amtsgeschäften vor. Das Büro ist morgens von 8 bis 10 für den Publikumsverkehr geöffnet. Unsere Uhr zeigt Viertel vor zehn, die Wanduhr hinter dem Beamten ebenfalls. Aber er hat die Macht, die Zeit für verstrichen und das Büro für geschlossen zu erklären: Er bittet uns trocken, am nächsten Tag wiederzukommen. Während ein schwarzer Diener ihm Tee serviert, steht er auf, um ans Telefon zu gehen, durchaus höflich, aber ohne jede Ehrerbietung.

Wir überlegen, was zu tun ist. Wir sind vor Morgengrauen von Chefchaouen im Rifgebirge aufgebrochen und müde, etwas abgerissen und nachlässig beim Konsulat vorstellig geworden. Um binnen weniger Minuten zu bekommen, was der Beamte uns verweigert hatte, müssen wir lediglich bereit sein, eine etwas förmlichere Haltung einzunehmen und über ein anderes Thema zu plaudern. Der Beamte erwartete kein in den Pass geschobenes Schmiergeld; er wollte uns daran erinnern, dass der Repräsentant eines noch so armen souveränen Staates die gleichen Willkürmethoden walten lassen kann, wie sie die Länder der westlichen Welt nur allzu oft gegen seine emigrierten Landsleute anwenden.

Das war uns eine Lehre bei den zahllosen Kontrollen, die zu jeder Fahrt durch Afrika gehören: Gendarmerie, Zollstellen, Polizei vor und hinter jeder Grenze, bei der Ankunft in und der Ausfahrt aus den Städten, an großen Straßenkreuzungen, an Brückenköpfen, auf den Treidelfähren, beim Durchqueren eines Nationalparks – wo auch immer. Das Ritual ist jedes Mal gleich: abbremsen, anhalten, warten und dann nur noch palavern, am laufenden Band, bis man vergessen hat, um was es geht; haufenweise Papiere – Pass, Visum, Impfausweis, Durchfahrtsgenehmigung, Versicherung, internationaler Führerschein, auszufüllende Formulare in drei oder vier Exemplaren –, bevor man den erlösenden Stempel bekommt.

Der persönliche Umgang kann unterschiedlich sein, aber meistens verhalten sich die Beamten freundlich und neugierig. Häufig werden kleine Geschenke erwartet, seltener ein Bakschisch, getarnt als mehr oder weniger fantasievolle Gebühr oder Steuer. Organisierte Erpressung bleibt die Ausnahme, doch wo sie existiert, sind die Techniken gut eingeübt. In Rosso beispielsweise, der am Senegalfluss gelegenen Grenzstadt Mauretaniens, hat man kaum eine Chance, die notwendigen Stempel ohne Einschaltung eines Mittelsmannes zu erhalten, der Zugang zu den zuständigen Instanzen hat und sich zu einem hart ausgehandelten Preis erfolgreich um sämtliche offiziellen Vorgänge bemüht.

Alle Macht geht vom Stempel aus

DER Preis steigt mit vorrückender Zeit, wenn die Schließung der Büros und die Abfahrt der letzten Fähre naht, während der Ton der Palaver lauter wird, die Betriebsamkeit zunimmt und die immer dichtere Menge sich unter den gleichgültigen Blicken der Anwohner in aufgeregtem Gezeter, Beschimpfungen, Lachen und Drängeln ergeht. Trotzdem verläuft alles ohne Feindseligkeit und endet ohne Groll, sofern man nur das Spiel der kleinen Arrangements und der förmlichen Anerkennung staatlicher Autorität mitspielt – vor allem dann, wenn diese schwach ist und ihre Vertreter, die mit einem einzigen Stempel bewaffnet in notdürftigen Büros die Amtsgewalt ausüben, oft seit Monaten nicht bezahlt worden sind.

Vor dem Storchenhaus in Tilmasma, einem kleinen Ort nahe Ouerzazate in Marokko, versucht der „Dorfidiot“ – ein zahnloser Alter mit leicht beängstigendem Gesichtsausdruck und einer verdreckten Dschellaba – die Aufmerksamkeit der sich abwendenden Passanten auf den Inhalt eines Stoffbeutels zu lenken, den er in der Hand hält. Nur zwei hübsche kleine Mädchen, die mit wippenden Ranzen auf dem Rücken gerade aus der Schule kommen, bleiben furchtlos stehen, betrachten neugierig den Inhalt des halb geöffneten Beutels und beginnen tuschelnd und lachend eine lange Diskussion. Als sie weggehen, lassen sie den Alten beglückt zurück, mit einem Lächeln auf den Lippen. Endlich hat ihn jemand als seinesgleichen betrachtet, sich für seinen Schatz interessiert.

Der Süden des Landes erwartet einen offiziellen Besuch des Königs von Marokko, der sich durch eine Unmenge von Kontrollposten und Straßensperren ankündigt. Im westsaharauischen Laayoune herrscht brodelnde Erregung, eine bunte Menschenmenge tummelt sich auf den flaggengeschmückten Straßen. Alles wartet auf Mohammed VI. Unmöglich, die Stadt in den nächsten Stunden zu durchqueren. Wir bekommen vage Hinweise auf die Möglichkeit, sie über eine Piste zu umfahren, über die wir hinter dem Flughafen wieder auf die Hauptstraße stoßen sollen. Unter der sengenden Sonne schlingern wir durch eine mächtige Sandwolke, in gelblichen Staub gehüllt, den der Wind stoßweise aufwirbelt – der Beginn einer dantesken Irrfahrt, die zwei Stunden dauern wird. Zuerst bietet sich rechts und links der Anblick heruntergekommener Behausungen, kaum fertig gebaut und schon zu Ruinen zerfallen, verstreute Blöcke aus schmutziggrauen Betonsteinen in verlassenem, unbebautem Gelände. Dann folgt ein riesiges Areal, das einer einzigen Müllhalde gleicht, bedeckt mit Schutt, Eisenschrott, Unrat und gelegentlich dem stinkenden Aas eines Esels oder Kamels. Eine Zone, in der vereinzelte Hütten aus Brettern und Wellblech stehen, zuweilen von einer Fernsehantenne überragt: Hier leben Leute im wirklichen Elend, die alles auflesen und sammeln, was sie nur finden können, umgeben von Geiern, streunenden gelbäugigen Hunden und ausgemergelten Ziegen, die den Müll abweiden – ein tierischer Abfallbeseitigungsdienst. Dahinter nur noch Staub, in dem wir versinken, und ein endloser, sich über Hunderte von Hektar erstreckenden Wald aus Plastiktüten, die im trockenen Gesträuch hängen geblieben sind. Diese Vorhölle, Nebenprodukt der Moderne, liegt in der gleichen Gegend wie der Flugplatz, auf dem Jean Mermoz, Saint-Exupéry und die Piloten der Luftpost, Pioniere der Globalisierung, in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts gelandet sind, in jener Region, die „Wind, Sand und Sterne“ und dem „Kleinen Prinzen“ als Kulisse diente.

An der äußersten Spitze der marokkanischen Sahara, 300 Kilometer südlich von Dakhla, gibt es einen 60 Kilometer breiten Streifen vermintes Niemandsland, der Marokko von Mauretanien trennt und nur unter Führung eines Militärfahrzeugs im Konvoi durchquert werden darf. Trotzdem sind Unfälle nicht selten. Bei unserer Ankunft stellt sich heraus, dass der Militärschutz seit einigen Wochen nicht mehr gewährt wird und jeder sich auf eigene Gefahr ins Abenteuer stürzen muss. Solcherart gewarnt, schließen wir uns mit mehreren anderen zusammen und machen uns nachts auf den Weg, um das Niemandsland in mehr als 7 Stunden zu durchqueren. Die verformte Teerpiste ist praktisch unbefahrbar. Ohne sich allzu weit zu entfernen, muss man sich rechts oder links von ihr am Rand halten – und sinkt regelmäßig im Sand ein.

Da unsere Weggefährten unerfahren sind, überlassen sie uns die Führung; unter ihnen ist ein deutscher Pastor mit seiner hochschwangeren Frau und drei Kindern zwischen zwei und acht Jahren in einem viel zu kleinen Auto. Der Pastor hat weder einen Werkzeugkasten noch irgendwelche Hilfsmittel, kein Verbandszeug, nichts – außer einer dicken Bibel vorne auf dem Armaturenbrett. Er bleibt häufiger stecken als die anderen. Und jedes Mal entwischen die Kinder durch die Heckklappe, rennen vergnügt durch den Sand, während wir ein besorgtes Auge auf sie haben und versuchen, das Auto wieder in Gang zu bringen: Luft ablassen, Räder freischaufeln, Bleche auslegen, schieben, die Bleche aus dem Sand ziehen und die Reifen wieder aufpumpen. Ein mühsames Geschäft. Aber für die angespannten und bald erschöpften Erwachsenen sind die drei kleinen Prinzen im Schlafanzug, die unter dem funkelnden Sternenzelt unbekümmert ihr Kinderglück genießen, ein Lichtblick.

Die Wüste ist nicht wüst

WÄHREND einer Pause mitten in der Sahara, mehrere hundert Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt, zieht auf Sichtweite ein bonbonrosafarben gestrichener Lieferwagen mit einem Kanu auf dem Dach vorbei. An der Seite prangt ein Firmenzeichen: Au péché mignon – Pâtissier, chocolatier, glacier – Blois. Uns kommen „die süßen kleinen Sünden“ wie eine Fata Morgana vor, aber sie sind echt. Übrigens treffen wir den Lieferwagen auf einem Campingplatz in Nouakchott wieder. Er gehört zwei lustigen Holländern, die nicht hergekommen sind, um einen fernen Kunden zu beliefern, sondern ihr gebraucht gekauftes Fahrzeug einfach gelassen haben, wie es war.

Für den Neuling hält die Wüste noch andere Überraschungen bereit. Es ist eher kühl in diesem meeresnahen Teil der mauretanischen Sahara, nicht nur nachts, sondern auch am Tage, sogar in der Frühjahrszeit. Ein weiteres Paradox: Die Wüste ist nicht wüst. Durch den Westen der marokkanischen Sahara zieht sich eine 1.500 Kilometer lange Teerstraße mit Tankstellen und Siedlungen, von Tiznit bis Guerguarat, wo in einer felsigen oder mit Buschwerk bewachsenen Landschaft nur die Kamele auf den vor kreuzenden Viehherden warnenden Straßenschildern daran erinnern, dass das französische Charolais weit weg ist.

In der mauretanischen Sandwüste gibt es keine gespurte Piste mehr, dafür umso mehr verstreute Autowracks. Angeblich dauert es nur ein paar Stunden, bis ein verlassenes Fahrzeug ausgeschlachtet ist. Es existieren Pläne, diese Strecke bald zu asphaltieren, aber bis auf weiteres hat man keine andere Wahl: Man muss schnell durchbrettern und sich von einem ausgewiesenen und teuer bezahlten Führer, der sich ohne Markierungen zurechtfindet, lotsen lassen: Eine Art gebührenpflichtige Autobahn ohne Autobahn, hin und wieder von Wadis unterbrochen, den berühmten Wasserläufen, die kein Wasser führen.

Die 500 Kilometer Wüste zwischen Nouadibou und Nouakchott sind zauberhaft. Wenn man die große Stadt des Nordens hinter sich gelassen hat, umfährt man die Bucht von Lévriers, indem man sich zunächst in östlicher Richtung von der Atlantikküste entfernt, ehe es geradewegs nach Süden geht, zur Bucht von Arguin. Hier beginnt ein märchenhaftes Schauspiel. Riesige ockergelbe und orange getönte Weichsanddünen schieben sich in das Matisse-Blau eines spiegelglatten Meeres. So weit das Auge reicht, erstreckt sich ein Teppich aus niedrigem Schlickgras, Sumpfinseln und Mangroven, durchsetzt mit schimmernden Eichen, wo tausende von Vögeln leben: rosafarbene Flamingos, weiße Pelikane, Fischreiher, Löffelreiher, Silbermöwen, Kormorane, Seeschwalben und noch viele andere Arten mehr.

Auf einer Fläche von 12 000 Quadratkilometern diesseits und jenseits des 20. Breitengrads bietet der Nationalpark Banc d‘Arguin ein üppiges Fischparadies, in dem sich die Zugvögel aus Afrika, Europa und sogar Sibirien versammeln. Weiter südlich geht die Route zwischen Dünen und Meer weiter. Dann folgt ein schmaler, 200 Kilometer langer Spülsaum, der nur bei Ebbe und mit einiger Geschwindigkeit befahren werden kann, wobei man aufgescheuchte Schwärme strahlend weißer Vögel vor sich her treibt und eine Gischtfahne hinter sich lässt. In den vereinzelten Fischerdörfern dieser Gegend leben ferne Nachkommen der Almoraviden-Stämme, wilde Kämpfer und muslimische Mystiker, die im 11. und 12. Jahrhundert, nachdem sie die Berber überrannt hatten, erst Marokko und dann Spanien eroberten. Ein Ereignis, von dem wir füher schon gehört hatten, war der Schiffbruch einer französischen Fregatte am 2. Juli 1816 in der Bucht von Arguin. Von den 147 Passagieren trieben dreißig Überlebende lange Zeit auf einem Floß, bis sie sich am Ende gegenseitig auffraßen. Die Fregatte hieß Medusa.

Von Marokko bis Ghana zeigt sich auf Straßen und Pisten ein niemals abreißender Film afrikanischen Alltagslebens. In Technicolor und Dolby-Stereo. In diesen Ländern, die kein Schienennetz haben, wo Flüge für die meisten unerschwinglich sind und es nur wenige und kaum schiffbare Flüsse oder Ströme gibt, läuft alles über die großen Straßenverbindungen zwischen den Städten und Regionen. Wer sie benutzt, bekommt ein unendliches, wechselhaftes Schauspiel geboten. Vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung und noch lange danach ist dort alles unterwegs, was sich bewegen kann, meistens im Schneckentempo und mit vielen, nicht immer freiwilligen Unterbrechungen: ein vollständiges motorisiertes Panoptikum vom Gebrauchtwagenmarkt.

„Ich habe keine Uhr, aber ich habe Zeit.“

URALTE, scheppernde Lastwagen, die schwarzen Qualm ausspucken und in Staubwolken gehüllt auf glatten Reifen durch die Landschaft kriechen, weit über die zulässige Höhe hinaus mit den verschiedensten Waren beladen, die in jeder Kurve, bei jedem Schlagloch bedrohlich ins Schwanken geraten und auf denen oft noch Passagiere mitsamt ihren eigenen sperrigen Transportgütern Halt zu finden suchen: Ballen, Tüten, Fahrrädern, sogar Ziegen, die oben auf die Spitze gehievt werden. Man sieht Beförderungsmittel vom Linienbus bis zum Buschtaxi, die unterschiedlichsten Sammelfahrzeuge inklusive: Laster, Kleintransporter, Lieferwagen, im Eigenbau für die Personenbeförderung hergerichtet, mit ausgeschnittenen Belüftungsvierecken, -kreisen oder -herzen an den Seiten, rustikalen Bänken im Inneren, mehreren Türen und Trittbrettern, an denen Trauben von Menschen hängen, die keinen Platz gefunden haben, voll bepackten Dachträgern und Leitern zum Dranhängen des Federviehs. All diese Ungetüme machen den Eindruck, jeden Augenblick unter ihrer Last zusammenzubrechen, Klapperkisten aus Urgroßvaters Zeiten.

Dazwischen wimmelt es von Eselskarren, Handwagen, Fahrrädern und Mofas, auf denen sich Männer, Frauen und Kinder samt Körben mit Hühnern, Gemüsekisten, Stoffballen, Tischen, Küchenherden oder Nähmaschinen in unsicherem Gleichgewicht halten, begleitet von Rinder-, Ziegen- und Kamelherden, die den Rand der Straße oder Piste säumen, sie manchmal unverhofft überqueren oder beschließen, mitten auf der Fahrbahn eine Ruhepause einzulegen. Und überall, von morgens bis abends, Leute zu Fuß, die ohne Hast gehen und gehen, viele Kilometer vom nächsten Dorf entfernt; Menschen jeden Alters, in kleinen Gruppen, schwatzend, diskutierend, Hand in Hand oder die Arme um die Schultern gelegt, oft schwer beladen. Vor allem Frauen – das gebräuchlichste Transportmittel –, die in aufrechter Haltung große bunte Plastikschalen mit Wasser, Holz, Kohle, Getreide, Obst, Gemüse, Stoffen oder Haushaltsgeräten auf den Köpfen balancieren.

Die Durchfahrt durch kleine Ortschaften verführt oft zu einem ausgedehnten Aufenthalt. Am Straßenrand reihen sich Dutzende winziger Läden aneinander, Geschäfte mit Kurzwaren, Lebensmitteln oder Schmuck, dazwischen ein Frisör, ein Schlosser, vielleicht auch ein Internetcafé, Verkaufsstände und fliegende Händler mit einem bunt gemischten Sortiment aus Mangos, Bananen, Ananas, Orangen, Papayas, Gebäck, Pasteten, Grillspießen, Trockenfisch, gekochten Speisen, Tabak, ja sogar Telefonkarten. Das Ganze ist kunstvoll eingebettet in eine Märchenwelt aus Farben und Gerüchen, ein angeregtes Leben, das sich bis spät in die Nacht hinzieht, wenn man im Schein der Feuersglut einen Instantkaffee mit Milchpulver schlürft, zubereitet mit der theatralischen Geste eines Barmixers, der den Shaker schüttelt wie beim Cocktail im Grand Hotel. Morgens wenn der Tag anbricht, sitzen hier und dort versprengte kleine Gruppen im Schatten eines Baumes, nie ohne einen Haufen schlecht verschnürter Pakete und Tüten aller Art. Unendlich lange, dabei ohne Ungeduld warten sie auf die unwahrscheinliche Gelegenheit, dass ein mutmaßlicher Bus oder ein überfülltes Sammeltaxi anhält und sie mitnimmt. „Wann kommt er vorbei?“ – „Heute.“ – „Ja, aber um wie viel Uhr?“ – „Ich habe keine Uhr, aber ich habe Zeit.“ Hier ist die Zeit nicht käuflich.

Es ist schnell dunkel geworden, aber auch Stunden nach Sonnenuntergang hat die Nacht keinerlei Erfrischung gebracht, die Luft ist immer noch glühend heiß. Wir befinden uns in Senewaly, einem kleinen Saharadorf zwischen Kayes und Nioro im Nordwesten von Mali, nahe der mauretanischen Wüste, im Herzen des einstigen ersten Königreichs von Ghana, das durch den Transsahara-Handel mit Gold, Salz und Sklaven fast tausend Jahre wirtschaftlicher Blüte erlebte. Betört vom Zirpen der Zikaden, sitzen wir mit untergeschlagenen Beinen unter dem Strohgewölbe des Innenhofs, der die traditionellen Lehmhütten verbindet, und genießen bei kochend heißem Tee die Gastfreundschaft einer Hirtenfamilie. Wir haben einen jungen Neffen hergefahren, einen Schmiedelehrling, den wir bei Einbruch der Dämmerung als Anhalter mitgenommen hatten und der uns in der Dunkelheit geholfen hat, eine sichere Piste von Dorf zu Dorf zu finden. Der Tag war anstrengend gewesen: stundenlange Fahrt über schlechte Straßen und Wellblechpisten, durch Schluchten und Staubwolken, in einer immer spärlicher bewachsenen Landschaft, die kaum mehr zu bieten hat als hässliche Affenbrotbäume mit riesigen Stämmen und verkrüppeltem Geäst. Die Außentemperatur lag bei über 45 Grad, und unsere Erfrischungsgetränke konnten es durchaus mit heißem Badewasser aufnehmen.

Ein wenig zur Ruhe gekommen, bleiben wir still im Halbdunkel sitzen, die Blicke auf die Glut der Feuerstelle gerichtet, an der eine schöne und elegante Frau das Essen kocht, Eintopf aus Reis und einem Nackenstück vom Lamm. Neben ihr steht ein kleines Mädchen mit eingeflochtenen Perlen im Haar, Ton in Ton mit ihrem leichten Kleid, und betrachtet uns mit ernster Miene. Sie hat die anmutige, rührende Haltung, die man in Afrika so oft an kleinen Mädchen sieht: einen Arm hinter dem Rücken, wie eine Liane, den anderen bei leicht vorgewölbtem Bauch seitlich an den Körper angelegt. Alles um uns ist beruhigend einfach, es gibt kein nutzloses Objekt: Ein paar Matten und Kissen, drei Teegläser, die nach einem Ritual, das dem Familienoberhaupt obliegt, regelmäßig gefüllt und zurückgereicht werden, in der Mitte eine Emailleschüssel, der jeder mit den Fingern etwas Reis und Fleisch entnimmt.

Einige Nachbarn sind herübergekommen, um die „Toubabs“ zu sehen und zu palavern. Nur einer spricht annäherungsweise Französisch. Er muss übersetzen, den ganzen Abend lang. Dem Ältesten, der seine Herde zum ersten Mal nicht auf die alljährliche Wanderschaft begleiten konnte, ist es unbegreiflich, warum ich von so weit her gekommen bin. Das Hirtenvolk der Peul ist das Reisen gewöhnt, aber man reist nicht ohne Grund. Was ich und meinesgleichen tun, versetzt sie in ungläubiges Staunen. Wohlwollend, aufmerksam, neugierig, heiter, mit langen nachdenklichen Pausen geht das Gespräch dahin und lässt ganz allmählich die Freude am Zusammensein aufkommen, während die Nacht endlich die ersehnte Kühle bringt.

Die Kinder Afrikas sind kein Markt

DIE Peul reden untereinander in einer sanft klingenden Sprache, die uns wie ein Zauber berührt. Es sind Augenblicke des Glücks, wie wir sie im Lauf der zufälligen Begegnungen unterwegs immer wieder erleben – flüchtige Augenblicke, denn das Unglück ist nie weit entfernt. Das kleine Mädchen ist eingeschlafen. Wir erfahren, dass sie die beste Freundin einer Tochter der Familie war, die vor einigen Wochen an Malaria gestorben ist. Malaria zählt immer noch zu den tödlichsten Infektionskrankheiten der Welt, an denen jedes Jahr hunderttausende Kinder sterben. In den Großlabors der pharmazeutischen Industrie interessiert sich dafür schon lange keiner mehr. Dort zählen im Namen einer effektiven Unternehmensführung andere Ziele. Der Markt der armen Kinder Afrikas ist nicht rentabel genug für den Rückfluss der Dividenden in die Rentenfonds, mit denen sich die alten und reichen Anleger des Nordens gesundstoßen. Eben diese hemmungslose Habgier verurteilt die Opfer der verheerenden Aidsepidemie auf dem afrikanischen Kontinent zum schnellen Tod: Sie bekommen rund um die Uhr und an jeder Straßenecke die Slogans der Verhütungskampagnen geboten – aber keine Therapie.

In Mali, Gastgeber beim Afrika-Cup Anfang dieses Jahres, sieht man am Straßenrand große Plakate, auf denen drei Spieler eine Mauer vor dem Torhüter bilden, die Hände vor dem Unterleib verschränkt. Darunter der Text: „Das ist kein guter Schutz. Nehmt lieber ein Kondom.“ Und auf der Fahrt durch Burkina Faso lässt ein Schild an der Rezeption eines kleinen Hotels in Bobo-Dioulasso die bestürzende Hilflosigkeit erkennen: „Wir bitten unsere verehrten Gäste, ihre Präservative beim Verlassen des Hauses am Empfang abzugeben.“

In einem volkstümlichen Viertel von Lomé in Togo, nicht weit vom großen Markt entfernt, hat sich eine dicht gedrängte Schar Kinder und Erwachsene mitten auf der Gasse vor einem Fernseher versammelt, um so die Abendfrische zu genießen. Mit erstaunten Gesichtern, von ehrlichem Mitleid ergriffen, sehen sie im französischsprachigen Programm einen Dokumentarfilm über die schmerzlichen Probleme und die kostenintensive Behandlung fettleibiger Jugendlicher in der Schweiz. Ein Hohn. Der reinste Zynismus. Knapp drei Jahrzehnte nach dem ersten Lomé-Abkommen, das dazu beitragen sollte, die Ungleichheiten im Nord-Süd-Gefälle zu beseitigen, liegen die Hilfszahlungen für Togo seit Jahren auf Eis – eine Maßnahme, die das Land in die Rezession getrieben hat. So wird ein Volk dafür bestraft, dass es eine Diktatur über sich hat ergehen lassen, die von den Geberländern etabliert und dreißig Jahre lang gestützt wurde.

Der tägliche Überlebenskampf ist schwer in Lomé, wie in den meisten Städten und Dörfern, die wir durchquert haben. Die große Mehrheit der Menschen in Westafrika lebt in Armut, die öffentlichen Dienste versagen, mal gibt es kein Wasser, mal wird der Strom abgestellt. Man braucht ein hohes Maß an Fantasie und Improvisationsfähigkeit, um bei einem Durchschnittseinkommen von nicht einmal einem Euro pro Tag wenigstens eine Mahlzeit zu organisieren. Zwar belaufen sich die Lebenshaltungskosten auf die Hälfte oder auch nur ein Drittel der Kosten in Frankreich, aber der Mindestlohn eines Arbeiters oder Beamten beträgt gerade ein Zwanzigstel, wobei feste Arbeitsplätze selten sind und die Zahl derer, die ihren Lohn regelmäßig ausgezahlt bekommen, noch geringer ist.

Trotz aller Leiden ist Afrika lebendig wie das Leben selbst: überschäumend, ausgelassen, zügellos. Wo die Mehrheit der Bevölkerung unter zwanzig Jahren ist, sind die sozialen Beziehungen geprägt von der Jugend mit ihrer Lebenskraft, ihrer Mischung aus Enthusiasmus und Sorglosigkeit. Die wenigen Alten leben nicht lange.

Zurück in Frankreich und der gedämpften Filzpantoffelatmosphäre unserer Gesellschaft, fühlen wir uns wie erschlagen von den Ängsten, den Sicherheitsbedürfnissen, dem Fremdenhass einer immer älter werdenden Bevölkerung, die sich vor ihren Kindern fürchtet.

Das Leben der Afrikaner besteht vor allem in Musik, die nicht nur ein ritueller Kult, sondern auch ein psychologisches Bedürfnis ist. Musik und Tanz sind unzertrennlich, allgegenwärtig – auf der Straße, auf den Märkten, in Höfen, Gärten und im „Busch“. Die Babys lernen es, lange bevor sie laufen können, auf dem Rücken ihrer Mütter. Musik – das heißt alle Rhythmen und Klänge des Kontinents in ihrer unerhörten Vielfalt, aber auch Musik von anderswo. Daraus schöpfen die Menschen ihre Hoffnung und ihren Stolz.

Die afrikanische Unterscheidung zwischen zwei Sorten Hühnern, dem „Leichenhuhn“ und dem „Fahrradhuhn“, hat symbolischen Charakter. Das „Leichenhuhn“ wird in keimfreien Legebatterien aufgezogen, ist mit Hormonen, Antibiotika und Mehlen vollgestopft, markt- und konkurrenzfähig, fett, ohne Würze und ohne Geschmack, klassifiziert, kontrolliert, etikettiert, mit einem Strichcode versehen und in den Kühltruhen der Supermärkte zur letzten Ruhe gebettet. Ein perfektes Abbild unserer westlichen Gesellschaften.

Das „Fahrradhuhn“ dagegen, schmächtig, eher mager und staubig, ist ein freilaufendes Tier, das auf der Straße und in den Höfen Afrikas kräftig scharren muss, um ein paar Körnchen zu finden, und bei glühender Hitze die Beine hebt, als träte es in die Pedale, um hier und dort etwas zu ergattern, ehe es fest, wohlschmeckend und kopfunter an den Beinen aufgehängt vor einem kleinen Laden endet.

dt. Grete Osterwald

* Journalist, ehemaliger Redakteur von Le Monde diplomatique, Gründungsmitglied des Observatoire de la Mondialisation (Paris).

Fußnote: 1 Pépé le Moko ist der Held des gleichnamigen Films über einen vorbestraften Gangsterboss in der Kasba von Algier, gedreht 1936 unter der Regie von Julien Duvivier, mit Jean Gabin in der Hauptrolle.

Le Monde diplomatique vom 09.08.2002, von CHRISTIAN DE BRIE